Die Tötung


Die Verdammten  
Die Stille raubt die Sinne. Erst erdrischt sie, dann zermalmt sie und wenn  
nichts mehr übrig ist, höhnt sie. Aus den Überresten der zerrütteten Existenz  
erhebt sich ein Engel, dem die Krone gestohlen wurde und dessen Flügel  
lahm geworden sind. Man taucht ihn in Vergessen, Feuer, Schuld, Klagen in  
jedes Gewässer, das die finstersten Orte durchfließt, um an diesen  
dunkelsten Flecken der Erde die Schatten zu schaffen, die mächtig genug  
wären, zu zerfressen. Den Auftrag der Stille fortzusetzen.  
Die Stille raubt die Sinne. Brüllend breitet sie die Arme aus und wälzt sich  
über eine triste Ebene, die geschaffen wurde, um Hoffnungen leblos  
zurückzulassen.  
Stille ist katatonisch. Sie ist der Ursprung jedes Leidens. Weil sie nicht weiß,  
wann es an der Zeit ist, das Schweigen zu brechen.  
Unter ihrem Auge fallen Reiche. Unter ihrer Obhut schaffen sich Albträume  
neu und unter ihrer Hand zerreißen sich die Seelen in dem aussichtslosen  
Versuch, ihr zu imponieren.  
Was bleibt, hat nie existiert. Was bleibt, ist finster und dürstet nach dem  
Tribut der Stille.  
Ohne Schweigen keinen Lärm. Ohne Lärm keinen ersten Mord.  
Ohne diesen ersten Mord keine Rote Liste.  
Ohne Liste keine Verdammten.  
Die Stille raubt die Sinne. Sie schafft die Verdammten. Ausgeburten der  
Finsternis, schweigend laut genug, um das Nichts zu zersprengen und einen  
Gott zu schaffen, wo es keinen Platz für ihn gibt.  
1
Tag sieben Die Verdammten  
„Du bist einfach weggerannt?“, zischt Er. „Bist du völlig irre?“  
„Wärst du geblieben?“  
„Ja!“, ruft Er aus. „Ja, verdammt, ich wäre geblieben und hätte mich ihnen  
gestellt.“  
„Sie waren nicht mehr da.“  
„Sie?“, entfährt es Er. „Du denkst, es waren mehrere?“  
„Was ich denke, spielt keine Rolle.“  
„Nicht im Moment“, sagt Er. „Eigentlich gerade auch in diesem Moment, aber  
du hast Recht. Im Moment ist das ziemlich egal.“ Er rauft sich die Haare. „Die  
Furien kommen nicht einfach so vorbei. Die Furien sind nicht einfach da und  
machen irgendwas. Die Furien kommen nur, wenn sie sich etwas verdammt  
Gutes erhoffen.“  
„Sie haben meine Verhandlung platzen lassen.“  
„Wen interessiert schon deine Verhandlung?“, ruft Er aus. „Tatsache ist, dass  
sie nicht zuerst hergekommen sind, sondern deinen seltsamen Vorstand um  
sein Leben erleichtert haben. Das macht dich überhaupt nicht stutzig?“  
„Das letzte Mal waren es auch nicht wir“, erinnere ich ihn.  
„Aber derjenige stand uns nah. Niemanden interessiert dein Vorstand!“  
„Mich interessiert er“, sagt Sie. Ich betrachte sie stirnrunzelnd. „Er war wie  
ein Vater für mich.“  
„Wie ein Vater?“, fragt Er ungläubig. „Als wärst du zu solchen Gefühlen in der  
Lage.“  
„Ich habe Gefühle“, erwidert Sie heftig. „Ich habe mehr Gefühle als ihr beide  
zusammen.“  
„Klar.“ Schnaufend rollt Er die Augen. „Deswegen bist du auch noch am  
Leben und machst hier einen Krach, als hinge deine ganze verdammte  
Zukunft davon ab.“  
„So ist es doch!“, ruft Sie aus. „Ihr tut so, als hätte ich mit dem Ganzen was zu  
tun.“  
„Nein“, sage ich.  
2
„Natürlich!“, faucht Sie. „Du gibst mir doch die Schuld. Deswegen hast du  
mich aus dem Haus geworfen. Deswegen hast du so einen Aufstand  
gemacht!“  
„Nein“, wiederhole ich.  
„Warum dann?“ Sies gelbe Augen funkeln.  
„Weil du ihn genervt hast. Deswegen.“ Er klatscht harsch in die Hände und  
legt den Kopf in den Nacken. „Wenn man Alex nervt oder er das Gefühl hat,  
dass die Sache eh nichts bringt, dann sitzt du schneller auf irgendeiner  
versifften Provinzstraße, als du dir vorstellen kannst.“  
„Oh, das habe ich gemerkt.“ Sie lacht auf. „Furien! Er hat recht!“ Mit  
ausgestrecktem Arm deutet Sie auf Er. „Die kommen nicht einfach so vorbei.  
Sie schalten jede mögliche Instanz zwischen und wenn sie einmal da sind,  
dann gehen sie auch nicht mehr weg.“  
„Es sei denn, es lohnt sich nicht“, wirft Er ein.  
„Es lohnt sich immer für sie, wenn sie hier sind!“  
„Du weißt viel über die Furien“, sage ich.  
Sies Blick ist mörderisch. Glühende Funken brennen sich in ihre Iriden, als  
hätte sie die Augäpfel aus ihrem Kopf gerissen und in ein tanzendes Feuer  
geworfen. „Ich plappere doch nur nach, was ihr sagt!“  
„Nein.“  
„Doch“, schimpft Sie. „Doch!“  
Er runzelt die Stirn. „Sag mal, auf wen bist du jetzt eigentlich wütend? Du  
benimmst dich so ein bisschen, als hätte man dir dein Plüschhasen aus den  
Händen gerissen.“  
„Ich benehme mich …“ Sie schnappt nach Luft und vergräbt das Gesicht in  
den Händen. „Wenn der Vorstand tot ist, dann habe ich nichts mehr!“  
„Du hast nie mehr besessen als dich selbst“, sage ich.  
„Ich hatte alles!“, ruft Sie aus.  
„Ein leeres Haus“, erinnere ich Sie.  
„Ein Leben“, faucht Sie. „Bevor ich zu dir musste, hatte ich ein Leben.“  
„Ein leeres Leben.“  
„Es war nicht leer! Es hatte einen Sinn.“  
3
„Wir halten also fest“, wirft Er ein, „Alex ist eine Zecke, wir hassen alle Alex,  
wir verbrennen Alex, wir schnupfen seine Asche und die Sache hat sich  
immer noch nicht geklärt. Passt das so?“  
Ausdruckslos sehe ich ihn an. Er hebt die Schultern. „Nur für das Protokoll.  
Mach dir nicht gleich ins Hemd.“  
„Nein“, schimpft Sie. Als sie wutentbrannt aufstampft, blinzle ich. „Es genügt  
nicht. Es wird nie genügen, solange diese Frau hinter mir her ist und die  
Furien angeblich ihr Unwesen treiben.“  
„Ihm wurde das Gesicht gestohlen“, wiederhole ich. „Als ich dort stand,  
schrieb sich mein vollständiger Name in seine Brust.“  
„Sicher, dass du das nicht selbst warst?“, faucht Sie.  
„Ja.“  
„Warum?“ Hysterisch lachend reißt sie die Hände in die Luft. „Warum,  
verdammt? Du bist doch irre. Du weißt doch selbst nicht, was du tust. Du tust  
ja nicht einmal was!“  
Zorn hat noch keinen Weg geebnet. Im Stillen hat er jede Hoffnung  
niedergebrannt und jedes Geleit vertrieben. Ich lecke mir über die Lippen. Sie  
sind rissig. Flüssigkeit. Schweigend schiebe ich mich an Sie vorbei, greife nach  
einem Glas und fülle es bis zum Rand. Ein einziger Tropfen perlt über die  
glatte, kühle Oberfläche und ein süßer, kaum definierbarer Geruch steigt mir  
in die Nase. Bekannt wie mein eigener.  
„Weil ich nichts tue“, wiederhole ich Sies Worte, nachdem ich getrunken  
habe.  
Sie kreischt auf und schlägt mit der flachen Hand gegen die Wand. „Du sitzt  
einfach hier und verirrst dich in einem Knäul!“  
„Mir ist klar, dass man nie einer wütenden Frau ins Wort fallen sollte“, sagt Er  
gedehnt, „aber wenn Alex sich ein Wollknäul zurechtlegt, dann weiß er auch,  
was er tut.“  
„Ich weiß es aber nicht“, faucht Sie. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich  
weiß es nicht!“  
„Das ist der Sinn“, erwidere ich matt.  
Ein Ruck scheint durch den Raum zu gehen. Sie verschränkt die Arme vor der  
Brust. Die plötzliche Ruhe zerfrisst Mark und Bein. Während Er mir einen  
raschen Blick zuwirft, fahre ich mit dem Daumen über den Rand meines  
4
Glases. „Wie kann der Sinn sein, dass jemandem das Gesicht abgerissen  
wird?“, fragt Sie mich gefährlich leise.  
„Wir wissen nun immerhin, wo wir stehen“, murmelt Er. „Ob das nun geplant  
war oder nicht.“ Erwartungsvoll sieht er mich an. Das dunkle Braun seiner  
Augen scheint zu knistern. „Es war doch geplant, oder?“  
Gedanken bilden sich, die ich verschlucke, ehe sie Form annehmen.  
„Womöglich.“  
Ruckartig fährt Sie sich mit den Händen in das dichte Haar. „Eine Antwort!“,  
faucht Sie. „Ich will eine einzige, richtige Antwort haben. Nur eine. Ist das zu  
viel verlangt?“  
Ich halte ihren brennenden Blick. „Ja.“  
Ihre Finger ballen sich zu Fäusten. Die Lippen presst sie fest aufeinander, bis  
jedes Quäntchen Farbe aus ihnen gewichen ist. „Ich schwöre dir, ich bringe  
dich um.“  
„Das haben schon Größere als du geschworen“, murmelt Er. „Du kannst Alex  
drohen, wie du willst. Juckt ihn nicht.“  
„Das Gesicht wurde gestohlen“, beharre ich.  
„Toll.“ Er hebt die Schultern. „Was willst du jetzt tun? Wieder deine sieben  
Sachen packen und verschwinden? Die werden dich immer wieder finden.  
Die werden uns immer finden. Wir können nichts bis ans Ende unserer Tage  
weglaufen.“  
„Doch.“  
„Nein!“, ruft Sie aus. „Weißt du auch warum? Weil ich da inzwischen mit  
drinhänge und ich will die Sache hier überleben und nicht den Tag verfluchen,  
an dem wir uns das erste Mal begegnet sind.“  
Regnerische Tage sind kein gutes Omen. Ich räuspere mich. Das Gelb ihrer  
Augen wirkt fremd, ihr Geruch anders. Sacht schüttle ich den Kopf und fülle  
mir das Glas erneut bis zum Rand. Zarte Tropfen perlen über den Rand. Ich  
inhaliere den Duft von Leben. Die Essenz der Evolution.  
„Du bist ein selbstsüchtiger Arsch“, zischt Sie. „Heute ist es der Vorstand,  
morgen vielleicht ich!“  
„Komm, stell dich nicht als Opfer dar. Du bist jetzt auch kein niedliches  
Mauerblümchen“, sagt Er.  
5
Sie ist viel. Harmlos nicht. Mit einer winzigen Bewegung ihrer Finger  
manipuliert sie den Nebel. Gut genug. Nicht brillant, aber gut genug. Auf der  
flucht vor Schatten und Dämonen wird sie einen Schritt voraus sein.  
Bis sie es nicht mehr ist.  
Dann rauben die Furien ihr das Gesicht und setzen es sich selbst auf.  
Leere Muskulatur und weißer Knochen.  
„Du musst das kommen sehen haben“, wirft Sie mir vor. „Du siehst doch alles  
immer kommen. Du kannst mir nicht sagen, dass du genauso ahnungslos wie  
ich von A nach B taumelst und einfach hoffst, dass du dabei nicht  
draufgehst!“  
„Du bist nicht planlos“, sage ich sachlich. Das Wasser ist kühl. Es ist  
angenehm. Ich bin dehydriert. Mein Körper erinnert sich an Müdigkeit. Ich  
stoße die Erschöpfung zurück und fokussiere mich auf die flackernden Farben  
vor mir. Ein Irrlicht hat noch kein Leben aus dem Dreck gezogen und eine  
Furie noch kein Irrlicht angegriffen.  
Schwarze Schwaden sind kein Einbruch der Dunkelheit. Erst wenn die  
Schatten sich ins Hirn fressen, lockt der Sieg.  
Ich rolle den Kopf. Die Wirbel knacken.  
„Wenn ich nicht völlig planlos wäre, wäre ich längst nicht mehr hier“, faucht  
Sie. „Da hätte ich meine sieben Sachen gepackt und wäre verschwunden,  
aber ich weiß doch nicht einmal, wovor ich fliehe!“  
„Vor dir.“  
Ers Brauen rücken zusammen.  
„Nein?“ Sie lacht harsch auf. „Vor dir. Wenn überhaupt, dann vor dir.“  
„Die Hexe wollte dich.“  
„Und? Dich will sie doch auch.“  
„Mich hat sie.“  
„Wow.“ Die Hysterie spricht aus jeder von Sies Bewegungen. „Wow. Einfach  
wow! Wie kann man dermaßen ignorant sein?“  
„Ich bin nicht ignorant.“  
„Sondern? Wie nennst du es dann?“  
„Vorsichtig.“  
„Mit Recht“, sagt Er. Seufzend verschränkt er die Arme vor der Brust. „Komm,  
Lucia, du lenkst doch ab.“  
6
„Ich lenke ab?“, kreischt Sie. „Ich lenke ab? Nicht er? Er sagt doch nicht  
einmal was.“  
„Er bringt es auf den Punkt, aber du“, Er stockt, „weißt das auch“, endet er  
lahm.  
Sie schlägt mit der flachen Hand gegen die Wand. Erneut. Ich bilde mir ein,  
den Putz bröckeln zu hören. „Ich weiß gar nichts! Ich bin die nächste, wenn  
das hier so weitergeht, obwohl ich nur einen dämlichen Job zu erledigen  
hatte!“  
„Nämlich?“, fragt Er Sie trocken.  
„Lügen.“ Ich presse meine Daumen fest aneinander.  
„Ach?“ Ihre Stimme ist gefährlich leise geworden. „Plötzlich bin ich also auch  
noch die Lügnerin hier. Ausgerechnet ich?“  
„Ja.“ Ihre Pupillen pulsieren und in das finstere Schwarz drängt sich der  
prickelnde grüne Schimmer eines verlorenen Versprechens. Schweigend  
greife ich in meine Jackentasche und ziehe einen Ring hervor. „Du hast ihn  
verloren.“ Nach unserem ersten gemeinsamen Auftrag. Das Material ist  
warm, selbst wenn die Erde darum gefriert. Es brennt sich tief in die  
Berührung und schlägt die Krallen in das Gewissen.  
„Ich habe hier gar nichts verloren“, spuckt Sie.  
„Jeder Verdammte sucht die Verdammung“, sage ich. Sie blinzelt. Die dichten  
Wimpern flattern. „Jede Furie wartet auf die Mutter allen Übels.“ Ich reiche  
Sie den Ring. „Die Hexe stürzt sich nicht auf Seelen. Sie lockt.“  
Die Stille ist abrupt. Er räuspert sich. „Mein Hirn ist ein wenig eingerostet,  
also häng mich nicht auf die nächste Wäscheleine, nur weil ich die Sache ein  
wenig verdrehe. Aber, nur fürs Protokoll“, Er wedelt mit den Händen,  
„wirklich nur fürs Protokoll. Willst du mir ernsthaft weißmachen, dass …“  
„Ja.“  
„Du weißt nicht einmal, was er sagen will, und schon unterbrichst du ihn!“,  
faucht Sie.  
„Nein.“  
„Wie, nein?“  
„Worte haben Macht.“  
7
„Worte haben …“ Sie beißt sich auf die Innenseite ihrer Wange. „Alex, ich  
schwöre dir, wenn das hier alles ein schlechter Witz ist und du mich hiermit  
ausliefern willst, dann bringe ich dich um.“  
Er greift stirnrunzelnd nach einem Messer im Block und wendet es. Flatternd  
huscht Sies Blick zu ihm. Die Luft wird dünner. Auf der Klinge des Verrats  
angekommen, ist sie kaum genießbar.  
„Leg das Ding weg“, schimpft Sie.  
„Na, ich dinge hier mal gar kein Ding weg, das du nicht willst.“ Er räuspert  
sich erneut und tiefe Falten graben sich in seine Stirn. Die Zungenspitze  
huscht über die spitzen Zähne. Die finstersten Erkenntnisse verbergen sich in  
den unschuldigsten Körpern.  
Sie vernimmt meinen Gedanken und macht einen Schritt zurück.  
Er schleudert das Messer. Ein Stich in die Schulter hat noch keiner Seele  
geschadet. Der Spiegel splittert und zerrt das schlaffe Gesicht von einem  
zeitlosen Körper. Dickes, blubberndes Blut fließt, der Gestank nur übertüncht  
von billigem Parfum.  
Otstupniken folgen nicht blind. Es sei denn, eine Furie trägt das Zepter.  
Er flucht und greift nach dem nächsten Messer. Es ist nutzlos, während ich  
mein eigenes in den Händen wiege.  
„Höllenmut und Höllenhohn“, sage ich. „Nach dem Irrlicht kommt die Furie.“  
Lucia ist lange nicht mehr unter uns.  
Ich umfasse Ers Hand. Die Umgebung verschwimmt, ehe Sie sich auf uns  
stürzen kann. Der Geruch nach Schwefel, Pest und Rosen bleibt Daheim.  
„Verdammt“, flucht Er. „Verdammt!“ Sein Puls rast. „Woher?“  
Ich reibe mir mit dem Daumen über den Kiefer. „Lucia ist längst tot.“  
„Wann ist sie draufgegangen?“, entfährt es Er. „Gestern? Verdammt!“ Er  
fährt sich über das Gesicht. „Weißt du, wie knapp das war? Die hätte uns  
jeden Moment einfach erledigen können. Sie war kurz davor, alles aus mir  
rauszubekommen, was ich weiß, weil sie ja süß ist und so und man zu  
niedlichen Mädchen nett sein sollte.“  
Ich zögere. Krampfhaft versuche ich die Eindrücke in Worte zu fassen, die sich  
durch meine Erinnerungen quälen. Schließlich lasse ich sie los und hin zu Er.  
Seine Gegenwart schmeckt bitter wie von der ersten Sekunde an. Nach  
überwürzter Suppe und verbrannten Kräutern.  
8
Er greift, ohne darüber nachzudenken. Ein Blauäugiger, der sich den Trojaner  
ins Haus winkt.  
Es regnet. Das Wasser jagt vom Himmel hinab, als wolle es das übrige Leben  
zerschlagen. Dumpf zerschlägt es an winzigen, verrammelten Fenstern, hinter  
denen die Ahnung von depressiven Wolkenlicht hockt. Ich sitze dort und  
zähle meine Sinne, während Schritte auf dem tristen Korridor erklingen. Das  
dunkle Haar fließt vom Arm des Mannes hinab. Dem Mädchen fehlt das  
Gesicht. Unter dem Flackern der Glühbirne ist sie kaum mehr als ein  
Überrest, der von mir beschworen wurde.  
Er räuspert sich. „Wo und wann?“  
„Neunzehntes Jahrhundert, im Wald.“  
„Kennst du den Namen nicht oder ist er zu wichtig?“  
„Kenne ich nicht“, räume ich ein. Es hat mich nie gekümmert, an welchem Ort  
man mir den Verstand aus dem Schädel brennt.  
