Daphne


„Was ist das letzte, woran du dich erinnerst?“  
Der raue Stoff des dunklen Sessels drückt sich unbarmherzig  
gegen meine Haut. Das Sitzen schmerzt. Durch die halb  
geöffneten Vorhänge fällt blasses Morgenlicht, in der Ferne  
erwacht die Stadt zum Leben. Ich rieche Kaffee. Schweren,  
schwarzen Kaffee, der ohne Filter aufgebrüht wurde. Meine  
Füße kribbeln, als könnte ich sie benutzen.  
Mir ist kalt. Mein Atem dampft nicht mehr. Leise bollert der  
Heizkörper. Stumm ziehe ich die Knie an die Brust und presse  
die Fersen in das Polster des Sessels.  
„Daphne?“ Bei dem Klang meines Namens zucke ich  
zusammen. „Woran erinnerst du dich?“  
Daran, dass es regnete. Es regnete, bis ich glaubte, die Welt  
löst sich unter dem Tosen auf. Schwarze Wolken schoben  
sich vor den Mond und sperrten mich ein.  
Kreischend kratzen Stuhlbeine über Teppichbelag. Ich fahre  
zusammen. Mein Blick zuckt zu dem Mann vor mir. Die  
Hornbrille nimmt sein halbes, kleines, rundes Gesicht ein.  
Tiefe Falten graben sich in die graublasse Haut und die Zähne  
drücken seine Unterlippe nach vorn.  
Der Mann lächelt nicht. Er ist finster wie die noch nicht  
ergrauten Strähnen über seinen Schläfen.  
„Ich weiß nicht“, bringe ich hervor.  
„Schließ die Augen“, weist er mich an.  
Hastig schüttle ich den Kopf. Mein Puls schnellt hoch. Mir ist  
heiß, mir ist kalt, mir tut jeder Muskel weh, während ich  
nichts mehr fühle. Ein stechender Schmerz gräbt sich durch  
meinen Schädel und lässt nichts als betäubende Leere zurück.  
Der Mann betrachtet mich aus seinen klugen, braunen Augen,  
als wollte er hinter die tiefsten Geheimnisse meiner Seele  
kommen.  
Sein schweres Seufzen macht mich klein. „Du bist in  
Sicherheit“, redet er auf mich ein. „Schließ die Augen und  
versuch dich zu erinnern.“  
Nein. Nicht heute. Nicht für ihn.  
Erneut kreischen Stuhlbeine über Teppich, als er näher zu mir  
rückt, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Stuhl  
anzuheben. „Daphne, das du dich erinnerst, ist wichtig. Es  
gibt kaum etwas wichtigeres als das.“  
Mir ist nicht warm. Mir ist kalt. Bebend kalt und das Frieren  
beginnt in meinem Innersten. Es frisst sich durch meine  
Gedärme, kriecht durch die Muskulatur und Sehnen, küsst die  
Knochen und durchdringt zeitgleich die Haut, um mich in  
einen erfrierenden Nebel zu hüllen.  
„Ich weiß nicht“, sage ich. „Ich weiß nichts.“  
„Erinnerst du dich an etwas?“, fragt er mich. Seine Stimme  
bleibt weich und ruhig, als kenne er keine Ungeduld. Seine  
klugen, braunen Augen hinter der großen Hornbrille machen  
mich nervös. Die Gläser lassen sie größer wirken, als sie  
tatsächlich sind, und zarte Speichelbläschen sammeln sich  
über seiner Unterlippe. Ich bin allein mit ihm. Die Heizung  
bollert und es riecht nach Kaffee.  
„Ja“, gestehe ich.  
Er lehnt sich näher zu mir und ich will verschwinden.  
„Das letzte, woran du dich erinnerst“, wiederholt er und seine  
Worte gleichen einer kleinen, mich umgarnenden Melodie.  
„Was ist das letzte, woran du dich erinnerst?“  
Meine Zehen kribbeln und stechen. Ich sitze hier und bin  
allein. Die Morgensonne stiehlt sich durch die halb bedeckten  
Fenster. Kein Regen prasselt, kein Sturm zieht auf. Nirgends  
grollt ein Donner, nachdem Blitze zu Boden zuckten, als  
wollten sie die Welt binnen eines Augenblicks vernichten.  
Meine Zunge ist lahm und meine Lippen sind taub. Ich  
räuspere mich. Seine Nähe zermürbt. Der Mann betrachtet  
mich, als würde er meine Geheimnisse kennen. Längst  
kennen. Seit dem Moment um jeden Moment meines Lebens  
wissen, da man mich durch die Tür schob und, als meine Knie  
einknickten, mich auf diesen Sessel setzte.  
„Ich habe gekocht.“  
„Was hast du gekocht?“  
Mein Kopf ist wie leergefegt. „Essen.“  
„Welches?“  
Ich räuspere mich und mache mich kleiner. So klein, dass ich  
glaube, in den Polstern des Sessels zu versinken. Sie sind  
dunkel und übersäht mit Brandnarben. Wütende  
Zigarettenstummel pressten sich in das Material und  
verödeten es. Ich spüre die Unebenheiten. Sie lassen mich  
einsamer fühlen als zuvor.  
Meine Kehle ist wie zugeschnürt, als ich erneut zu sprechen  
versuche. Jeder Muskel schmerzt. Als hätte ich um mein  
Leben gekämpft dabei, ich erschaudere, habe ich nur gekocht.  
Nur gekocht. Allein. Nur gekocht. In meiner Küche. Nur  
gekocht. Allein.  
Es wütete kein Sturm. Es donnerten keine Blitze. Ich war im  
Warmen. Ich war im Sicheren. Heute sitze ich nicht hier. Kein  
Sturm zog auf, als wollte er die Stadt mit einem Bissen  
verschlucken.  
„Ich weiß nicht“, sage ich zögerlich. „Rucola.“  
„Das klingt schmackhaft.“  
„Mit Erdbeeren.“  
„Erdbeeren sind meine Lieblingsfrucht.“  
Ausdruckslos betrachte ich ihn. Das Gesicht wirkt winzig, der  
Kopf klein. Seine Brille bedeckt seine Augen und Teile seiner  
Stirn und Teile seiner Wangen. Sie schüchtert mich ein.  
Er macht mir Angst.  
„Nudeln mit Ei und Kochschinken und Kräutern. In einem  
Auflauf.“  
„Das klingt großartig, Daphne. Hast du dir das allein  
zubereitet?“  
Hastig schüttle ich den Kopf. Dann nicke ich.  
„Wer war bei dir?“  
„Ich war allein.“ Das ist die Wahrheit. Nichts als die  
Wahrheit. Ich war allein.  
Der Wolkenhimmel zog auf, als breitete eine Krähe ihre  
finstersten Schwingen aus, den Kopf gesenkt und den  
Schnabel zu einem brüllenden Krächzen aufgerissen. In der  
Ferne grollte der Donner, Blitze zerrissen das unterschwellige  
Murmeln, um sich zu einem Kreischen zu entladen. Das  
Brummen des Himmels folgte.  
Ich senkte den Kopf. Regen begann zu prasseln. Die Tropfen  
sprangen über den Asphalt, platzten auf und schickten Splitter  
ihres einstigen Körpers zurück zum Himmel. Der Tribut  
wurde gezahlt.  
Die Welt schien geschrumpft und sich im Auge des Sturms  
zu befinden. Sie hatte sich konzentriert auf diesen einen  
Flecken und ich? Bildete ihr Zentrum.  
Der Lärm der Stadt hatte sich verloren, das grelle Leben der  
Menschheit auch. Zurückgezogen hinter Mauern huschten  
Schatten, verbargen sich unter flattrigem Licht, nur um die  
Fensterläden zu schließen und mich auszusperren.  
Das Eiswasser schien mir die Haut zu verätzen. Ich war allein.  
Und es war gut so.  
„Du hast gekocht, Daphne“, sagt der Mann und lächelt matt.  
„Und danach?“  
„Habe ich gegessen.“  
„Alles, was du zuvor gekocht hast.“  
„Ja.“  
„Und was war das?“  
Meine eigenen Gedanken nehmen mich gefangen. Ich bin  
allein. Allein in diesem Stuhl und der Mann vor mir scheint  
den gesamten Raum einzunehmen. Dabei ist er kleiner als ich.  
Dabei wirkt er zerbrechlicher als ich. Dabei scheint er nur aus  
seinem kleinen Kopf zu bestehen und den huschenden  
Händen, die regelmäßig nach einem Stift greifen, um meine  
Antworten niederzuschreiben. Als beinhalteten sie einen  
tieferen Sinn.  
Als wären sie mehr als nur Schattenflüstern, das Situationen  
beschreibt, die ewig zurückliegen.  
„Ein Salat aus Rucola und Erdbeeren“, versuche ich den  
Moment von vor Monaten zu rekonstruieren. „Dazu einen  
Auflauf. Nudeln, Kräuter, Ei und Schinken. Kochschinken.“  
„Hast du dein Essen genossen, Daphne?“  
„Ja.“  
Erzähl mir eine Geschichte.  
Geschichten sollten nicht erzählt werden. Sie warten darauf,  
dass man sie erlebt.  
Erzähl mir eine Geschichte.  
Welche möchtest du hören?  
Eine wahre Geschichte. Eine, die erzählt wird, damit man sie  
erlebt.  
Erzählst du mir eine Geschichte?  
Meine möchtest du nicht hören.  
Und falls doch?  
Dann bist du womöglich von innen heraus wahnsinnig.  
Die Zeit tickte. Sie verflog. Sie verzehrte.  
Was blieb, war eine Ewigkeit und in dieser Ewigkeit, hinter  
schweigenden Momenten, das Erwachen einer Geschichte  
hinter geschlossenen, dösenden Lidern, während die Hitze  
des gebannten Kaminfeuers auf uns schien.  
„Nachdem du gekocht hast“, nimmt der Mann den Faden  
wieder auf, während das Bild der matt lächelnden Frau  
langsam verschwimmt, „was hast du danach getan?“  
„Ich bin schlafen gegangen.“  
„Du hattest einen anstrengenden Tag?“  
„Nein.“  
„Sondern?“  
„Es war spät.“  
„Du kommst nur des Abends zum Kochen?“  
„Ja.“  
„Was tust du, wenn du nicht kochst?“  
„Ich arbeite.“  
„Was arbeitest du, Daphne?“  
„Ich höre Menschen zu.“  
„Das klingt nach einem aufregenden Beruf.“ Er rückt näher  
zu mir und das Geräusch der Stuhlbeine auf dem Teppich geht  
mir unter die Haut. „Was erzählen sie dir, Daphne?“  
„Dinge“, sage ich zögernd. „Sie erzählen mir Dinge.“  
„Welche Dinge?“  
„Ich darf nicht darüber sprechen.“  
„Wenn nicht darüber, über was dann?“  
„Über alles andere“, flüstere ich.  
„Was wäre das?“  
Dass die Blitze zu Boden krachten, als versuchten sie mich,  
nur mich zu treffen, zu verbrennen und zu vernichten. Dass  
jede Geschichte, die von den Lippen dieser jungen Frau floss,  
das Unmögliche weiter in meine Welt lockte. Dass jeder von  
uns genau so viel erlebt, wie er bereit ist, sich auszumalen.  