„Du weißt es die ganze Zeit.“  
„Vermutet.“  
„Wolltest du die Geschichte der Kleinen aus der Furie rausbekommen oder  
warum bist du nicht sofort gerannt?“  
„Wissen ist Macht.“  
Er atmet tief durch. „Denkst du dir, dass mit dem Gesicht das Wissen  
mitkommt?“  
„Die Furien rauben uns das Gesicht“, sage ich.  
„Dem Dynamit für die beschissene Liste. Ist schon klar.“  
Ich sehe Er lange an. „Die Furien rauben uns das Gesicht“, wiederhole ich  
schließlich, als er nicht reagiert.  
Seufzend hebt Er die Schultern. „Ich wurde gerade fast gehäutet. Erwartest  
du ernsthaft, dass ich schon wieder funktioniere?“  
„Uns“, wiederhole ich heftiger.  
„Ja. Uns. Toll. Wir sind die nächsten! Ich werde was zum Saufen anschleppen,  
damit die Sache netter wird.“  
„Uns“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Die  
Erinnerung an Zorn brodelt durch meine Venen.  
9
„Uns“, wiederholt Er gedehnt. „Sie rauben Uns das Gesicht. Uns. Sie rauben  
Uns das Gesicht.“ Er schnalzt mit der Zunge. „Denkst du, das nächste wird ein  
Doppelraub?“  
„Fünf Flüsse“, sage ich.  
„Fünf Flüsse der Unterwelt“, räumt Er ein. „Toll. Und jetzt?“  
„Sie rauben Uns das Gesicht.“  
Erst als Er den Mund öffnet, um ihn wieder zu schließen, sickert eine Ahnung  
des Wissens zu ihm durch.  
„Wir sind Fünf und Dreien von uns wurde das Gesicht schon abgezogen. Das  
heißt, drei von uns sind erledigt, wir sind die nächsten und du wusstest  
genau, was du getan hast, als du die Seele des Vorstands für eine Furie  
gesetzt hast.“  
„In der Art.“  
„Scheiße!“ Er klatscht heftig in die Hände. „So ein Scheiß! Zwei? Gegen drei  
Furien? Mit fremden Gesichtern?“  
„Grüner Schimmer.“ Ich räuspere mich. „Ein grüner Schimmer im Auge, ein  
zäher Geruch und ein wirrer Geschmack.“  
„Wirrer Geschmack?“ Ers Brauen schießen in die Höhe. „Ich würde ja sagen,  
erzähl mir alles, aber ich habe echt Bammel, dass ich danach ein paar  
Sessions in deiner Horrorklapse brauche.“  
„Sie steht leer.“  
„Na, umso besser! Da kann ich mich direkt am besten um mich kümmern.“  
„Deine Gegenwart schmeckt überwürzt und verbrannt.“  
„Und deine nach einem beschissenen Klugscheißer“, sagt Er trocken. „So  
nach“, er rümpft die Nase, „Babypuder und nassem Hund.“  
Ich presse die Lippen fest aufeinander. Selbst riecht man sich nicht. Ein  
fragwürdiger Segen.  
„Sie hat halt nach Pest, Tod und Rosen gerochen. Wen interessiert es? Wenn  
ich eine Blumenwiese suche, geh ich in eine Drogerie.“  
„Pest, Schwefel, Rosen“, erinnere ich Er.  
Mit dem Daumen fährt er sich über die Wange. „Ich bin heute nicht der  
Schnellste. Fang an zu reden oder lass es. Mir brummt der Kopf, weil gerade  
jemandes Gesicht einfach runtergefallen ist wie alte Pappe.“  
10  
„Der Geruch der Furien.“  
„Der Geruch der Hexe“, sagt Er. „Der Geruch von einem alten Friedhof oder  
einer alten Dame mit toten Nasenhärchen. Was willst du von mir?“  
Ich lasse das Thema fallen. „Es ist dunkel“, stelle ich fest.  
„Es ist heute gar nicht erst hellgeworden.“ Er atmet tief ein. „Der Kleinen ist  
gerade ihr Gesicht runtergefallen und du sagst mir, du wusstest das seit  
zweihundert Jahren. Was ist falsch mit dir, Alex?“  
Stirnrunzelnd betrachte ich Er. „Was denn?“  
Kopfschüttelnd stiert er in die Ferne. „Nichts. Vergiss es einfach.“ Ich warte  
auf den Regenguss. „Wir sind also wieder da angekommen, wo man nicht  
einmal seinen eigenen Augen glauben kann.“  
„Deinen Augen solltest du nie trauen.“  
„Ich traue ihnen ganz gern, weil gefühlt alle anderen Sinne für die Tonne  
sind“, schimpft Er. „Sehen kann ich zumindest.“  
„Ein Trugschluss.“  
„Halt die Fresse, solange du noch eine hast.“  
„Ich kannte Lucia nicht.“ Wegwerfend zucke ich die Achseln. „Du kanntest sie  
nicht.“  
Unwirsch wedelt Er mit den Armen. „Darum geht es nicht. Es könnte die  
Tanne da drüben gewesen sein.“ Anklagend betrachtet Er den Baum. „Da ist  
jemandem das Gesicht runtergefallen.“  
„Du ahntest es.“  
„Ich dachte, sie wäre eine Furie!“  
„Sie war eine Furie.“  
„Ja“, sagt Er gedehnt. „Aber eine Furie mit einem fremden Gesicht und das  
finde ich richtig zum Kotzen!“  
„Der Ring gehörte nicht ihr.“  
Er stöhnt leise. „Warum überrascht mich das nicht?“  
„Sie weiß das.“  
„Und?“  
„Er gehört ihrer Schwester.“  
„Toll. Und jetzt?“  
„Sies Gesicht wurde von zwei Furien getragen.“  
Die Stille ist abrupt. „Du willst, dass ich kotze, oder? Du legst es darauf an.“  
11  
„Sie verteilen die Gesichter.“  
„Du willst, dass ich dir hier und jetzt meinen Mageninhalt zu Füßen lege. Das  
willst du doch, oder?“  
Das ist der falsche Zeitpunkt.  
„Fast hättest du eine Furie dazu gebracht, dir die Kladde vorzulesen!“, ruft Er  
aus dem Nichts aus. „Sie hätte sich da hineinbannen können. Bist du irre?“  
„Es ist beschrieben.“  
„Da war nichts beschrieben!“  
„Ich habe es in meiner Zeit woanders beschrieben.“  
Er schließt die Augen und atmet tief durch. „Mich sollte hier gar nichts mehr  
überraschen, aber“, für einen Moment stockt er, „warum habe ich nur das  
Gefühl, dass das hier alles ein ziemlich abgekartetes Ding ist?“  
„Andererseits trüge eine Furie mein Gesicht.“  
„Ach.“  
„Die Hexe verlangt ihren Tribut.“  
„Und ich meinen Rum. Meins bekommt man schneller als ihrs. Also?“  
„Der nächste Wolkenbruch kommt“, murmle ich.  
„Also gehen wir uns besaufen.“ Ers Finger krallen sich in den Ärmel meines  
Pullovers. „Ich schwöre dir, wenn du mich als Bauernopfer eingeplant hast,  
dann trete ich nach, bis du dir meinen Schuh aus dem Arsch operieren lassen  
musst.“  
„Ja.“  
„Gut.“ Er nickt, die Kiefer fest aufeinandergepresst. „Ich wollte nur  
sichergehen, dass wir beide auf gleicher Ebene sind.“  
„Ja.“  
„Alex, eine Sache im Voraus. Wenn wir das Ding überleben, bist du mein  
Held. Wenn wir deinetwegen draufgehen, dann zerre ich dich persönlich in  
den Phlegethon und esse dein gegrilltes Fleisch.“  
„Gut.“  
„Gut.“ Stirnrunzelnd betrachtet er mich. „Scheiße, Alex. Wenn du das Ding so  
durchziehst, wie du es vor fünfzig Jahren vorhattest, dann mach ich mir ins  
Hemd, bevor es richtig losgegangen ist.“  
„Eine Furie ist geködert“, sage ich. „Für die Liste brauchen wir sie alle.“  
„Du bist beschissen“, murmelt Er. „Du bist richtig beschissen.“  
12  
„Es gibt nur drei Furien.“  
Kurz stockt Er. „Nett, dass du mich lebendig eingeplant hast.“  
„Keine Ursache.“  
„Wäre es anders, ich schwöre dir, Alex, ich würde dich umlegen.“  
„Tausch ist Tausch.“  
„Und eine Hand wäscht die andere.“ Er grinst schief. Seine dunklen Augen  
funkeln. „Bis nichts mehr übrig ist.“  
Es ist warm. Der Geruch von altem Bier liegt in der Luft. Stimmgewirr und  
diffuses Licht. Man sucht den Sündenpfuhl und Er findet ihn. „Nett hier“,  
stellt Er fest und schenkt der nächstbesten Frau ein zahnreiches Grinsen.  
Die Tischplatte ist rissig und Dreck verklebt den Boden. Billige Preise, billiger  
Rum.  
Billiges Fleisch, geeignet für Verzehr und Verleumdung.  
„Ich würde mir das halbe Ferkel geben lassen, wenn ich könnte.“  
„Du kannst“, sage ich.  
„Klar.“ Er rollt die dunklen Augen. „Dann stürzen sich die Muskelmänner auf  
mich und fressen mir die Arme vom Kopf.“ Sein Lachen klingt desorientiert.  
„Oder so! Wen kümmert es schon.“  
Ich trinke Wasser. Es schmeckt nach Urin.  
„Sag mal. Sag mir eines.“ Er hat beide Hände um den Krug voll Rum gelegt, als  
bräuchte er den Inhalt zum Überleben. „Um eine dieser Kladden zu  
beschreiben, muss man entweder sein gesamtes Blut hergeben oder seine  
gesamte Seele.“  
„Ich lebe.“  
Er nickt knapp. „Also die Seele.“  
„Vorübergehend.“  
„Keine Angst, dass jemand die Kladde verbrennt oder die Furie sie  
mitnimmt?“  
„Die Furie erkennt sich selbst darin.“ Ich schiebe das Wasser von mir. „Sie  
scheut den Spiegel.“  
„Macht die Sache auch nicht besser, oder?“  
13  
„Dort befindet sich, was ich nicht wissen muss.“  
„Sehr clever“, seufzt Er. „Ich würde ja sagen, ich halte das wirklich für klug,  
aber eigentlich will ich dir nur die Nase ins Hirn drücken.“  
„Manche Wünsche sind irrational.“  
Er lacht undeutlich. „Einige sogar so irrational, dass sie schon wieder rational  
sind. Denk darüber mal nach.“  
„Bei Zeiten.“  
„Ja, du mich auch.“ Er rollt die Augen. „Du kannst mir auch gleich sagen,  
wenn ich dich am Arsch lecken kann.“  
Ich hebe eine Braue. Manches braucht keine Worte.  
„Kannst es auch lassen“, murmelt Er und nimmt einen tiefen Schluck aus dem  
Krug. „Und dafür berechnen die mir zwanzig Rum. Ist Wucher, was?“  
Der scharfe Geruch des Alkohols frisst sich in meine Nase. Ich gebe einen  
zustimmenden Laut von mir und konzentriere mich auf die schwüle, feuchte  
Hitze. An Orten wie diesen werden Pandemien geboren. Im finstersten  
Winkel einer hellen Stadt, aus dem die Ratten kriechen und sich unter das  
Volk mischen.  
„Wenn man nicht säuft, ist das Leben gleich viel entspannter“, stellt Er fest.  
„Deine Rechnungen sind bestimmt nicht hoch.“  
„Ja.“  
„Obwohl du nur Putze bist, verdienst du mehr als ich!“  
„Der Vorstand ist tot.“  
Er winkt ab. „Du findest schon jemand Neuen, für den du den Lappen  
schwingen kannst.“  
„Wahrscheinlich.“ Lucia. Nachdem ihr Name längst durch den Dreck gezogen  
wurde, lasse ich ihn mir auf der Zunge zergehen. An ihm haften seltene  
Sonnenstrahlen und leise Melodien. Nichts ist unendlich. Am wenigsten das,  
was für ewig erachtet wird. So finster und verworren es auch sein mag.  
Hier fallen keine Masken. Unter uns rollen Köpfe. Ich lecke mir über die  
Lippen und schmecke sauren Schweiß. Bitteren Schweiß.  
Nur zu einem Bruchteil mein eigener. Die Körper winden sich durch den  
beengten Raum. Die Gerüche, die von ihnen ausgehen, bereiten mir Übelkeit.  
„Ich dachte wirklich immer, ich sei kaltschnäuzig“, sagt Er schließlich. „Wenn  
jemand stirbt, dann interessiert es mich nicht. Wenn jemand versucht mich  
14  
umzubringen, dann knall ich ihn halt ab.“ Achselzuckend stiert Er in seinen  
rumgefüllten Krug hinab. „Wozu hat man die verdammte Waffe, wenn man  
sie nicht leerballert?“ Mit einem tiefen Stöhnen schließt Er die Augen. „Aber  
du? Du arbeitest Jahre mit einer Furie zusammen, weißt es und packst es  
irgendwie, sie hinzuhalten.“  
„Wissen ist Macht“, murmle ich.  
„Klar.“ Er nickt knapp. „Ich kenne keinen, der seine Gedanken wie du im Griff  
hat. Manchmal“, er nimmt einen tiefen Schluck, „würde ich zu gern in deinen  
verkorksten Kopf sehen und dann erinnere ich mich daran, wie verdammt  
verkorkst du bist, und bin froh, dass ich nur in dein beschissenes, leeres  
Gesicht starren muss.“  
„Auf Messerschneide“, murmle ich.  
Dunkel kichert Er. „Angst, dass die Furie dich holt?“  
„Nein.“  
„Sondern?“  
„Wir balancieren auf Messerschneide.“  
„Wegen der Furien?“  
„Nicht der Furien wegen?“  
„Sondern?“ Er trommelt einen unrhythmischen Takt. „Komm aus dem Knick,  
Alex. Warum?“  
„Wir leben“, erwidere ich schlicht. „Dabei hat das Leben uns verstoßen.“  
„So ein Schwachsinn“, murmelt Er. „Du tust immer so, als könne man bei  
dem Leben vorbeifahren, an die Tür klingeln und es macht dir nicht auf.“  
„Es lädt ein.“  
„Und wir dürfen immer noch auf seiner Party tanzen!“ Er reißt die Hände in  
die Höhe. „Freu dich darüber und mach dir nicht ins Hemd.“  
Ich hebe eine Braue. „Freude macht unvorsichtig.“  
„Unvorsicht tötet. Ist mir klar.“  
„Du hättest ohne mich überlebt.“  
Er lacht schallend auf. „Vergiss es! Ich hätte mit der Kleinen rumgeknutscht  
und sie hätte mich wahrscheinlich mit ihrem Speichel umgebracht oder so.“  
Ich räuspere mich. „Die Furien sind giftig?“  
„Keine Ahnung.“ Er inhaliert den Gestank der billigen Kneipe. „Sag du es mir.  
Ich habe die letzten Jahre genossen, dass ich lebe. Seit ich die Friese habe,  
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habe ich die ganze Höllenflusssache fast vergessen und die Liste einfach aus  
meinen Erinnerungen gestrichen.“  
„Haare machen Leute.“  
Harsch lacht Er auf. „Na, zumindest im Traum.“ Ein fetter Mann windet sich  
durch dürre Frauen, die ihm aus blutunterlaufenen Augen nachsehen. An  
einem Ort wie diesem gibt es keinen Schlaf. Nur die ewige Gewissheit, dass  
man dem gefräßigen Strudel des pechschwarzen Unglücks nicht entfliehen  
konnte. Die Fliege gefangen im Spinnennetz, während das Leben die Energie  
aus den zappelnden Körpern saugt.  
„Was sollte die Sache mit dem Ring?“  
„Er frisst Kontrolle“, sage ich.  
„Deswegen trägst du ihn bei dir?“ Die Skepsis steht auf seinem bleichen  
Gesicht. „Um dich selbst auf die Probe zu stellen.“  
„Für den rechten Moment.“  
„Der rechte Moment.“ Er schnauft. „Es gibt keinen richtigen Moment.“  
„Vorhin“, erinnere ich ihn.  
„Und jetzt?“ Er rollt die Augen. „Jetzt hast du ihr gezeigt, dass du weißt, dass  
sie zwei sind.“  
„Nein.“ Ich sagte, der Ring gehöre ihr.  
„Es ist doch krank, dass ein Gesicht einen ganzen Menschen machen kann“,  
murmelt Er. „Ich hätte das nie erkannt. Nie! Ich habe mich gefragt, warum die  
uns umbringen will, aber wir sind ja alle schräg und irre.“  
„Sie roch falsch“, murmle ich.  
„Dafür musst du den Geruch aber auch erstmal kennen.“ Ers Blicke  
durchbohren mich. „Manchmal muss ich daran denken, wie du einfach bei  
mir in der Tür standest und mit mir reden wolltest.“ Er räuspert sich. „Du  
musst das Mal der Liste nicht sehen, was?“  
„Lucia hat mich gefunden.“ Ich runzle die Stirn. „Sie hat die Liste real  
gemacht.“  
„Ihr Gesicht oder die ganze Lucia?“  
„Wer einen Krieg gegen die Furien beginnt, verliert.“ Lange betrachte ich Er.  
„Wer die Klinge gegen sie erhebt, degradiert sich zum Opfer.“  
Er verzieht angewidert das Gesicht. „Erklärt dann ja zumindest, warum ich  
das beschissene Messer werfen musste.“  
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„Ja.“  
„Was ist deine Rolle bei dem Ganzen?“ Er hebt den Krug. „Bist du der  
undurchsichtige Strippenzieher? Was bist du.“  
Die Schatten lauern, wo das Licht hinfällt. „Das Bauernopfer.“  
„Als würdest du dich dafür hergeben!“ Ers Unglauben schlägt mir in Wellen  
entgegen. „Nimm dich ruhig selbst auf den Arm, aber ich glaube dir kein  
Wort.“  
„Lucia hat es getan.“ Ich presse die Lippen fest aufeinander. Den  
vollständigen, geschriebenen Namen zu sehen, ist nie ein gutes Zeichen. Er  
brannte sich in den Körper der in Dampf gehüllten Leiche. Man hat ihn  
drapiert. Mit Ring. Ich lecke mir über die Lippen und schmecke die raue Säure  
dieses finsteren Winkels.  
„So, wie du mir das gezeigt hast“, sagt Er, „wart ihr ja höchstens ferne  
Bekannte.“  
„Was wir wissen, das war nie geschehen“, murmle ich.  
Er schnauft. „Zumindest in deinem Kopf. Du drehst dir das schon so zurecht,  
dass niemand schlau draus wird.“  
„Otstupniken, Ubiytsen, Irrlichter, Furien.“ Bei jedem Henker senke ich einen  
Finger, bis nur noch der Kleine steht. „Es ist nie unvollständig.“  
„Kannst das Leben ja noch mit reinhauen“, sagt Er resigniert. „Das machst du  
doch so gern.“ Ich höre sein schweres Schlucken, während der billige Schnaps  
ihm in den Körper rinnt, als wolle Er sich von innen heraus veröden.  
„Ich lebe“, murmle ich.  
„Je häufiger du etwas sagst, desto weniger glaube ich es.“ Ruckartig lehnt Er  
sich zurück und verschränkt die Arme hinter seinem Kopf. „Sprich mal Kladde.  
Wie viel wissen die Furien. Was kommt.“  
„Sie wissen nichts.“  
„Du musst dich doch einen Moment mal nicht im Griff gehabt haben.“  
„Ritalin.“  
„Was?“  
Ich sehe ihm in die verständnislosen Augen. „Nur im Traum verliere ich.“  
„Also hast du zwei Jahre nicht mehr gepennt?“, spottet Er. „Im Ernst? Das  
glaubt dir kein Schwein.“  
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„Die letzten Tage.“  
„Ist ja schön.“ Er nickt. „Die anderen? Was war da?“  
„Sie hat sich nicht in meinem Haus befunden.“  
„Woher willst du das wissen?“  
„Ich weiß es.“  
„Einen Scheiß weißt du!“  
„Du kannst sagen, wie viel den Furien verraten wurde“, murmle ich.  