„Kochen“, sage ich. „Ich koche gern.“  
„Was kochst du gern?“  
„Etwas zu essen.“  
Die Mundwinkel des Mannes heben sich leicht. Sich  
räuspernd schiebt er seine Brille höher die Nase hinauf. Sie  
ist zu groß für seinen Kopf. Sein Kopf ist zu klein. Der Mann  
überragt mich, aber alles an ihm wirkt winzig, als hätte man  
es einem Kind gestohlen und in die Form eines erwachsenen  
Mannes gepresst. Sein bloßer Anblick lässt mich unwohl  
fühlen. Je länger ich ihn betrachte, desto verunsicherter werde  
ich. Alles an ihm wirkt, als hätte man die Gliedmaßen  
willkürlich  
genommen  
und  
zu  
einem  
Körper  
zusammengefügt. Zu einem Körper, der links und rechts  
nichts passt und oben und unten nicht und behelfsmäßig ist  
wie eine alte, brüchige Muschel. Bis der Geist in der Hülle  
einen besseren Wirt findet und sich in diesem einnistet.  
„Weißt du, warum du hier bist, Daphne?“  
„Ja.“  
In einer flüchtig überrascht wirkenden Geste heben sich seine  
Brauen. „Warum bist du hier, Daphne?“  
„Weil ich mich verlaufen habe.“ Meine Muskulatur zuckt  
unkontrolliert. „Du hast mich gefunden.“  
Er schenkt mir ein kleines Lächeln. „Ich habe dich gefunden“,  
bestätigt er mir. „Ich versuche dir zu helfen, Daphne. Ich  
versuche mit dir gemeinsam die Geschehnisse der letzten  
Tage und Wochen zu ordnen.“  
„Ich habe gekocht.“  
Seine Mundwinkel senken sich gefährlich langsam. „Immer  
nur Salat und Nudeln?“  
„Einen Auflauf“, wispere ich mit tauben Lippen. „Es war ein  
Auflauf.“  
„Also jeden Tag das Gleiche?“  
„Nein.“ Ich zittere, als wäre dieser Mann mein neuer Sturm.  
Als säße er dort gelassen in seinem Sessel, um über mich zu  
kommen wie ein Taifun.  
„Möchtest du mir von allem anderen erzählen?“  
Nein. „Ja.“ Ich ringe mir ein winziges Lächeln ab. „Ich koche  
gern.“  
„Was ist das letzte, woran du dich erinnerst?“  
„Dieser Auflauf.“  
„Und davor?“  
Ich starre auf meine nackten Zehen und weiß nicht, was ich  
zu finden hoffe. „Da bin ich mir unsicher.“  
Als der Mann aufsteht, hebe ich unwillkürlich die Arme. Ein  
besänftigendes Lächeln schenkt er mir, dann geht er um den  
Tisch hinter seinem Stuhl herum, greift nach seiner Tasse,  
gefüllt mit Kaffee, den niemand durch einen Filter laufen ließ,  
und prostet mir zu. „Möchtest du auch etwas trinken? Einen  
Tee? Einen Kaffee vielleicht oder eine heiße Schokolade.“  
Die Maschine scheint mir zuzuzwinkern. „Nein.“  
Leise seufzt der Mann. „Zu schade“, murmelt er. „Zu  
schade.“ Er trinkt. Ich beobachte, wie die Flüssigkeit sich  
über seine weit vorstehende, untere Zahnleiste in seinen  
Mund quält. Ich glaube zu hören, wie jeder Tropfen einzeln  
in seinen Körper perlt und dort von etwas gefangen  
genommen wird, das nicht organisch ist, nicht menschlich,  
sondern mechanisch wie jedes Lächeln, das er mir schenkt.  
„Möchtest du gehen?“, fragt er mich.  
Hastig nicke ich.  
„Dann geh.“ Er trinkt und alles an seinem Regen und  
Bewegen wirkt falsch. „Geh, Daphne. Ich hole dich, sobald  
ich wieder Zeit für dich habe.“  
Mir ist kalt. Mir ist heiß. Meine Muskeln zucken  
unkontrolliert, als ich konzentriert einen Fuß von dem Polster  
schiebe und aufstehe. Ich bin unstet wie eine Marionette an  
ihren Fäden. Schaudernd meide ich seinen Blick. Der Mann  
lässt mich gehen. Das Gebäude nicht.  
Ich saß versteckt hinter meinem Sofa. Der Sturm  
heulte vor den Fenstern, während ich das Gesicht in den  
Armen vergraben hatte, die halbleere Flasche Wein neben  
mir. Ein Tropfen verewigte sich in meinem Teppich und ich  
sah ihm beim Wachsen zu durch diesen schmalen Spalt  
zwischen meinen Armen. Mir war kalt, obwohl der Kamin  
flackerte, und ich fürchtete mich. Dabei saß ich Daheim,  
verborgen hinter meinem eigenen Sofa, gewärmt von meiner  
eigenen Decke und einem Wein, der sich mit jedem Schluck  
ein Stückchen mehr entfaltete, um mit katzensanften Tatzen  
meine  
Kehle  
hinabzutapsen,  
Geschmacksblüten  
hinterlassend, die nicht welken wollten. Schattenhafte  
Schritte hallten durch meinen Korridor. Dabei steckte der  
Schlüssel. Ist er im Schloss, kann es von außen nicht betätigt  
werden. Die schmale Kette hing von innen und verriegelte die  
Tür. Keine Kamera hatte eine Seele aufgezeichnet, kein  
Alarm war ausgelöst worden, aber durch das Jaulen des  
Sturms hörte ich diesen Schatten deutlicher als mich selbst.  
Meine Hände zitterten unkontrolliert und ich hob die Decke  
höher. Sie war ein lächerlicher Schild, ein kleiner Hohn an  
mich selbst, während die Schritte den Korridor verließen und  
auf mich zukamen. Als könnte der Eindringling mich riechen.  
Von ihm ging ein Duft aus, der mir die Sinne vernebelte.  
Etwas zwischen frischem Obst und satten Kräutern. Seine  
bloße Gegenwart wollte mich hervorlocken, damit ich mich  
blind vor ihn kniete, wehrlos und gebannt.  
Meine Muskeln zuckten, während der Weinfleck verharrte.  
Das Licht brach sich in der dunklen Flasche neben mir und  
ich roch die bekannten ätherischen Öle, die in Kringeln von  
den Spitzen der Räucherstäbchen flohen. Ich erkannte die  
winzigen glühenden Enden in den Fensterscheiben. Sie  
spiegelten sich wider, während hinter ihnen der Sturm seine  
Kraft bündelte und den Regen in seine Lungen sog, um ihn  
umso harscher auf diese Welt zu husten.  
Ich hörte die Schritte verharren, den Blick wie hypnotisiert  
auf die Fensterfront gerichtet. Die gesamte nördliche Wand  
nimmt sie ein. Dorthin sehend, wo niemals die Sonne scheint.  
Der Duft war betörend. Er übertünchte alles, was ich kannte.  
Als spazierte ich durch einen Garten, in dem die  
verschiedensten Kräuter grünten, das frisch geerntete Obst  
auf tafeln ausgebreitet, die nur darauf warteten, geleert zu  
werden. Es kam mir vor, als hätte der Herbst meine Wohnung  
betreten und so sicher ich ihn hörte, so unmöglich war es, ihn  
zu sehen. Mein cremefarbenes Sofa spiegelte sich vor dem  
stürmischen, schwarzen Tuch, mein heller Tisch, die  
modernen Stühle, die zu unbequem waren, um auf ihnen zu  
sitzen. Die Schränke, die sich bis zur Decke erstreckten,  
einige randvoll mit Büchern, andere bestückt mit zahlreichen  
Ölen und Kräutern, Salzen und Spirituosen, die jeden Abend  
erträglicher gestalten und die geflüsterten Ängste meiner  
Patienten vertrieben.  
Ich erkannte die sich wölbende Decke, die über meinen Füßen  
lag, während ich stocksteif hinter dem Sofa verharrte. Jeden  
Zentimeter dieses Raumes konnte ich mit Blick in das  
Fensterglas überblicken. Meine eigenen Sinne mussten mich  
trügen. Ich war allein. Mutterseelenallein.  
Während jemand außer mir atmete und einen Geruch  
verströmte, der mir Freudentränen in die Augen trieb. Jede  
meiner Fasern wollte mich auf die Füße locken und zu dem  
Ursprung dieser puren, natürlichen Erfüllung führen.  
Jeder Funken Verstand, der mir blieb, kettete mich an Ort und  
Stelle.  
„Ich darf seinen Namen nicht nennen. Ich darf seinen Namen  
nicht nennen.“ Apathisch wiegte sich Cassandra vor und  
zurück, das blonde Haar in der Stirn, die dürren Finger in die  
Armlehnen des weichen, roten Sessels gegraben, als wollte  
sie den Bezug zerreißen.  
„Womöglich wird es besser, wenn du ihn in den Mund  
nimmst.“  
„Dann wird er real“, wisperte Cassandra. Blanke, grausame  
Furcht spiegelte sich in ihren dunkelblauen Augen, während  
sie sich vor wiegte und zurück wiegte. Vor und zurück, vor  
und zurück, die Finger in das Polster gekrallt, als hielten sie  
allein sie bei Bewusstsein. „Wenn er real wird“, fuhr sie  
heiser fort, „dann kommt er zu mir. Er wird mich töten. Er  
wird dich töten. Bis ihn niemand je kannte.“ Heiser lachte sie  
und ein panischer Wahnsinn klang aus dem gepressten  
Geräusch. „Mein Blut wird er trinken, während er sein Steak  
schneidet. Mein Blut wird sein Wein sein.“  
„Niemand wird kommen und dich holen“, versprach ich ihr.  
„Hier bist du in Sicherheit.“  
„Niemand“, sagte Cassandra und ihre Lippen bewegten sich  
kaum, „ist jemals vor ihnen sicher. Nirgends. Sie kriechen  
durch die Wände, sie verschmelzen mit den Schatten und  
ergreifen von den Menschen Besitz, die dir am nächsten  
stehen. Sie kennen keine Gnade. Sie greifen um sich. Sie  
lassen nichts zurück als Ödnis und dann hat es uns nie  
gegeben.“  
Ich schenkte uns Wasser ein, während der warme  
Sonnenschein unsere Haut küsste. Cassandra wirkte winzig,  
das blonde Haar wirr im Gesicht, die Augen weit aufgerissen,  
als wollten sie ihre Stirn ersetzen und ihre Wangen.  
„Dieser Komplex wird von den besten Männern bewacht.“  
„Aber niemand von ihnen hört mir zu!“  
„Jeder von ihnen hört dir zu. Jeder von ihnen wartet nur auf  
dein Wort.“  
Ihre Atmung ging keuchend. „Und wozu?“, wisperte  
Cassandra. „Wozu, wenn keiner von ihnen versteht, was ich  
sage? Sie kommen.“ Vor wiegte sie sich und zurück, die  
Finger in das Polster gekrallt und leise knirschend begann der  
Bezug sich unter ihre Nägel zu fressen. „Sie kommen, sobald  
wir ihre Namen in den Mund nehmen. Früher oder später wird  
jemand von ihnen lesen. Sie kommen. Sie kommen und  
nehmen sich, was ihnen gehört.“  
„Möchtest du ein Wasser haben?“, fragte ich Cassandra und  
reichte ihr das Glas, ohne auf ihre Antwort zu warten.  
Sie starrte auf den Grund, als lägen dort die Antworten zu  
allen ihren dringlichen Fragen, zu allen ihren Ängsten und  
Sorgen.  