Ruckartig stellt Er den Krug auf dem Tisch ab. Das dumpfe Geräusch hallt  
durch das alte Holz und knirscht und knarrt. Im Trubel des billigen Fleisches  
geht es unter. „Du denkst nichts, ich denke an Pasta“, sagt Er unwirsch. „An  
jede Form von Pasta! Ich habe mich zu einem Koch gemausert, dem muss  
man keine Knarre mehr in die Hand geben, damit seine Gäste den Teller  
leerfressen.“  
„Pasta“, wiederhole ich.  
„Pasta.“ Er presst die Lippen fest aufeinander. „Du kannst mir nicht erzählen,  
dass du in zwei Jahren keinen schwachen Moment hattest.“  
„Doch.“  
„Wie zur Hölle?“ Mit den Daumen reibt er sich über die Stirn. „Wie? Bist du  
einen Pakt eingegangen, von dem ich noch nichts weiß? Wie?“  
„Ich habe zu verlieren.“  
„Wir alle haben zu verlieren. Alex! Du bist in den letzten Jahrzehnten noch  
schrulliger geworden. Du bist der größte Freak, den die Putzkolonne je  
gesehen hat.“  
„Ja.“  
„Wozu? Was willst du damit bezwecken?“  
Am Ende des Gewitters wartet der Sonnenschein. Ein dumpfes Pochen zieht  
sich durch meine Schläfen und die Muskeln krampfen. Ich atme Luft, gesättigt  
von niederer Boshaftigkeit, die sich in mich werfen will. Der Affekt  
entschuldigt die Tat. Sagt das Gesetz. In Gegenwart eines guten Anwalts.  
Er beugt sich nah zu mir. Das transplantierte, dunkle Haar fällt ihm in die  
schweißnasse Stirn. Hitze kocht uns in unserer eigenen Suppe, während kein  
frisches Lüftchen durch den Raum kriecht. „Wer bist du Alex?“, flüstert Er.  
„Ich kenne dich gar nicht mehr. Wer sagt mir, dass du nicht inzwischen  
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durchgeknallt genug bist, um alle umzubringen?“  
„Ich bin niemand“, sage ich.  
„Jeder ist jemand“, erwidert Er rau. „Jeder! Sogar der dort drüben.“ Mit  
bloßem Finger deutet Er auf einen verloren wirkenden Mann zwischen  
buhlenden Weibern. Die billigste gewinnt den niedersten Preis. Ein seltsamer  
Ton erklingt, während ich mit dem Fingernagel über die Tischkante reibe.  
„Wer bist du?“  
„Wenn wir überleben?“ Ich schnaufe. „Ich.“  
Er verzieht das Gesicht. „Tu nicht so, als wären wir noch irgendwer. Wenn  
alles glatt liefe, wären wir längst Matsch und über uns würde irgendein  
schlechter Baum wuchern.“  
Kein Baum war je schlecht.  
„Walnüsse.“ Naserümpfend schüttelt Er den Kopf. „Hast du das nasse, alte  
Laub schon gerochen? Da willst du kotzen.“  
„Wir sind jemand“, sage ich, „sobald wir es sein dürfen.“  
„Wenn die Liste erledigt ist“, murmelt Er. „Nur dass sich so ein Naturgesetz  
nicht einfach in den Keller verzieht, um zu schmollen.“  
„Ja.“  
„Du arbeitest hieraufhin, oder? Seit immer.“  
„Nicht immer.“  
„Seit wann?“ Man ist sich Ers voller Aufmerksamkeit selten sicher. Um uns  
herum ist es still geworden, während man sich die Mäuler zerreißt. Eine alte  
Hand verschwindet unter einem fadenscheinigen Rock. Ich wende den Blick  
ab. Wollte ich retten, trüge ich einen Kittel.  
„Nicht immer“, wiederhole ich.  
Er öffnet den Mund. Stockt. „Versprich mir, dass du mir alles sagst, wenn die  
Sache durch ist.“  
„Nein.“  
„Warum?“  
Erinnerungen schmecken bitter. Als würde man verkohlte Kräuter kauen,  
schlucken, kauen, schlucken, bis die Geschmacksnerven abgetötet sind und  
die Zunge wund und schlaff im Mund liegt.  
Ich hebe eine Schulter und reibe weiter mit dem Nagel über das Holz.  
Schmale Streifen bleiben zurück. Es bleiben immer schmale Streifen zurück.  
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Sie verschwinden nie. Werden unter Politur verleugnet und brechen unter  
Druck hervor. Finsternis ist primär. Finsternis ist immer da. Ohne Dunkelheit  
wären wir nicht.  
„Ich frag mich halt, was als nächstes kommt“, sagt Er schließlich. „Klar, du bist  
der Letzte, bei dem ich denke, dass man ihn einfach so erledigen kann. Aber  
vielleicht sitzt hier nur wieder eine Furie, die irgendeinen Scheiß mit mir  
abzieht. Ich hab nur meine Augen! Du kannst nicht erwarten, dass das  
gutgeht.“  
„Das tue ich nicht.“  
„Also?“  
„Vertrauen.“  
„Du vertraust nicht einmal deinen Schuhen, aber willst, dass ich mein Leben  
in deine Hände lege?“  
Ich seufze leise. „Hat es dir je geschadet?“  
„Nein“, sagt Er entschieden. „Weißt du auch warum?“ Ich hebe eine Braue.  
„Weil ich mir eher die Beine absäbeln würde, als dir blind zu vertrauen.“  
„Ein Dilemma.“  
„Da sagst du was.“  
Er leert den Krug. Ich will gehen, solange dieser Ort uns noch ausspuckt.  
„Ich will nicht so tun, als hätte diese Gesichtssache da viel dran geändert“,  
murmelt Er. „Ich hätte dir auch vorher mein Leben nicht anvertraut.“  
„Ja.“  
„Ist nichts Neues“, bestätigt Er und nickt langsam. „Das wissen wir beide.“  
„Ja.“  
„Einer der Gründe aus denen ich damals abgehauen bin.“  
„Ja.“  
„Du willst das Gleiche wie damals von mir.“  
„Ja.“  
„Mein Vertrauen.“ Er seufzt schwer. „Zum Schluss bist du echt eine Furie und  
lutschst in zwei Tagen meine Knochen ab.“  
Bitter lächle ich. „Erst in zwei Tagen?“  
„Komm, lass den Druck weg und sei vernünftig.“  
„Gut.“ Ich nicke.  
„Wozu soll ich dir vertrauen?“  
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„Ich bin keine Furie und du auch nicht.“  
„Weil wir richtig riechen“, sagt Er gedehnt. „Nicht etwa wegen des Punktes,  
sondern weil wir richtig riechen. Weil das Mal, das hatte die Kleine ja auch.“  
„Es wird auf die Stirn gezeichnet.“  
„Die Sache mit dem Gesicht“, murmelt Er.  
„Ja“, bestätige ich.  
„Das ist eine verdammt widerliche Angelegenheit.“  
„Ja.“  
Er räuspert sich. „Gib mir einen Anhaltspunkt.“ Seine Fingerspitzen berühren  
einander. „Wann warst du dir ganz sicher mit der Furie? Erst vorhin? Oder  
wurde dir da das Eis zu dünn?“  
„Sie hat falsch gerochen.“  
„Wie gut kanntest du die Kleine bitte?“, ruft Er aus. „Die wurde gesichtslos an  
die vorbeigeschleppt, während du in der Klapse vergammelt bist. Und?“  
„Erinnerungen sind das Tor zum Tod.“  
Schnaufend wendet Er den Blick ab. „Wenn du meinst.“ Er verzieht das  
Gesicht. „Weißt du es denn noch?“  
Meine Muskeln verkrampfen sich. „Ja.“  
„Aber es ist dir zu persönlich.“  
Schweigend begutachte ich die weißen Striemen auf dem dunklen Holz. Sie  
bleiben immer dort. Sie bleiben immer. Sie gehen nicht mehr fort. Erst wenn  
nachgeschliffen wird, verschwinden sie. Ein neues Gesicht für einen alten  
Tisch.  
„Nur geknutscht oder mehr?“, fragt Er mich aus dem Nichts.  
„Nichts davon.“  
„Also Leidensbrüder oder was?“  
Der Schmerz fühlt sich sinnvoll an, wenn man ihn nicht für sich erträgt. Die  
Furcht klopft an die Tür. Brennende Schmerzen ziehen sich durch meinen  
Schädel, spinnen Fäden und knüpfen sie zusammen. Angst ist dort, wo Angst  
ist. Direkt in uns. Dort bleibt sie, macht ihre Fäden und jagt sie uns durchs  
Fleisch. Bis wir nicht mehr übrig sind.  
„Gut, dann halt nicht“, murmelt Er. „Ich würde mich gern unterhalten, aber  
du bist so taub wie ich geruchsblind.“  
„Ja.“  
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„Du bist beschissen, Alex. Du bist richtig beschissen. Du bist ein mieser  
Freund, du bist ein verkorkstes Arschloch und anstatt was gegen die Bösen zu  
machen, vertuschst du ihr Zeug.“  
„Nein.“  
„Natürlich!“  
„Für Menschenaugen“, räume ich ein.  
„Also die Dinger, auf die ich nicht mehr vertrauen soll“, sagt Er trocken.  
„Ja.“  
Mit dem Finger deutet er auf mich. „Ich sag dir eines“, Er lehnt sich nah zu  
mir, „wenn sich eines Tages eine Furie mein Gesicht aufsetzt und du  
irgendwann in die Hölle kommst, ich schwöre dir, du würdest dir wünschen,  
nie existiert zu haben.“ Schweigend biete ich ihm meine Hand an. Er schlägt  
ein. „Sag mir, was ich zu tun habe. Ich bin zu jeder Schandtat bereit.“  
Mein Puls rast. Ich atme ein und bekomme keine Luft. Der Kopf ist dumpf.  
„Warten“, beschließe ich.  
Ers Brauen schießen in die Höhe. „Du willst den Kerl mit der Knarre auf die  
Ersatzbank schicken? Schiri, die wichtigsten Stellen im Mafiafilm hast du  
verpasst.“  
„Wir suchen keinen Mord“, sage ich.  
„Sondern?“ Er schnauft schwer. „Du willst, dass sie zu uns kommen, oder?  
Wir sind im Vorteil, wir mühen uns nicht ab. Es ist alles fein, was?“  
„Ungefähr.“  
„Sie kommen zu uns“, murmelt Er. „Ich soll dasitzen und warten, dass sie mir  
die Fresse von meinem Schädel reißen. Eine Hölle ist das.“  
„Unsere Hölle.“  
Ers Feixen geht mir durch Mark und Bein. „So ist das halt“, sagt er und stützt  
sich geräuschvoll auf dem Tisch ab. „Für die besten Listenplätze zahlt man  
halt.“  
„Für die besten Plätze zahlt man“, murmle ich. „Selbst im Tod.“  
Er lacht schallend auf. „Du sagst es! Du sagst es ja.“  
„Ich lebe.“  
„Ich nicht.“ Er steht auf. „Ich würde ja sagen, das ist ein Problem, aber im  
Moment“, achselzuckend wischt er den Krug gegen die vertäfelte Wand,  
22  
„gefällt mir der Mangel an Adrenalin ganz gut.“  
Ich betrachte Er eingehend. „Du stinkst nach Angst.“  
Leise gluckst er. „Das bin nicht ich“, murmelt Er. „Das ist das Schätzchen da.“  
Mit dem Kinn deutet er auf eine dürre Frau mit leerem Blick, starr an einem  
fettigen Mann lehnend.  
„Wir sollten gehen“, sage ich.  
„Wollt ja nur sagen.“ Er hebt die Schultern. „Wir sind nicht die einzigen  
Jammerlappen mit Problem.“  
Unsere sind ähnlich zäh. Sie genießt einen Luxus, den ich nicht habe: Sie darf  
kapitulieren. Um den selbstgewählten, absehbaren Preis, den sie in ihrer  
Schwäche zu zahlen bereit ist.  
„Du willst warten“, wiederholt Er, während wir uns durch die Menge  
drängen.  
„In zwei Stunden laufen die Nachrichten.“  
„Nachrichten“, spottet Er. „Nachrichten sind wichtig.“  
Kurz verharre ich zwischen kaltschweißigen Leibern, die über meinen Kopf  
hinweggrölen und sich an mich werfen wie die gleichgültige See.  
„Nachrichten sind wichtig“, wiederhole ich Ers Worte und sehe ihn an. Lange.  
Lang genug.  
Bis der Groschen fällt.  
Ers Wohnung ist beengt. Ein Raum, ein Bad, eine winzige Küche. Alte Wäsche.  
Ich rieche sie. „Hier schläfst du?“, vergewissere ich mich.  
Er gibt einen zustimmenden Laut von sich. „Kein Plätzchen, um eine  
mitzunehmen. Ich penne wahrscheinlich häufiger in Hotels.“  
„Tust du nicht.“  
Er klatscht in die Hände. „Du hast mich ertappt. Tue ich nicht. Mich will keine  
Kleine mehr haben.“ Mit dem Nagel seines Ringfingers fährt Er sich über die  
spitzen Zähne. „Als Bulle treibt man sich halt in den falschen Gegenden rum.  
Ist beschissen.“  
„Ja.“  
„Du könntest wahrscheinlich jede haben, die grad durch die Gosse kriecht. Da  
verbringst du eh deine Zeit.“  
23  
„Ja.“  
„In der Gosse“, murmelt Er. „Wie die Zeiten sich geändert haben. Heute hast  
du ein Haus und ich das hier und du bist der Spinner mit dem Wischlappen  
und ich der Psychopath mit der Marke.“  
„Nichts hat sich geändert“, sage ich. Gestank. Altes, abgestandenes Wasser.  
Bittere Luft. Ich sehe dem Schimmel beim Wuchern zu. Schwarze Stellen  
ziehen sich bis unter die Decke und setzen Sporen frei, die sich direkt in die  
verkommene Lunge pflanzen.  
„Ich hatte überlegt, auszuziehen“, erwidert Er. „Das hier ist widerlich. Seh ich  
selbst.“  
„Warum bleibst du?“  
Schallend lacht Er auf und öffnet die gelbliche Tür des kleinen Kühlschranks.  
Er ist mit Spirituosen gefüllt, von denen Er eine auswählt, öffnet und die  
Flasche an die Lippen führt. Alkohol ist sein Wegbegleiter. Wenn einem nichts  
mehr bleibt, bleibt der Trug des Gifts, das gemacht wurde, die Sinne zu  
betören.  
„Mach dir nichts vor, Alex. Hier kommt nicht einmal ein Otstupnik her. Hier  
kann ich einfach sitzen und schlafen.“  
„Kein Irrlicht“, murmle ich.  
Er zuckt die Achseln. „Genau. Wenn du mal eine Nacht durchschlafen willst,  
schmeiß dich auf die alte Matratze und inhaliere diesen Duft von Dreck.“  
„Du wäschst nicht.“  
„Ich wasche“, sagt Er entschieden. „Die Waschmaschine hat sich nur in den  
Kopf gesetzt, direkt das gesamte Stockwerk zu schwämmen.“  
„Oh.“  
„Ich brauch keine Neue.“ Kopfschüttelnd leert Er die Glasflasche. „Dann  
würde der Schimmel zum Schluss noch weniger werden.“  
„Ja.“  
„Schimmel ist beschissen“, murmelt Er. „Aber wenn du diese ganzen  
Listenjäger von dir fernhalten willst, dann züchte ihn, bis du vergisst, wie du  
heißt.“  
Ich widerstehe dem Drang, den Raum zu verlassen und unter dem fleckigen  
Vordach des heruntergekommenen Gebäudes abgestandene Stadtluft zu  
inhalieren.  
24  
„Sieh mich nicht so an! Wenn du willst, geh ruhig zu dir zurück. Die Furie  
wartet schon auf dich.“  
„Nein.“  
„Dann bleib halt“, murmelt Er. „Ich wäre auch lieber woanders.“  
„Sie wartet nicht“, sage ich.  
Schnaufend verschränkt Er die Arme vor der Brust, die Flasche umklammernd  
als hinge sein Leben davon ab. „Klar wartet sie. Jetzt hat die dich gefunden,  
jetzt will sie dich auch fressen.“  
„Sie hat ihr Gesicht verloren.“  
„Und? Dann holt sie sich halt ein Neues. Und?“  
Kein Gesicht war für die Furien kostbar wie dieses. Der Vorstand kümmert  
mich nicht, die alte Hexe zieht ihre eigenen Kreise. Kein Gesicht hätte mich zu  
Fall bringen können. Kein anderes. Ich lecke mir über die Lippen und bilde mir  
ein, das Gift zu inhalieren.  
„Angst, dass das nächste dich noch mehr von den Socken haut?“, fragt Er  
mich unvermittelt. „Vielleicht haben sie ja deine Kindheitsfreunde gehäutet  
und in einem kranken Kostümverleih aufbewahrt.“  
„Keine Listenmitglieder.“  
„Schön, dass man nur uns die Ehre gibt.“ Er seufzt schwer. „Du sagst mir  
genau so viel, wie jeder Penner wissen darf. Das ist das Problem hier.  
Deswegen hocken wir in dieser Scheißbude und saufen Schnaps.“  
„Du trinkst Schnaps.“  
„Ja. Du siehst aus wie ein zweitklassiger Zombie.“  
Die Müdigkeit ist nagend. Ich verleugne sie und trete an das beschlagene  
Fenster heran. Die Umrisse von Regentropfen kleben auf zartem Staub, legen  
Schicht über Schicht, bis kaum mehr die Straßenbeleuchtung zu uns  
hinaufdringt. Knisternd brennt die Glühbirne über mir. Den Lärm der Stadt  
dämpft die Mauer kaum. Ich stehe in einer beschlagenen Blase über dem  
Geschehen und warte darauf, dass sie platzt.  
„Lass uns einfach saufen“, sagt Er. „Komm, wir sitzen hier fest! Dann lass uns  
Spaß haben.“  
Die Schatten. Die Schatten fürchten den Schimmel nicht. Rote Reflektionen in  
Finsternis. Türkise Lichtideen in der Dunkelheit. Ideen. Nur Ideen. Eine Farce.  
Eine verfluchte Farce.  
25  
Mein Nacken prickelt. Der Geruch von Rosen liegt in der Luft. Rosen und  
Schwefel. Eine Furie hält nichts fern außer ihre eigene Furcht.  
Furien fürchten sich nicht.  
Ich starre nach draußen.  
„Die kommen hier eh nicht her, also lass uns trinken, bis dir was Gescheites  
einfällt.“  
Ich umklammere die Klinge in meiner Jackentasche. Ein Ungleichgewicht der  
Kräfte. Willst du wissen, komm zu mir. Willst du hören, betrachte mich  
genauer. Ich warte auf dich. Ich warte auf dich.  
Die Rosen entfernen sich. Die Finsternis bleibt.  
„Wann kommen deine Nachrichten?“  
Lucia. Ich werfe ihnen den Namen zum Fraß vor. Lucia. Das dunkle Haar  
wirbelte in einem schwachen Luftzug, während man den Körper rasch trug.  
Die Augen waren fort. Die Lippen auch. Der Geruch durch eine Ahnung von  
Tod ersetzt. Die Leiche war älter als der Fauxpas. Die Leiche kam zuerst. Dann  
vergrub man sie. Dann barg man sie. Dann riss man ihr das Gesicht vom  
Schädel. Dann ließ man die Leiche finden.  
Dann war ich dort.  
Rosen. Schwefel.  
„Ich schau keine Nachrichten! Sprich doch wenigstens mit mir.“  
Rosen und Schwefel. Beides haftete an ihr wie eine zweite Haut. Den Körper  
bildet man mit zwei raschen Handgriffen nach. Das Gesicht ist einzigartig.  