„Sie kommen“, wiederholte sie heiser. „Jemand wird mich  
zwingen, ihre Namen zu sagen, und dann Gnade uns Gott.“  
Ich trank und Cassandra tat es mir gleich. „Möchtest du  
zeigen, wovon du gelesen hast?“  
„Niemand darf es sehen!“  
„Warum?“  
„Weil niemand es sehen darf. Niemand darf es sehen. Hörst  
du? Niemand darf es jemals sehen. Niemand darf es in seinen  
Besitz bringen.“ Für einen flüchtigen Moment hielt sie inne  
in ihrem Wiegen. Die nackten Füße zuckten und die Zehen  
bogen sich wie in einem Krampf zu ihren Ballen. „Sie  
kommen und dann sind wir vorbei.“  
Sie trank, ich tat es ihr gleich. Die Sonne schien und ich  
genoss den Tag, badete in der Hitze der Morgensonne und  
verlor mich in der Macht der Gelassenheit.  
„In einigen Fällen kann es befreiend sein, die Namen derer in  
den Mund zu nehmen, die einen einst peinigten“, sagte ich.  
Cassandras Hände begannen unkontrolliert zu zittern. Ich  
fing ihr Glas in der Sekunde, als sich ihre Finger ruckartig  
von ihm lösten. Die Tropfen spielten die durchscheinenden  
Wände hinauf. Jaulend und jammernd wie der Sturm selbst  
vergrub sie das Gesicht an ihrer Schulter. Winzig wirkte sie,  
klein. Zerbrechlich. In jeder Hinsicht zerbrechlich, während  
die Vögel ihre Körper aufplusterten und erste Melodien zum  
Besten gaben.  
„Ich habe gehört, du erzählst gern Geschichten“, brach ich  
nach einigen Momenten das vibrierende Schweigen.  
Ein bitteres Lächeln hob Cassandras Mundwinkel, während  
sie sich tiefer in ihren Sessel flüchtete. Winzige Flocken der  
Polsterung drängten sich wie Schnee durch den roten,  
samtigen Bezug.  
„Erzähl mir eine Geschichte“, bat ich Cassandra und schenkte  
ihr ein Lächeln. Ihr Glas stellte ich auf dem dunklen  
Tischchen neben ihr ab.  
Die blonden Strähnen verbargen ihr Gesicht vor mir, als  
Cassandra mir langsam den Rücken zudrehte. „Geschichten  
sollten nicht erzählt werden. Sie warten darauf, dass man sie  
erlebt.“  
„Wärst du bereit dazu, eine deiner mit mir zu teilen?“  
So viel stand in ihren klaren Augen, was ich nicht verstand,  
übermächtig und wunderschön. Als hätte ein Gletscher sich  
aus seiner ewigen Starre befreit und würde nun entfesselt über  
die Welt kommen. „Keine meiner Geschichten ist wahr“,  
sagte Cassandra.  
„Jede von ihnen hast du erlebt“, gab ich zu bedenken. „Nur  
weil einige Menschen außerhalb dieser Mauern glauben  
mögen, dass sie nicht ihrer Form der Wahrheit entspricht,  
macht es sie nicht falsch.“  
„Aber auch nicht wahr. Niemals wahr.“  
Ich schenkte Cassandra ein schwaches Lächeln. „Wer sagt  
das?“  
„Ich.“  
„Und warum gehst du davon aus?“  
„Weil es wahr ist.“ Ihr Blick zuckte. „Alles davon ist wahr,  
aber nichts jemals geschehen. Wenn ich dir davon erzähle,  
dann spüren sie es. Sie werden über dich kommen wie ein  
Sturm und nichts von dir lassen. Nicht einmal das, was du  
besessen hast.“  
Ich räusperte mich und lehnte mich in meinem Stuhl zurück.  
Das ergonomisch gebogene Holz bohrte sich unsanft in meine  
Wirbelsäule, als mein Blick auf den Wecker fiel. Unsere Zeit  
war um und wir wirbelten in neuem Terrain um die  
altbekannten Ängste. „Wenn du nicht darüber sprechen  
möchtest“, sagte ich zögernd, „schreib es auf. Niemand muss  
je davon lesen.“  
„Jeder wird es lesen“, wisperte Cassandra so leise, ich konnte  
sie kaum verstehen.  
„Wenn es dich beruhigen würde“, sagte ich, „könntest du  
alles, was du aufgeschrieben hast, verbrennen.“  
„Und dann?“  
„Dann frisst das Feuer all das auf, wovor du dich fürchtest.“  
„Kein Feuer besiegt die Dämonen, von denen ich weiß.“  
„Hast du es je versucht?“, fragte ich sie.  
Cassandra betrachtete mich ausdruckslos. Während sie dort  
in dem Sessel saß, sich nicht länger wiegte, glaubte ich zu  
erkennen, wie jeder Funken Energie sie verließ. „Ich möchte  
zurück in mein Zimmer gehen“, sagte Cassandra.  
„Daran wird dich niemand hindern.“ Ich stand auf und bot ihr  
meine Hand an. Umständlich und als wäre sie ein Kind mit  
furchtbar kurzen Beinchen kletterte sie aus dem Sessel. Nach  
dem Glas griff sie, die Schultern gehoben, und tapste quer  
durch den Raum, ohne mich eines weiteren Blickes zu  
würdigen.  
„Falls du Papier benötigst oder einen Stift“, sagte ich, „bitte  
deine Betreuerin darum. Sie wird dir beides zur Verfügung  
stellen.“  
Jubelnde Melodien pfiffen die Vögel und genossen die  
letzten, summenden Sommertage, das grüne Laub sich  
schüttelnd und tanzend an den Zweigen, während die  
Sonnenstrahlen durch sie hindurchhuschten und verträumte  
Muster auf die Wiese malten.  
Cassandra reagierte nicht auf mich. Krachend schloss sich die  
Tür hinter ihr und ich schloss ihre Akte. Ehe ich sie in dem  
hohen Schrank verstauen konnte, zog das perlende Lachen  
eines Kindes meine Aufmerksamkeit auf sich. Es schien von  
den Mauern widerzuhallen, aber niemand war zu sehen. Die  
Vögel blieben hüpfend ruhig, die Flügel zwar am Körper,  
aber ungenutzt. Das Lachen blubberte aus jedem Winkel des  
Parks. Niemand schien es zu bilden.  
Ich verstaute die Akte in dem hohen Schrank und verriegelte  
ihn. Das Wasser schmeckte staubig, dabei hatte ich es erst  
wenige Minuten zuvor aus der Flasche befreit. Wolkenfrei  
war der Himmel, während Tage später ein Orkan tobte, der  
jedes Leben in sich aufzusaugen schien.  
Die Schritte erklangen erneut, lauter und ich umklammerte  
meine halbleere Weinflasche, als könnte ich sie gegen ein  
Geschöpf einsetzen, von dem Cassandra berichtete.  
Wie wahnsinnig ist ein Mensch, der eingeliefert wird, um von  
mir behandelt zu werden? Wie verwirrt ist ein Verstand, wenn  
er immer nur die gleichen Phrasen von sich gibt, die Augen  
glasig auf den immer gleichen Punkt geheftet?  
Ich wollte jeder Lüge glauben und jede Geschichte  
akzeptieren, während ein Schatten zu Fuße meiner Stehlampe  
fiel. Der helle Schirm behütete das Glühen in seinem Herzen.  
Nur Körper werfen Schatten, aber keine Spiegelung zeichnete  
sich auf dem weiten Fensterglas ab. Ein Phantom schien  
meine Wohnung zu durchschreiten. Kein Alarm schrillte. Die  
Tür war verschlossen, die Kameras hatten keine Bewegung  
aufzeichnen können. Als wäre das Geschöpf durch den Boden  
gekrochen,  
hätte  
auf  
diese  
Weise  
alle  
Sicherheitsmechanismen umgangen und wäre schlussendlich  
hier gestrandet. Vor meinen Augen. In meinem  
Wohnzimmer. Ohne dass ich in der Lage dazu wäre, einen  
Blick auf es zu erhaschen.  
Meine Muskeln zuckten unkontrolliert und ich versuchte  
mich auf mehr zu fokussieren als auf dieses schattenhafte  
Schleichen. Es brachte mich um den Verstand.  
Leise quietschend öffnete sich eine der Türen meiner  
Schränke. Sie befand sich in der Küche und ein Reagenzglas  
mit Rosensalz wurde hervorgezogen. Es schwebte in der Luft,  
als würde der Wind es von seinem Platz zupfen. Ich wollte  
einen Blick auf den Eindringling erhaschen. Die Erinnerung  
an Cassandras Panik ließ mich an Ort und Stelle verharren.  
Wohin sollte ich verschwinden? Wie fliehen?  
Ihr ängstliches Murmeln hatte sich in mein Gedächtnis  
gefressen. „Erst kriechen sie durch die Wände, dann durch die  
Böden, dann durch dich und wenn du nicht mehr weißt, was  
du tust, dann ist es längst zu spät. Dann sind sie in dir und  
dann zerfressen sie dich. Dann vernichten sie dich und lassen  
nichts von dir übrig.“  
Ammenmärchen versetzten mich in Angst und Schrecken.  
Während unsichtbare Hände das Rosensalz zurück an Ort und  
Stelle stellten, diesen Schrank schlossen und den nächsten  
öffneten. Meine Weine kamen zum Vorschein und einer in  
dem warmen Licht meiner Küche gedreht. Leise köchelte  
eine Suppe auf dem Herd, die ich nicht roch. Nicht mehr.  
Alles wurde übertüncht von diesem intensiven Duft. Diesem  
unwirklichen Brennen. Dieser irrationalen Gegenwart von  
Natur, die ich nicht in Worte zu fassen wusste.  
Ich wollte den Eindringling vertreiben, den Notruf wählen  
und mich durch die Fensterfront ins Freie retten. Der Sturz  
hätte mir das Leben aus dem Körper gedroschen. Wenn nicht  
er, dann der Sturm, der an dem Gebäude rüttelte, als wäre es  
sein persönliches Spielzeug.  
Ich fürchtete mich und die Angst drang aus jeder meiner  
Poren. Nichts rührte sich. Die Schritte verharrten. Leise tickte  
die Uhr in meinem Bücherregal. Zwischen Shakespeare und  
Schnitzler wirkte sie furchtbar verloren. Die Zeiger rückten  
vor, zeichneten Minuten, dann Stunden. Selbst als die Sonne  
aufging, rührte ich mich nicht. Meine Füße zitterten und  
zuckten, ohne dass ich sie noch spüren konnte. Ein seltsames  
Kribbeln flutete mein Bewusstsein und schien beinahe jede  
meiner Fasern einzunehmen. Im Schlafzimmer schrillte mein  
Wecker.  
Wer mich auch besucht haben mochte, war verschwunden.  
Den Duft hatte er hiergelassen.  
„Was ist das letzte, woran du dich erinnerst?“ Der Mann  
schenkt mir ein weiches Lächeln, das mir tausend Nadeln  
durch das Rückgrat treibt. Die dichten Wolken treiben die  
Nacht in den helllichten Tag und verzehren jedes Licht.  
Verstohlen spähe ich in Richtung des Fensters.  
Verschwommen zeichnet sich die Gestalt des Mannes vor mir  
ab. Seine klauenähnlichen Hände, sein kleiner Kopf, der  
hagere Körper und dichtes, dunkles Haar, das das Phänomen  
vor mir nicht besitzt. Mir ist heiß und kalt zugleich, während  
ich mich tiefer in den Sessel schmiege. Er ist meine letzte  
Sicherheit. Eine Insel, die sich als Fata-Morgana im Meer  
verliert.  