„Alex, ich schwör dir, ich ramm dir die leere Flasche in den Hals.“  
Kommt schon. Kommt schon.  
Wir sind allein. Die Welt wirkt farblos von hier. Ich lasse das Messer los. Das  
Prickeln verkriecht sich im hintersten Winkel meines Wesens. Ich schmecke  
Blut. Langsam löse ich die Zähne von der Innenseite meiner Wange und  
wische mir mit der Faust über die Lippen. Rote Striemen. Die Striemen  
bleiben immer. Sie bleiben bis zum Schluss. Sie bleiben immer.  
„Um zehn.“  
Er reißt die Arme in die Luft. „Das ist noch ewig hin. Sag mal, wem machst du  
hier was vor?“  
Das harsche Hupen klingt schriller. Motoren spucken grauen Qualm aus, der  
sich langsam über die Straßen wälzt. Ein Gummi will sich lösen und die  
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knisternden Erinnerungen in mein Bewusstsein entladen. Dehnbares Material  
wird mit statischem umschlossen. Zum Schluss bleibt die Angst.  
Sie bleibt immer.  
Ich schmecke Blut. Als ich Ers Wasserhahn öffne, quält sich eine braune  
Flüssigkeit durch die Leitung.  
„Hier wird Alk getrunken“, sagt Er. „Mach dir nichts draus.“  
Ich nehme die Flasche nicht an. Alkohol dehydriert. Ich verspüre Durst. Er  
kommt aus meinem Mark und dehnt sich durch meinen Körper aus.  
„Du bist doch deppert“, murmelt Er.  
„Von Zeit zu Zeit.“  
„Viel im Kopf und nichts dahinter.“  
„Ja.“  
Er räuspert sich. „Du stinkst nach Rosen.“  
„Nicht ich.“  
„Na, ich bin es bestimmt nicht.“  
„Sie kehren zurück“, sage ich. „Später.“  
Langsam verzieht er das Gesicht. „Wer? Deine Menschlichkeit?“  
„Die Furien.“  
„Die kommen hier nicht rein“, wiederholt Er. „Niemand vergiftet sich  
freiwillig selbst, der ein bisschen Hirn hinter der Schale hat.“  
„Ja.“  
Er räuspert sich. „Ich sag dir, wenn es hart auf hart kommt, dann vertraue ich  
dir nicht blind. Dann bring ich dich einfach um.“  
„Ja.“  
„Nicht überrascht?“  
„Nein.“  
„Warum wusste ich das nur.“  
„Warum nur“, murmle ich. „Warum nur.“  
„Hör mit dem Geplapper auf.“ Er trinkt Schnaps als wäre es Wasser. „Was  
willst du?“  
„Die Nachrichten.“  
„Es ist noch nicht um zehn.“  
„Ja.“  
„Also willst du warten, bis was passiert?“  
27  
Das Mobiltelephon vibriert in meiner Hosentasche. Wenn ich es herausziehe,  
wird es keine Nachrichten anzeigen.  
„Ich besauf mich, bevor ich hier rumhocke und nichts tue“, murmelt Er.  
„Bringt doch alles nichts. Ist doch alles ein beschissener Scheiß.“  
„Ja.“  
„Wir hocken seit Jahren rum und heute machen wir es weiter, obwohl einer  
Furie vor unseren Augen das Gesicht abgefallen ist.“  
„Ja.“  
„Weil du das sagst.“  
„Ja.“  
„Man, ich bin der erbärmlichste Todeswächter, der je durch diese Welt  
getrieben wurde.“  
Seufzend löse ich den Blick von der Straße. Monotones Treiben. Menschen  
sind leere Hülsen fremder Willen. Man zieht ihnen das Gesicht nicht ab, weil  
sie alle das Gleiche haben. Sie sind Hampelmänner ihrer hohlen Ideen,  
während sie den Pflichten nachjagen. Brechen sie aus, pfercht man sie ein.  
Menschen das Gesicht zu stehlen, wäre vergeudete Zeit, verlorene Kraft.  
Zappelnde Marionetten in Fleisch gepackt.  
„Was erwartest du?“, frage ich Er.  
Lachend legt er den Kopf in den Nacken. Vor meinen Augen scheinen Sporen  
zu regnen. „Dass endlich was passiert! Dass wir aufhören, uns zu verkriechen.  
Das haben wir das letzte Mal getan. Wir tun es wieder. Inzwischen sind wir in  
der Unterzahl. Wir haben nichts gekonnt. Die Liste wird uns umbringen und  
dann werden wir ja sehen, wo wir als nächstes krachen gehen.“  
„Wie oft“, sage ich.  
„Wie oft?“ Ers Stimme klingt schrill. „Niemanden interessiert das ‚wie oft‘. Es  
wird schmerzhaft und beschissen und wir hätten uns direkt an Hades‘ Thron  
aufhängen sollen. Stattdessen“, keuchend schüttelt er den Kopf, „sind wir  
durch einen dieser Flüsse geschwommen, haben diesen Jammer überlebt,  
haben alles aufgegeben, was uns irgendwie menschlich macht, und werden  
trotzdem einfach in den Staub getreten. Wozu? Womit haben wir den Scheiß  
verdient?“  
„Das Verdienen spielt keine Rolle.“  
„Es spielt jede Rolle“, brüllt Er mich an. Die plötzliche Heftigkeit seiner  
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Reaktion treibt mich zurück zum Fenster. Beschlagen. Dreckig. Hoffnungslos.  
„Ich bin durch die Hölle gegangen, jeden beschissenen Tag meines Lebens.  
Ich bin der Freak mit den vierzig Zähnen und ohne Haare, der nichts riechen  
und schmecken kann und der nur Dank moderner Scheißtechnik überhaupt  
einen Ton hört, weil die Organe, die Organe sind genau so gestorben, wie sie  
hätten sterben sollen. Die haben nicht auf die Uhr gewartet! Die haben sich  
einfach verpisst.“  
„Zeit hilft.“  
„Die Zeit lacht uns ins Gesicht!“ Ers hysterisches Lachen haucht die Überreste  
seines gesunden Verstandes aus. „Wir werden gefoltert. Wir werden mit  
dieser Idee gefoltert, dass wir gut zurückgezahlt bekommen, was wir tun.  
Aber wir bekommen einen Scheiß! Wir werden gejagt, wir werden zerfetzt,  
wir werden einfach erledigt und wozu? Wozu lass ich das mit mir machen?  
Damit man mir das Gesicht abzieht?“  
Lass es gehen.  
Ich rolle leicht den Kopf. Gehen lassen. Die Striemen bleiben. Ich spucke  
diesen Gedanken aus, als ich mich an die schwarze Wand lehne. „Zeit hilft“,  
wiederhole ich.  
„Die Zeit“, zischt Er, „macht uns kaputt.“  
„Und nun?“  
„Wir müssen etwas tun!“, brüllt er. „Vielleicht haben wir wieder ein paar  
Jahrzehnte unsere Ruhe, aber wozu?“  
Die Schatten zittern und zucken. Verlorene Seelen. Verdammte Ideen.  
Verhöhnte Hoffnungen. Ich sitze hier und warte. Ich warte auf den Knall. Er  
Grollt am Horizont, er wälzt sich über die Felder, ich spüre ihn auf meiner  
Haut, aber konnte ihn nicht hören. Noch nicht. Keinen Moment lang.  
„Ich werde hier nicht bleiben“, sagt Er und sieht mich eisig an. Seine Miene ist  
starr, als mache er sich bereit, selbstständig aus seiner Hülle zu schlüpfen.  
„Ich werde mich nicht wieder verpissen. Und weißt du auch warum?“ Die  
Antwort liegt ihm auf der Zunge. „Es bringt nichts!“  
„Ja.“  
„Warum also“, er lacht hysterisch auf, „warten? Wozu?“  
„Sie kommen zu uns.“  
„Sie kommen nirgendwohin!“  
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„Was würdest du tun?“  
„Ich?“ Für einen erschütternden Moment ist Er still. Seine Finger kratzen über  
den Hals der Flasche. „Ich würde da runtergehen“, sagt er rau. „Ich würde da  
runtergehen und sie alle erledigen. Einen nach dem anderen. Ich würde ihnen  
allen zeigen, was sie zu erwarten haben. Ich würde ihnen allen zeigen, dass  
die nicht mit mir rumspringen können, als wäre ich ein bisschen organischer  
Abfall, der die Klappe aufreißt!“  
„Dann gehen wir“, sage ich. „Nach den Nachrichten.“  
Stille ist der Beginn der Lähmung. Stille setzt dort an, wo Lärm versagt. Sie ist  
ein schmieriger Wurm, der sich den Weg durch die Blutbahnen frisst.  
„Deine beschissenen Nachrichten“, murmelt Er. „Ich bekomm das Kotzen,  
wenn ich das schon höre.“  
„Ja.“  
„Ich versteh es“, sagt Er unvermittelt. „Klar, ich versteh, warum du auf die  
schwörst, aber ich finde es lächerlich.“  
„Ja.“  
„Lies dir doch die Schlagzeilen durch!“  
„Tue ich.“  
„Und?“  
„Um zehn kommen die Nachrichten.“  
„Um sieben auch.“  
„Die Nachrichten“, wiederhole ich.  
„Oder um zwölf“, fährt Er fort.  
Ich erinnere mich an Frustration und verleugne sie. „Die Nachrichten“, sage  
ich langsam.  
„Kapier ich schon!“, ruft Er aus. „Aber dann nimm doch einmal andere. Ist  
doch egal. Dieses eine Mal kümmert es keinen.“  
„Ein Mal ist jedes Mal.“  
Ers Blicke sind mörderisch irrsinnig wie die Schatten. „Vielleicht in deiner  
verkorksten Welt. Bei jedem anderen, da ist das nicht so. Bei jemanden  
anderen siegt die Vernunft. Kapierst du?“  
„Ja.“  
„Gut.“ Er reibt sich mit der Handfläche über das Kinn. „Wir sind erledigt,  
wenn wir da runtergehen“, sagt Er schließlich. „Das weißt du.“  
30  
„Ja.“  
„Warum dann so wild drauf?“  
„Weil du es willst.“  
Er lächelt bitter. „Ist das dieses blinde Vertrauen, von dem alle sprechen?“  
„Ja.“ Ich räuspere mich. „Eine Hand wäscht die andere.“  
Seine Blicke sind düster. Nachdenklich. „Ungewöhnlich, dass du damit  
anfängst.“  
„Ja.“  
„Du brauchst mich.“  
Manche Dinge scheue ich einzugestehen. „Ja.“  
„Dringend.“  
Schweigend betrachte ich Er. Es sind zwei übrig. Er und ich. Drei Furien,  
zahllose Ubiytsen, zahllose Irrlichter und Otstupniken. Eine Liste, die ihr  
Dynamit selbst gelegt und mit Wasser übergossen hat.  
„Nachrichten“, sagt er, „Hölle. Zwischendurch pennst du, sonst klappst du  
mir dort weg.“  
Schlaf zwischen Schimmel und Schatten.  
„Ich bleib schon wach“, murmelt Er bei meinem prüfenden Blick. „Mach dir  
mal nicht ins Hemd. Ich bleib wach und warte darauf, dass du aufhörst, Panik  
zu schieben.“  
„Es ist keine Panik.“  
„Klar. Du fühlst ja eh nichts.“ Ers Augenrollen verhöhnt große Teile meiner  
Existenz. „Du bist ja so verdammt emotionslos, dass man vor dir deine  
gesamte Familie aufschlitzen könnte und es würde dich nicht kümmern.“  
„Ich würde sie selbst abschlachten.“  
„Wenn ich mich nicht ganz irre, hast du genau das getan.“  
„Ja.“  
Er lacht heiser und nimmt einen tiefen Schluck aus seiner Flasche. „Dass von  
allen Freaks ausgerechnet du das Morden aufgegeben hast. Kann ich immer  
noch nicht glauben.“  
„Es gibt mir nichts.“  
„Natürlich nicht“, murmelt Er. „Diese Macht, dieses Hochgefühl, natürlich  
völlig egal.“  
„Ich fühle nicht“, erinnere ich Er.  
31  
„Jeder fühlt“, erwidert er harsch. „Jeder! Auch du. Du gestehst es dir  
vielleicht nicht ein, aber selbst der größte Soziopath hat irgendwo da drin“, Er  
deutet auf mein Brustbein, ohne mich zu berühren, „ein Herz. Und wenn er  
es noch sehr verleugnet und es noch so sehr ignoriert, spätestens, wenn er  
jemandem die Kehle aufschlitzt, dann spürt er es. Er spürt, dass er fühlen  
kann. Alles ist großartig. Alles ist mächtig und alles ist einfach nur genial.“  
„Nein“, sage ich.  
„Doch“, zischt Er. „Bei dir war es genauso. Bei dir war es ganz genauso! Jetzt  
schrubbst du den Dreck der alten Penner weg.“  
„Nein.“  
„Doch!“  
Die Striemen bleiben. Sie bleiben immer. Selbst wenn sie verschwinden, sind  
sie noch da. Sie verschwinden nicht.  
„Seit wann nicht mehr?“, spuckt Er. Seine Bewegungen werden  
desorientierter. Viel Alkohol in kurzer Zeit? Ein kurzer Segen. „Hast du die  
falsche Person abgestochen?“  
„Ja.“  
Sein Lachen geht mir durch Mark und Bein. Hämisch und schrill, irrsinnig und  
verzweifelt. „Wen, verdammt?“  
Meine Lippen sind taub. Augen gelb wie die eines Irrlichts. Aber sie ist nie  
eines gewesen. Parfum, süß, als wäre es billig. Aber sie hat es nie getragen.  
„Das ist unwichtig.“ Ich setze mich auf die Matratze. Die Federn drücken  
gegen meine Muskulatur.  
„Ich sag dir, wen du abgeschlachtet hast“, sagt Er. „Du hast die Kleine  
umgebracht, damit man ihr Gesicht nicht holt. Aber es hat nichts gebracht,  
was? Es hat einen Scheißdreck gebracht und jetzt sitzt du hier und starrst ins  
Nichts, weil du Recht hattest und es dir nicht gefällt.“  
Die Decke ist fleckig. Sie riecht nach altem Wasser und saurem Schweiß.  
„Als ich dich kennenlernte, da hast du nichts empfunden. Gar nichts! Du  
warst ein bedröppelter Köter vor meiner Tür. Du hast kaum gesprochen, du  
hast nicht gegessen, nicht getrunken. Das war nach deinem  
Klapsenaufenthalt und in dieser Klapse, da ist die Kleine verreckt, was?“  
32  
Nichts, was die Furien nicht längst wüssten. Als sie das Gesicht raubten,  
entrissen sie Erinnerungen. Kalkül und Ignoranz. Ihre Schwerter sind es und  
meine auch.  
„Ich nehme dir ab, dass dir die meiste Zeit über alles scheißegal war“, sagt Er.  
„Ich glaube dir das. Ich denke aber vor allem, dass diese Schatten dich besser  
kontrollieren als du sie. Ich weiß das. Ich sehe dich ja.“  
Sie lauern überall.  
„Aber nichts schlägt einem so auf die Laune wie eine tote Frau, die man  
eigentlich lieber lebendig bei sich hätte.“  
„Lucia hat mich in die Nervenheilanstalt gebracht.“  
„Eine Irre nimmt den Irren an die Hand, damit sie nicht mehr allein irr sein  
müssen!“ Ers Hohn ist fehl am Platz. „Wie schön.“  
„Blut bereitet Wege.“  
„Das tut es.“ Langsam nickt er und lässt die leere Flasche achtlos fallen. „Das  
tut es immer. Wie gut der Weg ist, das ist eine andere Frage, aber wo Blut ist,  
da geht es los.“  
„Es war der Falsche“, sage ich schlicht.  
„Was?“ Er lacht schallend auf. „Wurde die Welt etwa nicht schön, während  
man dir das Hirn geschmort und die Schädeldecke aufgeschnitten hat?  
Wolltest du dich an der Kleinen rächen?“  
„Ja.“  
„Ich glaub dir kein Wort.“  
Was die Furien wissen und was nicht, das ist ihnen überlassen. Sie tat es wie  
ich. Sie wusste, was sie wissen musste. Für diesen exakten Moment. Keine  
Silbe mehr. Weil jedes weitere Wort den Furien in die Krallen gespielt hätte.  
Sie stoßen mich zwischen Himmel und Hölle hin und her, als hätte Lucia das  
Gute und der Teufel das Böse beansprucht. Dabei sind beide aus dem  
gleichen Holz wie ich geschnitzt.  
„Wäre die Welt gerecht“, sagt Er leise, „dann wären wir zu fünft, würden zu  
fünft die letzten Pläne schmieden und uns zu fünft in die Sache stürzen. Wir  
würden gewinnen!“  
„Wir sind drei.“  
„Zwei!“, ruft Er aus. „Wenn du kein großes Ass im Ärmel hast, dann sind wir  
Zwei.“  
33  
„Die Hexe hat eine Kladde verfasst.“  
„Und? Jetzt?“  
Ich sehe Er lange an. Warte darauf, dass er begreift, warum ich meine Seele  
an dünnes Papier verkaufe und keine Silbe mit Tinte darauf banne. Ich warte,  
bis er versteht, und als er es tut, verpufft die Anspannung im Nichts.  
„Kann ja direkt eine aus der Hölle mitgehen lassen“, sagt Er.  
„Womöglich.“  
„Wäre beschissen.“  
„Ja.“  
„Richtig bescheuert.“  
„Ja.“  
„Muss aber wohl.“  
„Ja.“  
„Seelen sind eh Ballast. Irgendwie so.“  
Ich räuspere mich und versuche, die Gegenwart der Schatten zu ignorieren.  
Kriechend, krauchend hangeln sie sich um diese Matratze herum und suchen  
den Winkel, in dem sie mich am effektivsten angreifen können.  
„Ich verpack mich also irgendwo anders, dann hol ich mir mein Gesicht  
zurück und werde die zweite schräge Hexe.“  
„Im Extremfall.“  
„Besser so als nichts“, murmelt Er. „Wir haben ja eh einen Scheißdreck zu  
verlieren.“  
„Ja.“  
„Gar nichts“, sagt Er. „Wir haben gar nichts zu verlieren.“  
Meine Glieder füllen sich mit Stahl, während ich meine Vitalfunktionen  
beruhige. „Die Nachrichten“, erinnere ich Er.  
Aus dem Augenwinkel erkenne ich sein abfälliges Lächeln. „Klar. Ich weck  
dich, sobald das Gebimmel anfängt.“  
„Danke.“  
„Dann die Hölle“, sagt Er. Sein tiefes, kehliges Lachen scheint selbst die  
Schatten auf Abstand zu halten. „Ich kann es nicht erwarten.“  
Das Furchtbarste ist nur eine Entscheidung entfernt.  
Ich wälze mich auf die Seite und starre an die Wand. Als die Lider sich senken,  
brennen sich helle Striemen in meinen Geist. Ich begutachte sie, betrachte  
34  
sie genau, und nehme jedes Detail in mich auf. Jede Sekunde, jeden Moment,  
jede Schwäche und jeden Atemzug. Striemen bleiben. Sie bleiben für immer.  
Bis in die letzte Ewigkeit.  
Ein dumpfer Schmerz quält sich durch meinen Brustkorb. Ich debattiere mit  
mir. Ich verabscheue mich. Ich verhöhne mich.  
Als ich in meine Jackentasche greife, zittert meine Hand. Als ich die Narbe  
öffne, rieche ich Blut.  
Er kommentiert den raschen Schnitt nicht, ignoriert den verrotteten Flügel  
und betätigt den Knopf an seinem Fernsehgerät.  
Unter das Rauschen der Straße mischt sich das Knistern der Glühbirne und  
das Knacken von fremden, schlecht übermittelten Stimmen.  
Ich warte darauf, dass das Zucken meiner Muskeln abebbt und die Spannung  
neben meinem Herzen nachlässt. Ich warte darauf, dass ich mich entspannen  
kann und in das Reich der Träume hinübergleite.  
Es bleibt nichts übrig. Es ist nie etwas geblieben.  
Hier stinkt es nach Schwefel und Qualm. Nach Rosen.  
Die Klauen der Furien wiegen mich in den Schlaf. Ein Gesicht für eine Seele  
und eine Seele für ein Gesicht. Wer Entscheidungen fällt, muss zu ihnen  
stehen.  
Konsequenz zückte stets die Klinge, um mich zu erdolchen.  
Ich liege und warte. Ich warte und liege und während ich liege und warte,  
beginnen meine Sinne zu tanzen, zu wirren, sich zu verirren. Ich schmecke  
Blut und löse die Zähne von der Innenseite meiner Wange.  
Stimmen plärren. Er lacht heiser auf. Schatten tanzen.  
Ich liege und warte. Mir ist kalt.  
Mir ist kalt und ich habe Durst.  
Die Melodie weckt mich, ehe Er aufstehen kann.  
„Nachrichten“, sagt er blechern, als ich mich aufsetze und den Blick auf das  
flackernde Bild des Gerätes richte.  
„Ja.“  
„Was erwartest du zu sehen?“  
Ich antworte nicht. Höre nur zu. Nehme Bilder in mich auf und Geräusche.  
Lausche auf jede Silbe und jeden Ton, während Millionen Menschen das  
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gleiche Programm wie ich verfolgen. Das neuerworbene Wissen wird  
kategorisiert und konzentriert.  
„Bist du jetzt klüger?“, fragt Er mich nach der Abmoderation.  
„Bis zu einem bestimmten Grad.“  
„Also nicht.“  
Ich stehe auf und strecke den Rücken durch. Als ich den Wasserhahn öffne,  
drängen sich neue Liter der braunen Flüssigkeit durch das Rohr, bis sie  
aufklart und den metallischen Geruch verliert.  
„Ja, treib meine Rechnung ruhig hoch“, murmelt Er. „Wahrscheinlich bin ich  
eh bald seelenlos und tot. Wen interessiert dann noch meine  
Wasserrechnung?“  
Ich drehe mich halb zu dem beschlagenen Fenster hin. Vor dem schwarzen  
Tuch der Nacht erkenne ich schemenhaft meinen eigenen Umriss.  
Pechschwarze Federn. Es sind mehr geworden.  
„Bind ihn dir doch einfach am Körper fest“, sagt Er trocken. „Sieht eh keiner.“  
Ich rolle die Schultern und greife nach dem Mobiltelephon. Eine neue  
Nachricht. Sie ist mehrere Stunden alt. Koordinatoren und Uhrzeit. Mein  
Daumen beginnt zu zittern.  
Der Vorstand ist tot und auf mich wartet ein Auftrag. Ich sehe die Falle und  
springe mit ausgebreiteten Armen hinein.  
„Was ist das?“, fragt Er desinteressiert.  
„Ein Mobiltelephon.“  
„Ich meine, wer dir geschrieben hat.“  
„Der Vorstand.“  
Er setzt sich aufrecht hin in dem abgenutzten Stuhl. „Ist der nicht tot?“  
„Ja.“  
„Also gehst du da hin.“  
„Ja.“  
„Bist du völlig irre?“  
„Nein.“  
Augenrollend verschränkt Er die Arme vor der Brust. „Klar. Wir bleiben also  
hier und es ist scheißegal, was als nächstes wird.“  
„Nein.“  
„Sondern?“  
36  
„Ich gehe zu meiner Zeit.“ Matt hebe ich meine Mundwinkel. Ein müdes  
Lächeln. „Wir sollten uns beeilen.“  
Er schnauft. „Du meinst, solange noch Nacht ist und wir noch mehr Probleme  
bekommen als ohnehin schon?“  
„In zehn Minuten erwartet man mich einige hundert Kilometer von hier  
entfernt?“  
„Also?“  
„Der Vorstand ist tot und Sie ist es auch. Beiden wurde das Gesicht  
gestohlen.“  
Er greift nach der Jacke, die in sich zusammengesunken über der Lehne hing.  
„Leeres Haus also!“  
„Sozusagen.“  
„Krasse Nummer.“  
„Könnte man meinen.“  
Ers Kichern geht mir durch Mark und Bein. Einige Tropfen des billigen  
Alkohols kippt er sich auf die Fingerspitzen und fährt sich damit durch das  
Haar. Spiritus brennt besser. „Dann würde ich sagen, beeilen wir uns.“ Er  
greift nach meiner Hand. Eine alte Bitterness zieht sich durch meinen Körper.  
Der Flügel steht hervor wie eine Lanze, die man mir durch den Leib gejagt  
hat. Gepfählt von himmlischen Fügungen, die in den finstersten Tiefen der  
Hölle gesponnen wurden.  
„Komm, bring uns da runter, alter Junge.“  
Ich rieche Rosen und Schwefel. Pech und Hölle. Meine Nerven dehnen sich,  
bereit zu reißen. Die Schatten wirbeln, als hätte ich sie gerufen, und feixen,  
als wartete die Hexe nur darauf, dass ich auf sie zugehe. Diesen Schritt tue,  
den der vernünftige Mensch fürchtet.  
Ich bin eine Idee meines Ursprungs.  
Tristheit wird durch verlorene Gefilde ersetzt. Der Lärm der Straßen weicht  
dem Zischeln fremder Stimmen. Kaltes Wissen sinkt in Mark und Bein, bereit  
die Seele zu lähmen.  
Langsam rolle ich den Kopf und inhaliere die toxische, staubige Luft. Kein  
Himmel, keine Sterne, kein Mond.  
Kein Licht.  
37  
„Scheiße ist das dunkel“, murmelt Er. „Hast du uns direkt ins Nichts  
katapultiert oder was soll das?“  
„Die Hölle.“  
„Nicht meine Hölle“, sagt Er im Brustton der Überzeugung.  
„Meine Hölle.“ Das Jammern von hunderttausenden Seelen hallt durch die  
fadenscheinigen Schatten. Sie fungieren als Leitung, als Trichter, als Kanal,  
der langsam seine Arme ausstreckt und mich an sich zieht. Bereit, mich zu  
zertrümmern.  
„Verdammt laut hier“, sagt Er. Ich wage es nicht, mich zu rühren. Wasser  
umspielt meine Beine und gehe ich in die falsche Richtung, werde ich in ihm  
versinken. Der Fluss fordert seinen Tribut. Einmal seinen Krallen entflohen,  
fällt man ihm das nächste Mal zu Füßen.  
„Ja.“  
„Mir sprengt sich der Schädel weg.“  
Leises Plätschern.  
„Nicht“, sage ich.  
„Was?“ Er lacht heiser und ich glaube zu hören, wie die Angst ihm die Kehle  
zuschnürt. „Fall ich hier sonst in ein Loch oder was?“  
„Nein.“  
„Dann können wir gehen.“  
„In den Fluss.“  
„Wie?“ Sein tiefer Atemzug erinnert mich an das Rauschen des zornigen  
Meeres. „Du hast uns in einen verfluchten Höllenfluss reinteleportiert?“  
„Er hat sich eingebrannt.“  
„Konntest du dir keinen anderen schwarzen Fleck aussuchen?“  
Schweigend greife ich nach Ers Unterarm und fokussiere mich auf das leise  
Schwappen von Wasser auf Stein. Auf das Reiben über Kies und das flüstern  
verschwundener Seelen.  
Mein linker Fuß rutscht fort. Raues Knirschen.  
Er flucht. „Das ist jetzt was?“  
„Eine Insel.“  
„Eine Insel im Kykotos. Wäre es witziger, würde ich mir jetzt vor Lachen in die  
Hose machen.“  
38  
„Ja.“  
„Es ist aber kein Witz, sondern eine Katastrophe.“  
Das bestreite ich nicht. Der Weg in die Hölle ist lang. Nimmt man die  
Abkürzung, beginnt die Uhr von vorn zu ticken.  
„Wie sollen wir von hier zu der einen Furie kommen? Ich will Blut sehen!“  
„Sie kommt zu uns.“  
„Mach dir nichts draus, Alex, aber ich glaub ja nicht.“  
Sie spürt mich. Wie ich ihre Gegenwart riechen kann. Wie ich sie fühlen kann,  
ihre Blicke, ihr Stechen, ihre Nähe. Unter all dem Jammer, all dem Leid höre  
ich ihre Atemzüge, als wären es meine eigenen. Es ist finster, aber die Kulisse  
malt die Züge. Ich inhaliere Asche und Staub, schmecke Rosen und Schwefel,  
bitteres Blut und finstere Furcht. Wenn sie kommt, dann kommt sie. Stürzt  
sie sich auf mich, dann tut sie es.  
Der verkommene Flügel ragt einsam durch meine Kleidung und deutet in den  
Wind. Würde man mich dort berühren, ich spürte nichts. Dieser Zusatz  
gehört zu mir wie mein Verstand. Er ist verzichtbar.  
Ich schmecke Angst. Sie gehört nicht zu mir.  
„Ich bin hier nicht durch diesen Scheißfluss geschwommen“, sagt Er rau, „um  
ein paar Jahrzehnte später auf einer pechschwarzen Insel zu verrecken.“  
„Finsternis verzehrt.“  
Er kichert. Ein Geräusch von Sinnen. „Was du nicht sagst. Ich würde mir am  
liebsten die Finger abreißen!“  
„Geduld.“  
„Geduld?“, fragt Er schrill. „Wie verdammt bist du hier durchgekommen?“  
Das Jaulen nimmt neue Dimensionen an. Jeder Laut bohrt sich in meine Haut,  
sinkt in mein Fleisch und zerreißt mir das Mark.  
„Ich bin geschwommen.“  
„Du musst doch zehnmal die Orientierung verloren haben!“  
„Nein.“  
„Verarsch mich nicht!“  
„Ich konnte es mir nicht leisten.“  
„Und ich dachte, ich hätte einen beschissenen Nachmittag gehabt“, murmelt  
Er. „Hiergegen war mein Fluss ja ein verdammtes Planschbecken!“  
„Du ludst alles Leid und Elend auf dich“, erinnere ich Er.  
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„Und? Du leidest an Angststörungen, seit du hier durch bist, und ich versteh  
es echt.“  
„Ich war nicht allein“, gestehe ich. Die Schatten schoben ihre dürren Finger  
unter meine Arme und führten mich. Leiteten mich. Brachten mich ans  
rettende Ufer und machten mich zu einem von ihnen.  
„Hat dich die Kleine abgeschleppt oder was?“ Ers Stimme klingt gepresst.  
„Nein.“  
„Dann will ich echt nicht wissen, wer dich hier rausgeholt hat.“  
„Besser so“, gestehe ich. Unwissen kann ein Segen sein.  
Er schnauft. „Also ich bin hier, um mir eine höllische Kladde einzustecken und  
mit Furienblut zu tränken. Was weiß ich schon, was deine Mission ist.“  
„Die Furien kommen zu uns“, wiederhole ich. Wir betreten ihr Reich. Wir  
verhöhnen ihre Regeln.  
Von ihnen werden wir bestraft. Recht und Unrecht sind irrelevant. Recht und  
Unrecht waren nie von Bedeutung.  
Sich räuspernd bewegt Er sich nach rechts. Ich lasse ihn los und lausche  
seinen Schritten auf dem Kies. „Wo sind sie?“  
„Sie sind hier.“  
Flehen, aus einer Verzweiflung entstanden, die mit Nägeln über die Seele  
kratzt und das Selbst langsam ausbluten lässt.  
„Hier?“, fragt Er mich heiser. „Warum leben wir dann noch?“  
„Bleib“, bitte ich ihn und das Knirschen des Kieses verstummt.  
„Wo sollte ich denn hingehen? Sag das mal.“  
Ich taste im Dunkeln. Meine Finger streifen rauen Stoff und ich zucke zurück.  
Rosen und Schwefel, Pech und Blut. Leises Zischen.  
Er flucht. „Alex, lass uns verschwinden. Ich zieh alles zurück und vergrab mich  
in meiner Siffbude.“  
Meine Muskeln verkrampfen sich. Kalter Atem streift meine Wange und  
Klauen graben sich in meinen Verstand. Sie zwingen meine Gedanken  
auseinander und offenbaren sie dem fremden Geist. Die Furie drängt sich in  
mich, als wäre ich ein Schalentier, das sie genüsslich öffnet. Knirschend und  
knackend will mein Bewusstsein nachgeben. Ich erinnere es an die Schatten  
und es zehrt von ihnen, inhaliert sie, bis die Sonne aufgeht.  
Lippen berühren meine Wange.  
40  
„Alex? Jetzt sag nicht, dass du umgebracht wurdest.“ Dumpfe Panik. Sie  
schwappt mir in Wellen entgegen. „Komm, lass mich nicht hier. Ich komme  
hier doch nie wieder raus.“  
„Nie wieder“, bestätigt die Furie mir, ohne den Mund zu öffnen. Ihre  
Gedanken werden zu meinen in nur einem schwachen Moment. Ich lecke  
mir über die Lippen. „Er soll verdammt sein.“  
Spitze Nadeln stechen in meine Schultern. Die Enden schmaler Finger.  
Ers Tod ist mein Leben. Sein Niedergang meine Auferstehung. Das rechte Blut  
vergossen, mache ich mich frei. Den richtigen Kopf verlangt, befreie ich  
meine Kehle aus der Schlinge und mache mich frei, breite die Arme aus wie  
Schwingen und kehre dorthin zurück, wo ich hingehöre.  
Ich verziehe angewidert das Gesicht. In die Verdammung. In einen gepflegten  
Vorort, an dem selten die Sonne scheint und durch dessen Wälder die  
Geistergeschichten zeitgleich mit gestohlenen Schreien wispern.  
Nur ein verwundetes Tier.  
Es war nie, was die Menschen sagten. Es war nie, was ich glauben mochte.  
Irrlichter existieren und Ubiytsen auch. Otstupniken sind kein  
Ammenmärchen und eine Furie flößt mir Gift ein wie die Luft zum Atmen.  
Ihre Lippen streifen meinen Nacken und sind weich wie die einer jungen Frau.  
Ihr Duft vernebelt meine Sinne und meine Knie beben, als würde man mir  
Strom durch die Blutbahnen jagen, bis er zitternd in meinen Zähnen endet  
und sie mir aus dem Fleisch reißen will.  
Ers Tod ist mein Leben. Ers Tod ist meine Auferstehung. Manchmal liegt die  
Lösung so nah und ich kannte sie vom ersten Atemzug an. In speziellen Fällen  
wartet das Glück im Hinterhalt. Ich bin hinterhältig. Die Stimmen wispern und  
sie zischen. Sie kommen aus mir, winden sich durch die Schatten um mich  
herum und münden in mir. Ihre Nähe impft mir Energie ein, die ich dringend  
benötige. Wenig Schlaf macht Geist und Glieder träge. Weniger Schlaf macht  
aus dem Mann eine Marionette.  
Ihre Liebkosungen trösten mich, nehmen mich an die Hand und lassen mich  
durch ihre Augen sehen.  
Die Finsternis lichtet sich für diesen Moment. Er hat die Arme vor der Brust  
verschränkt, fluchend und den Kopf gesenkt. Sollte die Furie sich auf ihn  
stürzen, wäre er ihr unterlegen. Sobald ich meine Finger in seinem Fleisch  
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versenke, wird er hilflos um Gnade winseln. Zähne sind nur eine Waffe,  
solange man sie sich nicht stumpf feilt und Er tut alles, um dem Menschen  
nah zu sein. Wirft sein Potential den Hunden zum Fraß vor für den schönen  
Schein. Für die höhnische Idee.  
Ich lecke mir über die Lippen.  
„Er plant deinen Tod“, flüstert die Furie mir ein. Ich will sein Blut sprudeln  
sehen. Als ich das erste Mal auf seiner Schwelle stand, wünschte ich nichts als  
sein Ende. Nichts als seinen Niedergang und von da an, jeden Tag, lechzte ich  
nach seinem unvermeidbaren Ende. Er ist eine Farce wie Sie auch. Beide  
gemacht, um mich zu hindern an dieser einen, an dieser einen Berufung, der  
jeder Würdige nachfolgen sollte.  
Die Klauen lösen sich von meinen Schultern und ich lasse mich gegen die  
Furie sinken. Tisiphone. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe sie mit den  
Augen der Schatten. Das schwarze Haar umschmeichelt ihr bleiches Gesicht  
mit Rabenfederglanz. Die Augen sind klar wie die weite See, blau wie das  
perfekte Verbrechen und das Lächeln auf ihren Lippen verführerisch. Die  
Zungenspitze zuckt über ihre Zähne.  
„Ich habe dich vermisst“, gestehe ich.  
Tisiphone betrachtet mich mit unverhohlenem Spott. „Ihr kommt alle zurück.  
Ihr lasst mich nicht allein.  
„Dein Opfer irrt durch die Schattenwelt.“  
Abrupte Stille. Die Schlieren von Finsternis scheinen zu kichern und sich  
fahrig über die bleichen Gesichter zu fahren, die Daumen an den Wangen  
und die Zeigefinger an den geöffneten Augen, als machten sie sich bereit, sich  
selbst zu blenden.  
Kein Kiesel knirscht. Ers Atem ist verstummt.  
„Bist du deppert?“, wiederholt Er. „Bist du völlig bescheuert geworden?“  
Seine Stimme klingt unstet. Wie nach einem langen Lauf, dabei kann er sich  
kaum vor und zurück bewegen, ohne in die Fluten des Kykotos zu stolpern.  
„Gib ihn mir als Pfand“, bittet Tisiphone und ich kann ihr keinen Wunsch  
ausschlagen. Sie ist der Grund meiner Seele, mein Dreh- und Angelpunkt. Die  
Schönheit im Leid, während sie vergeltet. Jeden Mord, jede bodenlose  
Grausamkeit. Wenn ich mich gegen sie wehren wollte, würde ich versagen.  
Wenn ich die Waffe gegen diese Furie hiebe, bliebe nichts von mir übrig als  
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ein zuckendes, zappelndes Wesen, das seinen letzten Sinn verloren hat. Das  
ebenso gut stets regungslos sein könnte. Seit immer. Bis in alle Ewigkeit.  
Die Schatten nehmen mich bei der Hand. Zwei Schritte trennen mich von Er.  
Ohne ihre Augen, ihre Gegenwart hätte ich ihn verfehlt. Er gibt ein zischendes  
Geräusch von sich, nervös wie das Fauchen einer Katze, die sich in die Ecke  
gedrängt weiß. Er schlägt blind nach mir.  
„Scheiße, Alex, was soll der Unsinn?“  
„Jeder Handel verlangt.“  
„Dann bring die Furie einfach um!“  
Ich könnte es nie. Ihre Lippen fühlen sich weich auf meinem Nacken an, die  
Arme sind die einzigen, die mich in Sicherheit wiegen. Die Lüge macht den  
Herrscher und ich werde über der Liste thronen wie ein wahnhafter Gott.  
„Alex!“ Er holt aus und ich ducke mich unter seinem Schlag fort. Ein Blinder  
gegen einen Sehenden. Sobald er mich sah, war er verloren. Seitdem ich vor  
seiner Schwelle stand, den Regen nass auf dem Gesicht und die Kleidung  
klamm, musste der Tod ihn holen. Er ließ sich mit dem Mann ein, dessen  
Gewissenlosigkeit Tisiphone becirct.  
„Leg ihn mir zu Füßen.“  
Aus Tisiphones Stimme spricht mehr Leidenschaft als aus jedem von Ers  
Atemzügen. Eher verdamme ich ihn, richte ihn im Herzen der Hölle hin, als  
mich von ihr zu entfernen. Ihr Schutz ist meine Rettung, Ers Leben mein  
sinkendes Schiff.  