„Ich habe gekocht.“ Meine Stimme klingt steter als am Tag  
zuvor.  
Sein Lächeln wird breiter und entblößt Zähne, winzig wie die  
eines Kleinkindes. „Du hast gekocht“, wiederholt der Mann  
langsam. „Was hast du denn gekocht, mein Kind?“  
Die Rädchen in meinem Gehirn geben ihre Arbeit auf,  
während die dunklen, steten Augen mich durchbohren, finster  
wie die Schatten der Nacht, die geboren wurden, um Morde  
zu verschleiern.  
„Ich weiß nicht“, gestehe ich stockend.  
„Du weißt nicht mehr, was du gekocht hast?“ Die langen,  
dürren Finger streicheln über die Armlehnen seines Sessels.  
Sie erinnern mich an Beine, die man großen Spinnen ausriss.  
Ein Glied zu viel. Jeder Finger hat ein Glied zu viel. Ein  
dumpfes Pochen gräbt sich in meinen Hinterkopf. „Was ist  
das letzte, woran du dich erinnerst, mein Kind?“  
Der dunkle Fleck von Wein bohrt sich in mein Gedächtnis.  
„Tomatensuppe.“ Ich lecke mir über die Unterlippe. „Ich  
habe Tomatensuppe gekocht.“ Langsam rolle ich die  
Schultern, als könnte diese winzige Geste meine Muskulatur  
entspannen und mich zurück zu mir bringen. Die Blicke  
bleiben stechend. Bohrend. Als existierten nur er und ich und  
als wollte der Mann vor mir mich nicht kurieren, sondern  
besitzen. Auf seine eigene, düstere Weise. Indem er in mich  
kriecht, meinen Verstand verzehrt und meine Sinne führt.  
Wie ein Puppenspieler, der in meine Blutbahnen kriecht, um  
von innen heraus zu herrschen.  
„Tomatensuppe.“ Er grinst breit, während die Wolken sich zu  
Mauern türmen, die die Sonne aussperren. In der Ferne  
wippen Fichtenwipfel. Sie sind nackt und dürr wie der  
Brustkorb eines Skeletts. „Meine Leibspeise.“  
„Eine sehr gute Tomatensuppe“, bestätige ich heiser.  
„Wie hast du sie zubereitet?“ Er lehnt sich näher zu mir und  
jede meiner Fasern verkrampft sich. „Wie hast du sie  
gemacht? Ich suche seit Jahren nach einem Rezept, das in der  
Lage ist“, vage bewegt er die Klauen, „zu erfüllen.“  
„Ich habe ihr Zeit gelassen“, sage ich stockend. „Tomaten  
und Gemüsebrühe. Vor allem Tomaten.“ Nervös räuspere ich  
mich. „Sie sind eingekocht und ich habe sie regelmäßig  
aufgefüllt.“  
„Tomaten“, summt der Mann und die großen Augen  
verdrehen sich genüsslich in seinem kleinen Schädel. Die  
Hornbrille nimmt die Hälfte seines Gesichts ein und es ist  
noch immer zu wenig. „Fleischtomaten?“  
Das Herz schlägt mir in den Zehenspitzen. Langsam ziehe ich  
die Knie näher an meine Brust und ringe mir ein Lächeln ab.  
„Fleischtomaten schmecken recht wässrig“, sage ich.  
„Welche nimmst du?“  
„Ganz gleich welche. Sie müssen nur aromatisch sein.“  
„Aromatisch“, seufzt der Mann. „Alles auf dieser Welt wurde  
gemacht, um mit seinem Geschmack zu überzeugen.“ Die  
Zungenspitze huscht über seine Unterlippe und ich versuche,  
kein Detail zu intensiv auf mich wirken zu lassen. Ich weigere  
mich, diese Gegenwart als überwältigend zu akzeptieren. Erst  
wenn ich klein beigebe, kann er in mich kriechen und mir all  
das nehmen, woran ich glaube.  
„Ja“, pflichte ich ihm bei und straffe die Schultern. Wind  
heult und rüttelt an den Fichten. Ihre Nadeln liegen in  
abgestreiften Röcken auf dem rauen Boden. Als ich nicht  
fortfahre, rückt er näher zu mir. Die Stuhlbeine kreischen  
über den rauen Teppich. Fingernägel auf einer Tafel. Mir  
stellen sich die Nackenhaare auf und ich sinke tiefer in mich  
zusammen.  
„Ich koche mit Fleisch“, sagt er nach einigen Momenten der  
Stille. Die großen Augen zucken in dem Gesicht, als wollten  
sie auseinanderspringen und mich spinnengleich gefangen  
nehmen. Dabei liege ich längst in seinem Netz, gefangen und  
umwebt, bis ich nichts weiter bin als eine Beute vor dem  
Verzehr.  
„Fleischtomaten?“, frage ich und meine Stimme bebt.  
Liebe ist unser primitivstes Begehren, das wir durch die  
rationalsten Ausflüchte zu unserem höchsten Gut machen.  
Wie kommst du darauf?  
Ich habe geliebt. Ich wurde geliebt. Schlussendlich war es die  
einzige Erfüllung, die ich nie wollte, die ich nie fürchtete,  
aber immer brauchte.  
Die Mundwinkel kräuseln sich. Der Mann neigt sich näher zu  
mir, die schmalen, dürren Finger ineinander verschränkt. Ein  
seltsamer Duft geht von ihm aus. Wie von Eis und Schnee,  
Kälte und Einsamkeit, verloren in dem Sturm, der vor uns  
wütete, gefroren in seinem Herzen und bebend in jeder Faser.  
„Was tust du dazu?“  
„Gemüsebrühe“, sage ich. „Von Zeit zu Zeit.“  
„Für den Geschmack“, flüstert er. Der heisere Klang seiner  
Stimme geht mir unter die Haut. Mir wird kalt, wir wird heiß.  