Ich umfasse die Klinge in meiner Tasche. Was man durch sie zufügt, wird  
durch sie vergolten. Langsam rolle ich den Kopf und lockere die Muskulatur in  
meinem Nacken. Tisiphone schlingt beide Arme um mich und ihre dürren,  
spitzen Nägel graben sich in meine Brust, dorthin, wo mein Herz vor ewiger  
Zeit hätte verstummen sollen.  
Ein Hieb, ein Stechen und Er geht in die Knie.  
Ein stumpfer Schrei hängt in der Luft.  
Ich ziehe die Klinge zurück. Als hätte ich ihr Wohlwollen überspannt, fahren  
die Schatten zurück und entziehen mir ihre Energie. Ihre Macht. Meine  
Mundwinkel kräuseln sich, während das Adrenalin durch meine Adern  
rauscht.  
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Er hat Recht. Nichts fühlt sich vollkommener an als ein rascher, effektiver  
Mord. Nichts macht die Seele voller als die letzten Atemzüge, den letzten  
Herzschlag. Zu wissen, dass ich mich über Gott und Götter erhoben habe, um  
meinen Willen in Farben zu schreiben.  
„Ich reiße dir die Kehle heraus“, brüllt Er mich an. Wie von Sinnen.  
Achtlos schiebe ich die krampfenden Arme der Furie von mir. „Ja.“  
Ohne ein weiteres Wort umfasse ich Ers Unterarm. Mit einem  
übermenschlich starken Ruck versucht er sich zu befreien. Graues,  
schmutziges Licht, getupft von blassen Reflektionen, die sich mit Mühe den  
Weg durch den Dreck bahnen.  
Keuchend hebt er die Hände. Blutige Nagelabdrücke verheilen in seinem  
Ballen. Sein Blick huscht umher, gehetzt wie der eines verwundeten Tiers, das  
auf den letzten Todesschwung wartet.  
Meine Kleidung ist feucht, stinkend und sie sondert einen absurden  
Schimmer aus.  
Seine Augen verweilen auf dem dicken Stoff. „Das ist nicht mein Blut“, stellt  
Er nach einer Weile fest.  
„Furien führen“, sage ich. „Sie führten immer.“  
Hysterisch lachend schlägt Er sich die Hände vors Gesicht. „Bist du jetzt völlig  
durchgeknallt?“ Seine Stimme klingt gepresst.  
„Die Wahl blieb nicht.“  
„Warum hast du mich nicht abgeschlachtet?“  
„Ich hatte die Wahl.“  
„Ich dachte, du hattest keine?“  
„Nach dem ersten Entschluss blieb keine.“  
Er lacht erneut auf. Das dunkle Haar hängt ihm schlaff und feucht in die Stirn.  
„Du bist doch irre!“  
„Zwei Furien sind zu bewältigen“, entscheide ich.  
„Zu bewältigen?“ Er verbirgt das Gesicht erneut in seinen Händen. „Zu  
bewältigen? Du hast sie einfach mal so erledigt.“  
„Zeit heilt keine Wunden.“  
„Wie lange hast du daran getüftelt.“  
„Seit dem ersten Moment.“  
„Welchem?“, ruft Er schrill aus.  
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Meine Sicht verschwimmt leicht. Das Blut vernebelt mir die Sinne. „Als sie  
mich zwischen den Flüssen wählen ließ.“  
„Da waren wir alle mehr tot als lebendig“, spottet Er. „Such dir mal einen  
glaubwürdigeren Bären, den du mir aufbinden kannst.“  
„Noch immer lebendig“, erinnere ich Er. „Nur weil der Körper sich zerfrisst,  
macht das den Mann nicht unzurechnungsfähig.“  
„Frag da mal die Leute, die Ahnung von dem Krams haben.“  
Er öffnet den kleinen Kühlschrank und zieht eine Flasche Schnaps hervor. Das  
blasse Licht bricht sich in dem dicken Glas.  
„Sie fragte mich nach meinem sehnlichsten Wunsch und ich nannte ihren  
Namen.“  
Er schnauft. „Das ist so billig, da fällt nicht einmal eine Furie drauf rein.“  
„Sie werden gefürchtet.“  
„Klar.“  
„Ich empfinde keine Furcht.“  
Augenrollend nimmt Er einen tiefen Schluck. „Willst du mir sagen, dass die  
sich in dich verknallt hat oder wie?“  
„Nein.“ Ich setze mich und stehe einen Augenblick später wieder auf. Die  
Federn drücken gegen meine Muskulatur und die Kleidung klebt mir klamm  
am Körper. Selbst im Tod umklammerte Tisiphone mich, als könne sie meine  
Worte auf diese Weise wahr machen.  
Aufrichtigkeit schulde ich niemandem als mir und mein Gewissen habe ich  
mit der Eisenstange in den wimmernden Hund gerammt.  
„Warum verdammt konntest du sie umbringen?“  
„Vertrauen und Kontrolle.“ Ich sehe ihm direkt in die dunklen, vom Alkohol  
sanft verschleierten Augen. „Wünsche lähmen den Verstand.“  
„Wie?“  
„Ich habe sie wollen lassen.“  
„Furien machen das mit Menschen.“  
„Zumeist.“  
Er schnauft. „Nicht mit dir.“  
„Nein.“  
„Warum?“  
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„Ich begehre nichts.“  
„Die Furien verhandeln auch nicht.“  
„Bei Zeiten.“  
„Was, verdammt, was kommt als nächstes, Alex? Was?“  
Der Straßenlärm tönt ungedämpft zu uns. Eine beschlagene Blase über dem  
Geschehen. Träge frisst der Schimmel sich in schwarzen Schlieren die Wand  
hinauf und hinunter bis tief in das Gemäuer hinein.  
„Nichts.“  
„Es gibt kein Nichts.“  
„Das Ende“, korrigiere ich mich.  
„Das Ende?“, fragt er mich. Seine Stimme überschlägt sich und er trinkt, als  
könnte der Alkohol seine Sinne tatsächlich beruhigen. Tiefe Schatten fressen  
sich in die zarte Haut unter seinen Augen. Die Lippen zittern. „Es gibt kein  
Ende. Nicht für uns! Wem machst du was vor? Mir? Dir? Irgendwem, der uns  
zuhört?“  
„Wir tappen im Dunkeln“, sage ich.  
„Du weißt doch, was als nächstes geschieht!“  
„Ich bin eine Marionette und tanzen an Fäden des besten Gewissens.“  
„Menschen können keine Furien umbringen“, brüllt Er mich an. „Das war ein  
Pyrrhussieg! Als nächstes, da kommen beide gemeinsam. Und dann? Dann  
gibt es die Liste immer noch und ich bin nicht einmal abgesichert. Für mich  
gibt es keine Kladde, in die ich meine Seele sperren kann. Für mich gibt es  
sowas nicht.“  
„Doch.“  
„Wo?“ Er tobt. Der saure Geruch des Alkohols umwabert ihn. „Wenn es sie  
gibt, dann wo? Ich vertraue dir blind und gehe fast drauf dabei.“  
„Fast“, erinnere ich ihn.  
„Ich könnte tot sein.“  
„Du bist es nicht.“ Ich ziehe mir den zerrissenen Pullover über den Kopf. Das  
Furienblut verleiht dem mickrigen Flügel mehr Kraft. Ich sollte ihn  
abschlagen, bevor er sich entfaltet und die Hälfte des Raumes einnimmt. Er  
hätte mit Tisiphone sterben müssen. Das Übersinnlichste an mir gleitet mit  
dem Übersinnlichen fort.  
„Weil ich das zweite Mal heute verflixtes Glück hatte!“  
46  
„Nur Furien“, murmle ich. „Es sind nur Furien.“  
„Es sind halt nicht nur Furien“, sagt Er und seine Stimme überschlägt sich. „Es  
sind nicht nur Furien. Die Luft wird dünner. Wir haben unser Leben lang die  
dämlichen Handlanger umgebracht und jetzt stehen wir vor dem hier. Vor  
dem hier!“  
„Vor was genau?“  
„Vor einer unlösbaren Aufgabe!“ Speichel sprüht von Ers Lippen. „Wir gehen  
drauf.“  
„Bei Sinnen.“  
„Bei Sinnen?“ Kichernd ballt er die freie Hand zur Faust und drischt sie sich  
gegen den eigenen Kopf. „Als ich das letzte Mal bei Sinnen war, habe ich das  
Leid jedes einzelnen Menschen auf mich geladen. Ich habe genug von dem  
Scheiß hier. Lass mich raus. Spar mich aus.“  
„Der Kampf beginnt mit dir.“  
„Nichts beginnt mit mir!“  
Mein Nacken prickelt. Rosen, Hölle, Pech und Schwefel. Der Geruch drängt  
sich aus dem alten Blut heraus und verklebt die Fasern.  
„Du bist mehr als das.“  
„Ich bin niemand mehr“, brüllt Er. „Ich schleife mir täglich die Zähne ab,  
damit man nicht kreischend vor mir davonläuft!“  
„Du bist mehr als das“, beharre ich.  
„Als was?“, spuckt er. „Als was? Sag schon, Streber, als was?“  
„Als eine Figur.“ Ich räuspere mich und trete an das Fenster heran. Eine Furie  
fällt nicht nach ihrem Willen und nicht nach meinem. Wir alle unterliegen  
Naturgesetzen, denen wir nicht entfliehen können. Die fähig sind, die Rote  
Liste zu zersprengen.  
„Erklär.“ Spannungslos lässt Er sich in seinen dreckigen Sessel fallen. Flecken  
ziehen sich über das grüne Material, Risse, als hätte eine Ratte versucht, sich  
im Inneren einzunisten.  
„Die Kladden werden geteilt“, sage ich. „Jedes Buch hat zwei Seiten und sie  
müssen von zwei Seelen ausgefüllt werden, die einander nie berührten.“  
Langsam schließt Er die Augen und presst sich einen Daumen auf die Stirn.  
Direkt über der Nase. „Ich habe niemanden zum Teilen.“  
„Ich habe mich in der Kladde der Hexe verewigt. Der Vorstand und Sie teilen  
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sich das eigene Heft.“  
„Wozu?“  
„Um das Gesicht zurückgewinnen zu können.“  
„Sind wir halt immer noch tot“, murmelt Er.  
„Die Seele ist unser unsterblicher Bestandteil und das Gesicht sind wir in  
unserer vergänglichsten Form.“ Lange sehe ich Er an in der Hoffnung, dass er  
versteht.  
Anstatt zu denken, trinkt er.  
„Bring mir jemanden, den ich umbringen kann“, murmelt Er.  
„Nein.“  
„Dann hole ich mir selbst einen.“ Wankend kommt Er auf die Beine und stellt  
die Flasche neben dem Sessel ab. „Einmal in die Hölle und zurück, was?“ Als  
er kichert, schiebt sich Schaum auf seine rissigen Lippen. „Eine romantische  
Vorstellung. Wir sind nie rausgekommen.“  
„Ja.“  
„Du genießt dein verflucht mächtiges Leben.“  
„Nein.“  
„Sondern?“  
„Ich suche den Sinn.“  
„Es gibt keinen Sinn“, murmelt Er. „Es gibt keine Gnade. Wir hocken hier und  
warten darauf, dass wir uns erledigen. Mehr ist hier nicht.“  
„Es gibt einen Sinn.“  
Kopfschüttelnd greift Er nach seiner Jacke. Der Uniform des Polizisten. „Glaub  
das ruhig. Aber wenn du ihn nicht findest, erinnere dich an mich.“  
„Kommst du zurück?“  
Er zuckt die Achseln. „Was weiß ich? Kann dich ja nicht allein mit zwei Furien  
lassen.“  
„Eine gehört dir.“  
„Klar.“ Ers träger Blick schmerzt mir in der Seele. „Klar. Weißt du, Alex,  
verheddre dich schön weiter. Ich bin da draußen und der, den die Bullen  
jagen.“  
„Du bist die Polizei.“  
„Verdammt richtig“, murmelt Er. „Verdammt richtig. Besser wird es auch  
nicht mehr.“  
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„Nein.“  
„Doch.“ Er atmet tief ein. „Die beste Version von uns ist irgendwo in der Hölle  
ertrunken.“  
„Sie definiert uns nicht.“  
Ers Finger krampfen sich bleich um den Knauf. „Sie macht uns. Sie hat uns  
geschaffen.“  
„Die Rote Liste formt uns zu ihren Ungeheuern.“  
„Ungeheuer?“, fragt Er mich gefährlich leise. „Das einzige, was ich in uns  
sehe, sind mickrige Wegelagerer, die nach dem Kern der Lösung suchen.“  
„Blut.“  
„Blut tut gut“, murmelt Er. Sein hämisches Grinsen geht mir durch Mark und  
Bein. „Ich dachte schon, du tötest nicht mehr.“  
„Besondere Situation.“  
„Besondere Maßnahme“, nuschelt Er. „Ist schon klar.“ Ächzend reckt er sich.  
„Das Töten, das ist das beste am Leben. Ohne den Tod habe ich mich nie  
lebendig gefühlt.“  
Diese Macht. Ich schaudre. Befriedigend, selbst wenn man nichts mehr fühlt.  
„Komm mit“, sagt Er. „Die Straßen haben mehr als einen, der keine Lust mehr  
auf was hat.“  
„Die Angst bleibt.“  
„Angst“, spottet Er. „Angst? Was ist das schon. So ein Scheiß, der uns in DNS  
programmiert wurde. Sowas, das uns vor einer Konsequenz schützen soll.  
Was soll es?“  
Ich schweige. Die Lichter sind matt, als hätten sie sich auf der Straße  
totgewälzt.  
„Wir sind die Konsequenz“, zischt Er und klingt wahnsinnig. Von Sinnen. Die  
Hölle hat neue Wege. Tiefere Wege. Sie gehen durch den Körper hindurch  
und wenn man nicht in sich greift, um aus sich heraus zu steigen, um aus sich  
heraus zu agieren, verfällt man ihrem Hohn. „Wir sind ihre Konsequenz und  
ich will sehen, wie diese Panik“, seine Finger formen sich zu Klauen, „durch  
ihr Gesicht geht. Ich will riechen, wie sie stinken und ich will spüren, wie ihr  
Herz zu schlagen aufhört. Unter meiner Hand! Weil ich es will. Nur, weil ich es  
will, weil ich es kann. Weil ich in der Lage bin für diese Macht, für dieses  
Genie!“  
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„Der Mord hat niemanden klüger gemacht.“  
„Sag doch einfach, dass du nicht willst“, spuckt Er. „Sag einfach Nein.“  
Ich sehe ihm fest in die Augen. „Nein.“  
„Du bist ein perfider Feigling.“  
„Ja.“  
„Ich bring die Leiche mit her“, droht Er mir.  
Ich hebe eine Schulter. „Ich lasse sie verschwinden.“  
Sein Blick bleibt an einem Punkt hinter mir hängen. „Schlag das Ding ab. Du  
bist kein Engel. Nicht einmal ein halber. Du bist genauso ein verfluchter  
Bastard wie wir alle. Im ursprünglichsten Sinn.“  
„Ja.“  
„Die Furien fressen mich“, grollt Er. „Wenn du nicht mitkommst, dann lauern  
sie da.“  
„Ja.“  
„Ich brauche diesen Tod!“, brüllt Er. „Ich brauche das, kapierst du? Nicht  
jeder ist du. Ich brauch das! Ich habe nichts als das.“  
„Ja.“  
„Komm!“  
Langsam schüttle ich den Kopf und ziehe das Messer. Furienblut haftet daran  
wie eine verdammte Schutzschicht. Ich ziehe die Klinge durch den Knochen  
und trenne den zitternden Flügel hab. Hitzewillen schmelzen mein Mark ein  
und saugen mir die Kraft aus. Ich verschränke die Arme vor der Brust. Er  
quellen die Augen aus den Höhlen. Er lacht. Er höhnt. Er tobt.  
Deswegen trennten sich unsere Wege. Finsternis verzehrt sich selbst und was  
dann kommt, ist nichts als Leere.  
Wir brennen einander aus mit unserer bloßen Anwesenheit.  
Dieses Mal können wir uns die räumliche Distanz nicht leisten. Die Furien  
lauern. Sie lechzen.  
Ich verüble ihnen die Blutsucht keinen Moment.  
50  
Tag acht Der Blutrausch  
Vom sauren Regen feucht schimmert die Straße im letzten Mondschein. Ers  
Bewegungen sind fahrig. Sein Blick wirkt fester. Als würde der Alkohol nach  
und nach seine Blutbahnen verlassen und die irrationale Panik mit sich  
nehmen. Während wir uns tiefer in die menschenverachtende Finsternis  
wagen, pulsiert mein Körper, als hätte ich mich selbst gepfählt. Eines Tages  
wird der Flügel in die falsche Richtung wachsen. Er wird mein Rückenmark  
durchstoßen und mir den Todesstoß versetzen.  
Das Leben allein weiß, wie lang es mich als Handlanger begehrt.  
Undeutliche Leute entfliehen Ers Lippen. Meine Muskulatur verkrampft sich,  
aber ich bleibe nicht stehen. Schatten strecken sich. Ihnen wachsen Hände  
und sie klammern sich an meine Schultern. Wispern mir Ideen ein, die  
langsam in meinen Verstand sinken und sich zu meinem tiefsten Wunsch  
mausern.  
In der Hölle standen sie mir zur Seite. Hier strafen sie mich auf gewohnte  
Weise. Die Umgebung macht den Mann. Auf Erden bin ich nichts weiter als  
ein Kollateralschaden.  
„Du suchst“, stelle ich nüchtern fest.  
Er verharrt, als wäre ein Warnschuss gefeuert worden.  
„Was erwartest du, verdammt?“ Das finstere Funkeln ist zurückgekehrt,  
dunkler, unheilvoller als zuvor. Nicht sein Geruch beruhigt mich. Nicht sein  
Gesicht. Beides könnte von Furien übernommen werden, wollen sie mich nur  
dringend genug tot sehen.  
Keine Furie ist cholerisch wie er. Keine von ihnen wäre in der Lage, zwischen  
den höchsten Höhen und den tiefsten Tiefen der menschlichen Emotionen zu  
springen. Keine Furie hat je menschliche Gefühle empfunden und während  
ich meine zu vergessen drohe, badet Er in ihnen, als machten sie ihn zu einer  
besseren Version seines Selbst.  
„Ich bestell die mir nicht auf die Straße. Ohne Jagd, was ist das Töten dann  
noch?“  
Ich schweige.  
„Eine beschissene Hinrichtung“, murmelt Er. „Du bist gut darin. Du bist richtig  
gut darin. Ich nicht! Ich brauch die Jagd. Ich brauche den Kick.“  
51  
„Ich richte nicht mehr hin.“  
„Du hast es aber getan“, zischt Er und lehnt sich weit zu mir. „Du warst der  
Henker. Nicht irgendwer, du warst der Beste.“  
„Lange nicht mehr.“  
Er schnauft. „Klar. Eigentlich habe ich nur Geschichten von dir gehört, aber  
was soll das schon? Du bringst die Furie um, als wäre sie ein kleines  
Mädchen. Warum, das sagst du mir nicht. Warum, das verrätst du keinem. Du  
saugst dir irgendwas aus den Fingern, damit du ja der gefährlichste Kerl  
bleibst.“  
„Nein.“  
„Doch!“ Er boxt in die Luft, präzise als könne er auf diese Weise die  
vergehende Nacht wecken. „Ich sage Doch! Weil ich dich sehe. Du siehst dich  
doch nicht! Du machst einfach und kapierst nicht, wie verdammt gruselig das  
alles auf andere wirkt.“  
„Nein.“  
„Doch!“ Kopfschüttelnd zieht Er die Jacke fester um seine Schultern. „Ich sag  
dir, Doch! Weil ich dich kenne.“  
„Nein.“ Niemand, der mich kannte, war je lebendig. Selbst wenn das Leben  
neu definiert würde, waren sie nie hier. Wer mich kannte, ist bereit mich zu  
vergessen, sobald er mir alles genommen hat, und ich werde ihm als  
Gegenleistung eine Ahnung von dem nehmen, was er am meisten begehrt.  