Meine Zehen rollen sich ein, während meine Finger sich in  
die Armlehne des Sessels krallen. Wir sitzen einander  
gegenüber, aber vor dem heutigen Tag bin ich ihm nie  
begegnet. Er ist der gleiche Mann wie gestern, der gleiche  
Mann wie vorgestern, aber unsere Wege kreuzen sich heute  
nicht und sie haben es zuvor auch nicht getan.  
Zweige kreischen über die Fensterscheiben. Das Gewitter  
macht den Tag zur Nacht. Es ist warm. Die Heizung bollert,  
die Vorhänge wehen träge vor den nackten Wänden, ohne  
dass ein Luftzug sich in diesem Raum rührt.  
Meine Muskeln zucken. Als könnten sie mich befreien.  
Während ich hier sitze, ihn direkt vor mir, seine dunklen,  
seelenlosen Augen auf mich geheftet.  
Sie sind neu. Sie sind anders. Es ist, als wäre ich diesem Mann  
nie zuvor begegnet.  
„Die Brühe macht den Geschmack“, sagt er schließlich und  
lehnt sich noch näher zu mir. Bis sein heißer, bitterer Atem  
mein Gesicht streift. Ich kann nicht bestimmen, wonach er  
riecht. Nach nichts? Nach allem? Mir stellen sich die  
Nackenhaare auf, während ich versuche, mit den Polstern zu  
verschwimmen. Es ist, als würde mir der Moment entgleiten,  
während dieser Mann mir näher kommt. Als würde ich  
vereinsamen, während ich in Gesellschaft bin, als würde mein  
gesamtes Leben an Bedeutung verlieren, während ich allein  
bin. Mit ihm gemeinsam. Der Duft der Tomatensuppe stiehlt  
sich in meine Nase, dabei habe ich sie lange nicht mehr  
gegessen. Dabei habe ich sie seit Ewigkeiten nicht mehr  
gekocht. Der Wein scheint sich erneut in den Teppich zu  
krallen und mich zu warnen. Ich verschwinde erneut hinter  
dem Sofa und bleibe unentdeckt, bis der Morgen graut.  
Nur um an einem Ort zu erwachen, an dem ich nie war. Um  
mich in einem Raum einsperren zu lassen, der all das spiegelt,  
was ich tue, und in sein Übelstes kehrt.  
„Du sprichst wenig mit mir“, stellt der Mann fest. „Warum?“  
Mir verknotet sich die Zunge, die Kehle schnürt sich zu. Ich  
will ihm nicht die Augen sehen. In diese fremden Augen, die  
gestern noch nicht in diesem Gesicht des viel zu kleinen  
Kopfes prangten. Die einsamer wirken, intensiver. Als hätte  
man sie einem Kind entrissen, das nie das Tageslicht  
erblicken durfte. Als hätte man sie aus einem lebendigen  
Körper geschnitten, um ihn in ein totes, aus Gliedmaßen  
bestehendes Puzzle einzusetzen, das seinen Namen trägt. Den  
ich nicht kenne. Während diese Brust sich hebt, ohne dass der  
Mann lebendig wirkt.  
„Ich fürchte mich“, sage ich. Das Herz donnert mir in den  
Ohren.  
„Angst“, schnarrt er, „war seit Urzeiten das Beste, was der  
Mensch je hervorgebracht hat.“  
„Angst ist nicht nur menschlich.“  
„Wäre sie es denn“, sagt der Mann und wiegt den winzigen  
Kopf, „dann wäre sie kaum halb so gut, wie sie es heute ist.“  
Sein Glucksen ist ein Murmeln und es scheint mir in alle  
meine Sinne zu greifen. „Angst ist der einzige verlässliche  
Ratgeber, den der Mensch hat.“  
Das bestreite ich nicht.  
„Angst“, sinnt der Mann, „ist das Kraftwerk des Lebens.“  
„Nein.“  
„Nein?“ Sein kleines Lächeln hat spitze Zähne und sie bohren  
sich in meine Rückenmuskulatur. Jede Facette meines  
Körpers verspannt sich, bis ich nichts und niemand mehr bin.  
„Was würdest du als den Kern des Lebens bestimmen,  
Daphne?“  
„Ideale.“  
„Ideale sterben mit dem ersten echten Atemzug eines  
Menschen.“  
„Dieser Meinung bin ich nicht.“  
Der Mann lehnt sich zu mir und seine dürren Finger legen  
sich über meine. Sie sind eiskalt. Die Nägel graben sich in das  
Polster. Sein Gesicht ist nur noch Momente von meinem  
entfernt, die Lippen leicht geöffnet und rissig, als hätte er nie  
in seinem Leben Flüssigkeit zu sich genommen. Sie müssten  
aufreißen und bluten.  
„Welche Meinung vertrittst du, mein Kind?“  
„Wir passen uns unseren Idealen an und wenn wir für sie  
sterben müssen, nehmen wir das hin.“  
Sein leises Glucksen lässt mir das Blut in den Adern  
gefrieren. „Der Tod ist also das Ideal der Menschen.“  
„Nein. Er ist der letzte Ausweg, um ideal zu werden.“  
„Untätigkeit war immer des Menschen größtes  
Steckenpferd.“  
„Das klingt, als würdest du dich vom Menschsein  
distanzieren.“  
Glucksend lehnt er sich zurück. Seine Finger streicheln über  
meine Handgelenke. „Menschlichkeit war mir nie fremder als  
heute.“  
„Du bist ein Mensch.“  
„Ein Irrtum, mein Kind. Wenn du so willst“, seine Nägel  
kratzen über meine Haut und graben dürre Striemen in sie,  
„bin ich das, wozu eure Ideale werden, sobald ihr an sie  
glaubt.“