„Denk doch, was du willst“, murmelt Er. Fettige Strähnen fallen ihm in die  
Stirn. Ein Polizist, der den Weg nach Haus vergessen hat. Ein Polizist, der den  
Glauben an seinen Staat verlor und ihn deswegen in den Wind schießt. Der  
mit dem größten Verbrecher zusammenarbeiten würde, um die Schatten  
seiner Ideale wahr zu machen.  
Er war nie ein Gesetzeshüter. Von Anbeginn an war er verloren.  
„Hier hocken sie in den Ecken“, murmelt Er. „Weniger zugig.“  
„Ja.“  
„Du kannst sie ganz einfach aufscheuchen.“ Mit fließender Bewegung greift  
er in seinen Holster, zieht die Waffe und lässt einen Schuss los. Donnernd  
wälzt er sich durch die schmalen Straßen, die Mauern der hohen Häuser  
hinauf. Nichts rührt sich. Die Schatten zucken. Ers Blick richtet sich  
adlerscharf auf einen Flecken im Dunkeln. „Jetzt lassen wir ihn rennen“,  
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murmelt Er und feuert erneut. Eine Glasscheibe splittert, Überreste des  
Fensters regnen klirrend zu Boden. Das Keuchen menschlich-primitiver Angst.  
Eine gebückte Gestalt hastet aus ihrem finsteren Winkel. Er nimmt seine  
Verfolgung auf wie ein tollwütiger Bluthund. Seine Bewegungen sind schnell  
und stark wie zu jeder Zeit, der Kopf leicht gesenkt und die Arme  
unterstützen seinen Lauf.  
Die düstere Faszination, die mich durchschnitt, als ich seine Jagd zum ersten  
Mal beobachtete, ist verschwunden. Müdigkeit lähmt meine Sinne und ich  
greife in meine Tasche. Zwei sind besser als eine und drei besser als zwei. Ich  
werfe die kleinen, grauen Pillen ein, schlucke und warte darauf, dass die  
Wirkung einsetzt.  
Am Himmel schleichen die ersten Morgenstreifen entlang und zerreißen die  
staubige, vernichtende Finsternis. Schatten werden in ihre Schranken  
verwiesen und ich stehe einsam auf offener Straße, auf jeden Schritt  
lauschend.  
Die Bewegungen des Fremden werden unregelmäßig. Sie schlurfen und  
schleifen, als würde die Kraft ihn verlassen. Er verspürt keine Erschöpfung.  
Der Tod rief Er zu sich, damit er selbst dann noch funktioniert, wenn ihm  
jedes Organ entrissen wurde.  
Ein gellender Aufschrei beendet die Jagd. Die Tötung beginnt. Ich lecke mir  
über die Lippen. Sobald Blut fließt, setzt der Wahn ein. Unter roten, schweren  
Schleiern kriecht er in die Sinne, stiehlt sie und ersetzt alles durch ein  
irrationales Machtgefühl.  
Meine Finger prickeln. Die Jagd macht den Tod erstrebenswert. Die Jagd ist  
der beste Teil von ihr.  
Ich könnte mich gegen mich selbst wenden und mich selbst verraten. Es wäre  
ein Leichtes die Waffen zu ziehen und mich auf eine weitere, unglückliche  
Seele zu stürzen. Niemand würde sie vermissen.  
Es gäbe kein Zurück.  
Es gäbe kein Zurück.  
Ich bliebe. Verhangen gefangen. Ich bliebe. Ich käme nicht zurück.  
Fluchend schließe ich die Augen und lege den Kopf in den Nacken. Je länger  
ich warte, desto intensiver wird der Geruch von altem Blut und Rosen um  
mich herum. Drei Verdammte spiegeln drei der Furien wider. Zwei Charon  
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und Thanatos, Fährmann und Wächter. Je tiefer man gräbt, desto tiefer man  
gerät, desto fahriger wird das Geschehen. Desto irrsinniger. Schwächere  
Münzen der Ursprünglichen. Einen gedrückten Wert besitzend und keine  
Rolle spielend außer in Häusern, in denen Duplikate geschätzt werden.  
Die Rote Liste fordert ihren Tribut und beginnt mit dem Aussaugen der  
Persönlichkeit. Endet mit dem bebenden Triumph, der sie über uns erhebt.  
Könnten wir diejenigen vernichten, denen wir nachempfunden wurden, wäre  
die Liste längst zu Staub zerfallen. Ein gescheitertes Projekt von Tod und  
Leben.  
Die Furien jagen ihre Häscher. Übrig bleiben die Ideen von Fährmann und  
Wächter. Mit dem Daumen reibe ich über die klebrige Klinge des Messers.  
Mit der Zeit verliert der kümmerliche Rest den Verstand. Fährmann und  
Wächter gewannen, ohne den Sieg zu provozieren. Sie warteten. Weil nichts  
zermürbender ist als das weite, das zerfressende Nichts. Keine Wut wird  
geschürt, kein Hass.  
Ich will dem Mord beiwohnen. Eine Note von frischem Blut mischt sich unter  
Staub und Dreck. Unter die Überreste der Furie, die an meiner Hose kleben.  
Ein frischer Pullover macht keinen neuen Mann. Er überdeckt nur mit Mühe  
die Frevel, die er begangen hat.  
Das Hochgefühl, während Blut über meine Finger rann. Die Betäubung, als ich  
spürte, dass die Finger sich in meinen Schultern verkeilten. Ich lecke mir über  
die Lippen. Nie gab es einen Moment, den ich mehr begehrte. Auf den ich  
dringender hin fieberte.  
Mit jeder untätigen Sekunde verrate ich mich ein Stück mehr. Es kümmert  
mich nicht. Die Jagd ist vorüber. Nun beginnt die Tötung. Ein bloßes  
Hinrichten der übriggebliebenen Furien, sobald sie sich auf uns stürzen.  
Das Zeichen wurde gesetzt, der gute Glauben gescholten.  
Wir bleiben zurück und Er kommt mir entgegen, ein breites, irrsinniges  
Lächeln auf den Lippen, das seine Augen zum Glühen bringt. Das Blut malt  
unregelmäßige Muster auf sein Gesicht und die Finger sind zu Klauen  
geformt, die längst nicht bereit waren, von dem Leichnam abzulassen.  
„Da hinten gibt es was für dich zu tun“, sagt Er mit rauer Stimme.  
Matt lächle ich. „Nein.“  
54  
„Klar doch.“ Er räuspert sich. „Ich habe ihn umgebracht“, raunt Er mir zu. „Ich  
habe ihm dabei zugesehen, wie er stirbt, während er in meinen Händen  
zappelte. Zappelte!“ Das hysterische Lachen ist ein Armutszeugnis.  
„Ja.“  
„Bring ihn schon weg“, wiederholt Er. Sein Lächeln wird breiter. „Wir wollen  
doch keinen Ärger?“  
Seine Uniform ist beschmiert, besudelt von frischem Blut. Dort muss Er ihn  
gehalten haben, dort versuchte der Fremde sich zu wehren.  
„Niemand wird ihn suchen.“  
„Und? Er wird trotzdem gefunden werden.“  
„Ein unglückseliges Opfer einer unglückseligen Nacht.“  
Er reibt sich mit dem Knöchel seines Daumens über seinen Mundwinkel. Als  
das Grinsen ihm die Oberlippe hebt, haften dünne Stoff- und Fleischfetzen  
zwischen seinen engstehenden, spitzen Zähnen. „Er wird die Furien warnen“,  
grollt Er.  
„Sie sind gewarnt.“  
„Sie werden uns dermaßen erledigen.“ Ers Lachen wirkt sorglos. „Ich will,  
dass sie kommen und ich sie abschlachten kann.“  
„Ja.“  
„Ich will sie töten“, flüstert er. „Nicht nur du, ich will das auch.“ Hastig fährt  
er sich mit einer Hand durchs Haar. „Ich will fühlen, wie dieses verdammte  
Leben durch mich beendet wird. Wie Hades seine Handlanger langsam, ganz  
langsam an mich verliert.“  
Blut geleckt.  
„Ja.“  
„Es wird der Himmel auf meiner Erde werden“, murmelt Er und leckt sich  
über die blutigen Lippen. „Dieser Mord …“ Er lässt den Satz in der Luft  
hängen. Es braucht keine weiteren Worte. Die von Glück vernebelten Augen  
sprechen klarer als Er.  
Mein Herz rast. Der Geruch treibt mich in den Wahnsinn. Frisch. Klebrig. Die  
Furien sind mein Armageddon.  
Ich schließe die Augen und lausche in meinen eigenen Körper hinein. In das  
Rauschen meines eigenen Blutes durch meine eigenen Adern. Zerbrechlich.  
Vergänglich. Für den Moment.  
55  
„Ich will sie. Ich will sie jetzt“, grollt Er.  
„Jagst du, stirbst du.“  
Ein Teil des irrsinnigen Schimmers erlischt. „Ist klar.“  
„Gut.“  
„Ich hasse die. Ich hasse die richtig.“  
„Ja.“  
„Gut.“ Er räuspert sich und reibt mit den Händen über die dunkle Hose. Leise  
reibt der Stoff an seine Haut. „Jetzt?“  
„Lass Blut fließen“, murmle ich.  
Glucksend legt er den Kopf schief. „Ich soll doch warten.“  
Blutdurst hat noch jedem den Verstand geraubt. Verfällt er in einen  
Blutrausch, wird er zu einem mickrigen Schattentänzer.  
Die Finsternis lockt mich. Langsam bricht der Tag herein und durch  
Staubdecken drängt sich die Sonne. Glühend hell. Die Schemen greifen mit  
ihren Klauen nach meinen Stiefeln und ziehen mich näher zu sich. Durch die  
türkisfarbenen Augen tanzt der rote Wahnsinn. Ich hocke mich neben die  
Raststätte des Toten. Ein stinkender Schlafsack, bitter und sauer riechend.  
Schmierige Flecken ziehen sich über das Material. Wie über Ers Sessel. Mir  
kriechen winzige Schauer über den Rücken. Die Flasche ist umgefallen,  
umkränzt von einem gläsernen Heiligenschein. In einem fangen sich die  
Schatten und blecken ihre weißen Zähne. Der Mörder ist der Sieger. Schlicht  
und einfach. Wer tötet, der gewinnt.  
Ich scheue das Blut wie mein eigenes Leben.  
„Was, Alex? Willst du die tollen Sachen mitgehen lassen?“  
„Nein.“  
„Sondern?“ Die Ahnungen von Sonnenlicht werden ausgesperrt, als Er sich  
neben mich stellt. „Da ist nichts. Den vermisst niemand. Der hat nichts.“  
Fröstelnd hebe ich den Schlafsack an. Leises Rascheln. Von Ratten und Stoff.  
Keine Ratten. Kein Stoff. Mein Sichtfeld verzerrt sich. Ein leiser Wind quält  
sich durch die Straßen und leckt über die Mauern. Schatten schlingen ihre  
Arme um meinen Körper und schwören auf Himmel und Hölle.  
Ich stehle es dem Toten und lasse die Schlafstätte fallen.  
„Was hast du da?“, fragt Er mich.  
56  
„Nichts.“  
„Lüg nicht“, schnauft Er. „Was hast du da?“  
Nichts, was von Bedeutung wäre.  
Wind flüstert, die Sonne drängt. Staub will beides ersticken. Ich inhaliere den  
sauren Geruch der menschlichen Einfallslosigkeit, die sich in stoischen  
Maschinen zeigt.  
„Du versaust mir die Laune, obwohl ich richtig gut drauf war. Ich war richtig  
gut drauf! Er hat sich gewehrt wie ein Bär.“  
„Ja.“  
„Es ist besser, wenn sie sich wehren“, grollt Er. „Es ist kraftvoller. Wenn sie  
dann sterben, wenn sie in sich zusammensacken, dann bedeutet das  
hundertmal mehr.“  
„Ja.“  
„Ich war richtig glücklich!“  
„Ja.“  
„Du machst es kaputt.“  
„Nein.“  
Augenrollend verschränkt Er die Arme vor der Brust. „Wenn du mit deinem  
dummen Getue nicht, wer dann?“  
Kurz zögere ich. Wie blind ist mein Vertrauen?  
Schweigend löse ich die Finger und lasse es hinabbaumeln.  
Er pfeift anerkennend durch die Zähne. „Das ist mehr als nichts.“  
„Ja.“  
„Ziemlich beschissen.“  
„Nein.“  
„Doch.“ Er rümpft die Nase. „Ich bring auch immer die falschen um.“  
„Nein.“  
Seine Brauen schießen in die Höhe. „Sondern?“  
„Die Richtigen.“  
„Sehe ich anders.“ Langsam löst Er seine Arme. „Was willst du damit? Das  
macht dich irre. Zum Schluss sitzt du genauso auf der Straße wie der und  
rennst vor mir davon.“  
Ers Lachen ist fehl am Platz.  
57  
„Ich behalte es nicht.“  
„Sondern?“  
Anstatt einer Antwort grabe ich meine Finger in den feuchten Stoff seiner  
Jacke. Die Umgebung verschwimmt und als sie sich schärft, verlassen die  
letzten Irrlichter das Moor.  
Seufzend und heulend biegen sich die Bäume. Über die Wipfel tanzt der  
Sturm, den die Stadt aussperrte. Die Wolken wurden verweht und ein  
blendender Sonnenschein stiehlt sich durch zuckende Zweige. Nasse Erde  
klebt mir an den Sohlen.  
Ich lass es von meinen Fingern baumeln. Die Falten in Ers Stirn vertiefen sich.  
„Das ist eine beschissene Idee“, sagt er.  
„Für den Moment.“ Einen Schritt weiter nach vorn und ich mache zwei  
zurück. Dort, wo das Moor am tiefsten ist, lauern die fragwürdigsten  
Geschöpfe. Ich präge mir den Winkel ein, den moosbewachsenen Ast, der  
zittrig durch die alles verschlingende Masse greift.  
„Für jeden Moment.“ Er inhaliert die Luft des verdammten Waldes. „Du hast  
vielleicht Nerven, direkt neben dem Ding zu wohnen. Wollt ich dir gestern  
schon sagen. Du hast richtig Nerven.“  
„Der Schein trügt.“  
„Ist doch immer so.“ Achselzuckend tritt Er näher an den schmatzenden  
Sumpf heran. „Bei dir ist doch nicht mal das Gesicht das, worauf man sich  
verlassen kann.“  
Ers Wissen legt mir Steine in den Weg.  
Die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen und als sie sich schärft, stehe  
ich dort, wo ich vorher stand. Der Sturm hat sich gelegt und das Moor sich  
selbst verzehrt. Eine glanzlose Wiese versucht unter Baumkronen zu  
überleben.  
Finger kratzen über Holz und die Pflanzen erblühen aufs Neue. Die Rinde  
gewinnt an Kraft, die Wurzeln reichen tiefer. Ammoniak und Schwefel sind  
verflogen. Den Schrecken haben sie mitgenommen.  
Ich lasse das Amulett los. Pechschwarz wie die Klingen meiner Messer.  
Geschmiedet in den finstersten Gefilden der Hölle und nicht gemacht, damit  
ein Mensch es besitzt.  
58  
Um es herum verrottet das Gras. Ich lege den Kopf in den Nacken und warte.  
Warte, dass sie sich aus den Schatten herauswagt und mir ihre Hand  
anbietet.  
Die pechschwarzen Augen materialisieren sich vor mir. Das aschfahle Haar  
kräuselt sich in kaputten Locken und die Nase wirkt bleicher denn je.  
„Klopf an meine Tür“, murmelt die Hexe.  
„Sie war verschlossen.“  
„Verschlossen?“ Gellend lacht sie auf. „Meine Tür ist nur für Lügner und  
Betrüger geschlossen.“  
„Ich gehöre wohl zu beiden.“  
Zwischen uns ruht das Amulett wie eine erschütternde Mahnung.  
„Das findet man nicht irgendwo“, sagt Sie.  
„Ich tausche es gegen Wissen.“  
„Ich will es nicht.“  
„Du willst es, so dringend wie du dein vollwertiges Leben zurückverlangst.“  
„Lach mir nicht ins Gesicht“, murmelt die Alte.  
„Ich höhne nicht.“  
„Ich bin vollwertig genug.“  
„Ich lebe“, sage ich unvermittelt.  
Gurgelnde Geräusche von sich gebend streckt sie die dürren Finger nach dem  
Amulett aus. Sie wachsen, dehnen sich, werden zu Finsternis, ziehen den  
Gegenstand an sich und wiegen ihn in sicherer Obhut. „Es ist schwer“,  
murmelt sie.  
„Gefüllt“, sage ich.  
„Zum Rand voll mit Seelen“, murmelt die Hexe. „Ein Okhotnik.“  
„Sie sind alle gestorben.“  
„Außer diesem hier.“  
„Er ist tot.“  
Ihre schwarzen Augen heften sich auf mich. „Nicht heute gestorben“, raunt  
sie.  
„Vor weniger als einer Stunde.“  
„Wer ist unheilig …“  
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„Das Blut war süß und gab neuen Mut.“  
„Mut“, spuckt die Hexe und Schatten stehlen sich in den Sonnenschein. „Mut  
für die Feigen!“  
„Mut“, wiederhole ich.  
„Ein Okhotnik ist wertvoll“, zischt sie. „Ein Okhotnik ist wertvoll!“  
„Seine Beute ist es.“  
Ihre Krallen bohren sich in das Amulett und dünnen sich zu spitzen Nadeln  
aus. „Verflucht sei der Tag deiner Geburt.“  
„Ja.“  
„Verflucht seist du!“  
„Ich habe diesen Tod nicht verantwortet.“  
„Du sahst zu!“  
„Nein.“  
„Verhindern hättest du ihn müssen.“  
„Die Zeit steht still.“  
„Nur für dich“, grollt die Alte. „Nur für dich.“ Als sie mich ansieht, bleibt es  
gleich. Ob hier oder dort, damals oder heute, wir stehen einander gegenüber  
und ich zerberste unter ihrer stechenden Aufmerksamkeit. „Häuten sollte ich  
dich.“  
„Furienblut versiegelt meine Poren.“  
„Nicht jeden Flecken“, spuckt sie. „Ich sehe es doch. Ich sehe alles.“  
„Du hättest deinen Tribut längst fordern sollen.“  
„Und einen Okhotniken verlassen?“ Langsam schüttelt sie den Kopf. „Wartet  
er vor den Toren?“  
„Das weiß der Wächter.“  
„Ein bitterer Tausch“, murmelt die Hexe.  
„Ein Okhotnik ist wertvoller als ich und du.“  
„Bis zum Ende gejagt.“  
„Ja.“  
„Mir geraubt.“  
„Ja.“  
„Hier liegt es in meinen Händen.“  
„Du hast die Wahl.“  
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„Ich habe es verloren“, murmelt die Hexe. „Schenk mir hundert Amulette, ich  
verbrenne sie alle.“  
„Ja.“  
„Du stellst mich vor die Wahl.“  
„Ich will nichts wissen“, sage ich.  
Ihre schwarzen Augen heften sich ins Nichts. Ihre Blicke brennen Löcher.  
„Gut“, murmelt die Hexe. „Musst nichts wissen. Musst nichts wissen.“  
„Ja.“  
„Ein Okhotnik ist ein Segen.“  
„Ja.“  
„Ich mach mir einen“, murmelt die Hexe. „Ich mach mir einen. Ich hole ihn  
mir zurück und dann fangen wir uns einen.“  
„Die Jagd ist vorüber.“  
Kichernd reibt sie ihre Krallen über die glatte, pechschwarze Oberfläche. „Das  
war sie, da hatte man dich noch nicht geboren.“  
„Du bist verdammt“, grollt sie. „Ich hole dich. Eines Tages hole ich dich.“  
„Ja.“  
„Freu dich.“ Ihr lückengespicktes Grinsen geht mir unter die Haut. „Freu dich  
schon. Wir tanzen durch die Hölle, bis sie unter unseren Füßen verglüht.“  
„Ja.“  
„Ich schreib dir die Zeilen, die du als nächstes brauchst.“  
„Ja.“  
„Auf guten Mut.“  
„Auf guten Mut.“  
„Du wirst es wissen, wenn es jeder weiß.“  
„Selbst das ist zu früh.“  
Kichernd reibt sie das Amulett über ihre Lippen. Es lockt blutigen Speichel aus  
ihrem Mund. „Töricht.“  
„Nur der Unwissende.“  
„Du hinkst zurück“, sagt sie.  
„Für den einen. Für den nächsten.“ Matt lächelnd nicke ich ihr zu. „Trink das  
Blut, das man dir anbietet.“  
„Ich trinke es in Strömen.“ Glucksend legt die Hexe sich das Amulett unter die  
Zunge. Zur Hälfte ragt es noch heraus, aber sie verschränkt die Arme vor der  
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Brust und die Schatten legen sie zu Boden. Die Haut fault ihr von den  
Knochen. Das Gesicht nimmt sie mit, bis Knochen sich in den Boden graben.  
Blubbernde Fluten ziehen sich über die Überreste.  
Stirbt ein Verdammter, vergiftet er die Natur. Aus diesem Flecken wurde  
etwas Neues. Der Nährboden für Irrlichter und Otstupniken. Der sichere  
Grund für Leichen, die niemand je finden darf.  
Den Kopf gesenkt, gehe ich rückwärts. Die Umgebung verschwimmt vor  
meinen Augen. Als sie sich schärft lehnt Er mit vor der Brust verschränkten  
Armen an einem wankenden Baum, den Blick finster und den Mund  
abschätzig verzogen.  
„Ich nehme an, unser Amulett ist weg?“, fragt er mich eisig.  
„Die Zeit frisst, was sie fressen will.“  
„Halt doch deine Putzkolonne für völlig bescheuert“, sagt Er. „Ich bin kein  
Idiot wie die. Ich weiß ziemlich genau, was du da hattest.“  
„Ja.“  
„Lass mich raten.“ Er räuspert sich. „Ich soll es für mich behalten.“  
„Ja.“  
„Weil du es nicht wissen oder weil du es nicht hören willst?“  
Schweigend deute ich auf das Moor hinaus. Die Irrlichter wirken fahrig. Die  
glühenden Augen haben sich auf uns gerichtet und langsam, ganz langsam  
nur bewegen sie sich auf uns zu. Ein Rudel Wölfe, das die Beute umzingelt.  
„Bring uns hier raus“, sagt Er.  
„Wohin?“  
Ungläubig sieht er mich an, dann reißt er die Hände in die Luft. „Woher soll  
ich das wissen? Dahin, wo wir nicht von Irrlichtern gefressen werden?“  
„Heiß müsste es sein.“  
„Von mir aus kannst du mich einschmelzen. Interessiert mich doch nicht.“  
Matt hebe ich eine Braue. Sein Tod sollte seine einzige Sorge sein. „Kann  
doch nicht sein, dass ich jemanden abmurkse und du so ein Ding bei ihm  
findest!“  
„Erst der Diebstahl, dann der Mord.“  
Schnaufend richtet Er sich auf. „Hast du eine Ahnung. Da wäre ich ja schon  
fünfmal tot!“  
62  
„Ja.“  
„Also? Was willst du?“  
„Gehen.“  
„Ja, dann lass uns verschwinden.“  
Er macht Anstalten, sich durch die Bäume zu schieben.  
„Es ist ein Minenfeld“, sage ich nüchtern.  
Mitten in der Bewegung verharrt Er. „Also?“  
Ich biete ihm meine Hand an. Nach kurzem Zögern schlägt er ein. Mir stellen  
sich die Nackenhaare auf. Der Geruch von Schwefel intensiviert sich. Die  
Irrlichter tanzen.  
Wir verschwinden dorthin, wo das Feuer nie stirbt.  
Die Hitze brennt sich in meine Haut, als wolle sie ein Mal hinterlassen. Er gibt  
einen zischenden Laut von sich.  
„Willst du mich umbringen?“  
„Nein.“  
Der Phlegeton reckt sich zu uns. Als wäre das Feuer nichts weiter als eine  
fadenscheinige Idee bewegt der Ubiyts sich auf und ab, keinen Schweiß auf  
der Haut, keine Röte auf den Wangen. Tot wie der brodelnde Boden unter  
seinen Füßen.  
Er verkrampft sich an meiner Seite. „Das ist ein Ubiyts!“, schimpft er. Das  
Tosen des Flusses sollte unsere Stimmen schlucken, während seine Fluten  
sich der Kuppel des Krematoriums entgegenwerfen.  
Sein Kopf dreht sich in unsere Richtung und er entblößt die spitzen,  
zahlreichen Zähne. Das Feuer hat sich in seine Augen gebrannt und presst  
sich unter meine Haut. Die Umgebung verschwimmt und ich inhaliere den  
schwefelschweren Geruch, bis er mir keinen Anhalt mehr gibt.  
„Menetekel.“  
„Halt die Fresse“, zischt Er.  
Eine faustbreite Absperrung aus Eisen umgibt den Höllenfluss. Die Hand des  
Ubiytsen ruht darauf, als er sich den Weg zu uns bahnt.  
Ich halte den Blick des Mannes. Nichts findet sich darin. Keine Sorge, keine  
Mahnung, kein Zorn. Einmal seinem Griff entflohen, setze ich mir für ihn die  
Dornenkrone ein weiteres Mal aufs Haupt.  
63  
„Sie kommen immer zurück.“ Das Knistern des Feuers unterfüttert sein  
Grollen und trägt es zu uns.  
Aus dem Augenwinkel registriere ich, dass Er zurückweicht.  
„Die Jagd ist vorüber.“  
„Legst du dich mir heute zu Füßen?“  
„Die Jagd ist vorüber“, wiederhole ich.  
Durch die Flammen huschen Schatten. Sie entstehen in seinem Fuße und  
ziehen sich bis hinauf in die zuckenden Zungen. Pechschwarze Augen.  
Dunkler als die Nacht.  
„Sie kommen immer zurück.“  
„Seit wann quatschen Ubiytsen?“, zischt Er. „Sollte der uns nicht packen und  
ertränken?“  
Ich umfasse sein Handgelenk. Dieser lockt. Er ist eine zischende Schlange in  
ihrer Höhle, die sich zur Wasserquelle macht, bis die Beute sich an sie  
schmiegt.  
„Jeder liefert dich aus“, stellt der Ubiyts nüchtern fest. „Ob Freund oder  
Feind, sie alle bringen dich an meinen Ort.“  
„Du bist der Hölle am nächsten.“ Und die Hölle, so das Leben will, ist der  
Ursprung alles Guten. Jeder Hoffnung. Jedes Fortschritts.  
„Komm zu mir.“ Er bietet mir seine Hand an und der brodelnde Fluss  
verschwimmt. Eine trügerische Kühle liebkost meine Wangen, besänftigt  
meinen schweißtriefenden Körper, während meine Füße eine grüne Wiese  
betreten.  
Auge um Auge.  
„Schenke ich dir die Existenz, bleibe ich übrig“, erinnere ich den Ubiytsen.  
Seine Oberlippe hebt sich und entblößt blitzende, weiße Zähne. Glühend,  
strahlend, brennend. „Nimm, was du begehrst.“  
„Gib, was ich will.“ Schweigend weiche ich zurück und orientiere mich an Er.  
Meinem letzten Dreh- und Angelpunkt, während man mir Zeit- und  
Temperaturempfinden geraubt hat. Bäume knarzen, die hier nicht grünen,  
und Flügel von Vögeln schlagen, die sich an diesen Ort nicht verirren.  
„Selbst dein engster Freund führt dich zu diesem Fluss.“  
„Ja.“  
„Das sollte dir zu bedenken geben.“  
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„Ja.“  
„Scheiße, ich kipp hier um und ihr unterhaltet euch oder wie.“  
Ruckartig drehe ich Ers Unterarm wenige Zentimeter weit. Er gibt ein  
fauchendes, knurrendes Geräusch von sich, das mir schmerzhaft durch die  
Glieder geht.  
„Er will deinen Tod“, flüstert der Ubiyts mir ein. „Deswegen seid ihr hier.“  
Mein Tod ist niemandes Himmelreich.  
„Ja.“  
„Komm zu mir.“  
„Gib, was ich will.“  
„Ich bin dir nicht begegnet.“  
„Lügen schützen den Narren nicht“, sage ich.  
„Ich bin dir nicht begegnet“, beteuert der Ubiyts.  
Ich lächle schmal. „Du schützt, was wir durchschreiten sollen.“  
Keuchend lacht Er auf. „Bist du völlig bescheuert? Ist dir der letzte Rest Hirn  
rausgebrannt oder was soll das hier?“  
„Niemand hindert dich daran, hineinzugehen“, sagt der Ubiyts.  
„Das Feuer.“  
„Nur deine Angst. Das Feuer wird dich mit offenen Armen empfangen. Es  
wartet schon zu lang.“  
„Es zerreißt“, erinnere ich den Ubiyts. „Gib, was ich will.“  
„Du verdienst nichts.“  
„Ja.“  
„Ich gebe dir nichts.“  
„Nein.“  
„Ich verbrenne hier“, bringt Er zwischen zusammengebissenen Zähnen  
hervor. „Schön, dass ihr euch knorke versteht, aber ich geh hier drauf.“  
„Vertrau auf die Wahrheit.“  
„Er ist keine Furie.“  
„Ich kenne dich nicht“, sagt der Ubiyts.  
„Wir sind einander häufiger begegnet, als du dir eingestehen willst.“  
„Du gehörst hier nicht her.“  
„Ich schwor dir eine Existenz. Du genießt sie.“ Langsam bekommt das  
Trugbild Risse. Die Hitze verzehrt mich. „Gib, was ich will.“  
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„Ich weiß nicht.“  
„Gib es mir!“  
In der Ruhe liegt die Kraft. Das Feuer verzehrt, was mir bleibt. Er und ich  
haben uns aus gutem Grund gegen den Phlegeton entschieden: Man hat uns  
nicht geschaffen, damit wir seine Fluten überleben.  
„Ich befürchte, das liegt nicht in meiner Macht“, sagt der Ubiyts. „Ich tue,  
was ich tun muss.“  
„Tu es“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.  
„Glaub mir ruhig, dass ich keine Memme bin. Ich find die Situation hier  
trotzdem beschissen.“ Ers Haut ist nass und klamm.  
„Gib uns freies Geleit.“  
„Es ist euch garantiert.“  
„Wir gehen drauf, wenn wir da reingehen!“, ruft Er aus. „Vergiss es, dass ich  
da mitkomme. Ich bin doch nicht völlig irre.“  
Uns rinnt die Zeit durch die Finger. Ubiytsen sind üble Verhandlungspartner.  
Einmal in ihre Existenz gefesselt, haben sie nichts mehr zu verlieren. Das  
Gewissen haben sie dem Tod dargereicht und vor dem Leben eigenständig  
gefressen. Die Vernunft haben sie nie besessen.  
Ich appelliere an Stolz und finde leeren Trotz.  
Ein wirbelndes Drehen zieht sich durch meine Gliedmaßen. Er flucht.  
Die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen. Als sie sich schärft, frisst sich  
Schimmel die Wände hinauf und ich stütze keuchend die Hände auf den  
Knien auf. Die feuchte Kälte versetzt mir einen Kinnhaken.  
Japsend sinkt Er seitwärts auf seinen Sessel, das Gesicht scharlachrot. Zarte  
Muster aus Blasen ziehen sich über seine Haut und brennen sich in jeden  
Zentimeter meines Körpers. Ich schmecke schalen Speichel und einen  
trockenen Gaumen. Ekel und Zorn wollen erinnert werden und ich fokussiere  
mich auf die Decke über mir. Graue, schwarze Tupfen ziehen sich  
handtellergroß darüber. Blüten aus toxischem Staub.  
„Was sollte der Scheiß?“, bringt Er schließlich hervor. Eine Strähne des  
gekauften Haars glimmt ins Leere. „Willst du mich loswerden? Kein Ding, ich  
verschwinde, sobald ich wieder laufen kann.“  
„Ein Amulett.“  
„Du wolltest dir einen Jäger aus der Hölle holen?“ Er verhöhnt mich. „Kommt  
66  
wahrscheinlich überraschend, aber Okhotniken laufen da nicht einfach rum.  
Die erinnern sich auch nicht an sich. Weißt du auch warum?“  
„Damit wir sie nicht bekommen.“  
„Was sollte der Scheiß also?“, ruft Er aus. „Du willst mich umbringen!“  
„Dieser Ubiyts war ein Okhotnik.“  
„Genau. Und ich trinke Wasser.“ Ächzend versucht Er sich aufzurichten.  
Zuckend ziehen seine Muskeln ihn zurück auf seinen Sessel. „Weißt du auch,  
warum ich Wasser trinke?“ Leise stöhnend rutscht er auf die Sitzfläche und  
presst den Kopf gegen die Lehne. „Okhotniken können so gut ein Ubiyts  
werden wie ein Kaninchen ein Löwe.“  
„Im Volksmund.“  
„Im Volksmund“, äfft Er mich nach. „Lies doch mal nach, bevor du mich  
umbringen willst. Mach einmal was Gutes! Ich bin immer noch der von uns,  
der einfach draufgeht, wenn er draufgeht. Wenn mich jemand holt, dann bin  
ich erledigt. Dann bin ich verdammt. Für mich gibt es keine Party und kein  
beschissenes Heftchen, über das ich meine Seele oder mein Gesicht  
wiederbekommen könnte. Ich wäre Furienfutter.“  
„Ja.“  
„Schön!“ Kraftlos klopft Er auf seine Knie. Die Kleidung ist durchnässt wie  
meine eigene. „Dich muss es nicht jucken. Du bist nicht betroffen. Du hast  
dich schon abgesichert, bevor ich wusste, wie man ‚Vollidiot‘ schreiben kann.  
Du hast das ja alles kommen sehen.“  
„Nein.“  
„Was dann?“ Wäre er dazu in der Lage, Er würde mich anbrüllen. „Wenn du  
das nicht alles kommen siehst, woher hast du dann diese Arschruhe?“  
„Mir ist nichts geblieben.“  
„Ein Scheiß ist dir geblieben.“  
„Mir ist nichts geblieben“, wiederhole ich deutlicher.  
„Dir ist alles geblieben!“ Ers Augen glühen. „Du bist der Einzige von uns, der  
sich bewusst für diese Sache hier entschieden hat. Du bist der Einzige von  
uns, der genau wusste, was auf ihn zukommt. Du allein! Du ganz allein.“  
„Ja.“  
„Schön!“  
67  
„Ja.“  
„Deswegen musst du aber nicht der sein, der überlebt.“  
„Nein.“  
Stöhnend richtet Er sich weiter auf. Seine Bewegungen werden steter, seine  
Blicke stechender. „Wie, nein?“  
„Ich werde leben.“  
„Wenn die Furien dich fressen, dann bist du erledigt“, keucht Er. „Dann bist  
du erledigt wie wir alle.“  
Gerädert streife ich mir die Kleidung ab. „Nein.“  
Er öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Die ungesunde Röte weicht ihm  
Stück für Stück aus dem Gesicht. „Was meinst du mit dem Schwachsinn?“  
„Ich habe gegen Tod und Leben gewonnen.“  
„Haben wir alle!“  
„Nein.“  
„Natürlich haben wir das. Wir sind durch diese Scheißflüsse geschwommen.  
Wir haben alle einen Freifahrtschein. Wir sind alle so frei, wie man es als  
verdammter Dozhivat sein kann.“  
„Nein.“  
„Bist du deppert?“, bringt Er zwischen den Zähnen hervor.  
„Nein.“ Mich räuspernd streife ich mir die erhitzten Schuhe von den Füßen.  
„Ich habe verhandelt.“  
„Du hast nichts zum Verhandeln!“, brüllt Er mich an. Ein keuchendes Husten  
macht ihn bezahlen. „Du bist ein unwichtiges Würmchen, das nichts mehr  
fühlen kann. Das bist du.“  
„Ich habe mich gesetzt.“  
„Dann bist du längst erledigt!“  
„Nein.“  
„Erklär mir den Schwachsinn.“ Ers Blicke sind stechend, als er langsam von  
seinem Sessel aufsteht. „Was ist das hier?“  
„Eine Geschichte.“  
„Alles ist eine Geschichte. Meine Füße sind eine Geschichte. Meine  
verdammten Zehnägel sind eine Geschichte!“  
„Nein.“  
68  
„Erklär es mir!“ Sein Zorn sprüht über. Sie wählen, wen man wählen muss,  
und es bleibt nichts übrig.  
„Nein.“  
Er hebt einen Arm, als wolle er mich schlagen, nur um ihn quälend langsam  
wieder sinken zu lassen. „Du bist ein ganz übler Menschenschlag, Alex. Ein  
ganz übler. Du bist einer dieser Typen, die für ihr eigenes Wohl ein paar  
Welpen grillen. Bei lebendigem Leibe!“  
„Ja.“  
„Warum streitest du es nicht ab?“ Sein grölender Zorn hallt von den Wänden  
wider.  
„Wozu?“  
„Will du zumindest so tun könntest, als wärst du ein Wesen mit Gefühlen. Du  
könntest wenigstens vorgeben, dass du nicht hier stehst, um alles brennen zu  
sehen. Du könntest dich bemühen, dass ich mich weniger erbärmlich fühle!“  
„Ich bemühe mich.“  
„Du bist ein Penner!“, brüllt Er mich an. „Du bist ein mieser, unterirdischer  
Penner und ich wünschte, ich wünschte, ich hätte dir nie geholfen. Ich  
wünschte, ich hätte dich abgeknallt, als ich es noch konnte. Ich wünschte, ich  
hätte dich kommen sehen.“  
„Ja.“  
„Du bist ein Psychopath.“  
„Ja.“  
„Warum, verdammt? Warum?“  
„Weil sie mich so wollen.“  
„Kein Schwein will dich so. Nicht einmal die Furien“, sagt Er. „Nicht einmal  
die! Die bringst du nämlich auch um. Weißt du auch wieso?“  
„Ja.“  
„Weil du es kannst. Weil du die Handlanger des Todes erledigen kannst wie  
jeden anderen auch. Wer garantiert uns, dass die Rote Liste wirklich  
verschwindet, nur weil die Furien erledigt sind? Wer macht das?“  
„Niemand.“  
„Genau!“ Er reißt die Arme in die Höhe. „Niemand garantiert uns einen  
Scheißdreck.“  
„Ja.“  
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„Aber ich stehe hier mit dir und“, schallend lacht er auf, die Augen drehen  
sich, bis nur noch das Weiße zu erkennen ist, „ich habe dir versprochen, dir  
zu vertrauen.“  
„Ja.“  
„Ich muss richtig bescheuert sein!“  
„Ja.“  
„Wer sagt mir, dass du dir nicht gleich das Gesicht runterreißt und jemand  
völlig anderes bist?“  
Kurz stocke ich. „Ich.“  
„Dein Wort ist nichts wert!“  
„Vor dir.“  
„Vor mir. Genau. Vor mir.“ Heftig gestikuliert Er. „Dir sollte es verflixt wichtig  
sein, was ich von dir denke, weil du in meinem Haus bist, Freundchen. Ich  
erledige dich.“  
„Nein.“  
„Ich habe den Okhotnik einfach vernichtet!“  
„Ja.“  
„Warum also nicht auch dich?“  
„Ich bin kein Okhotnik.“  
„Du bist ein beschissener Überlebender“, stellt Er rau fest. „So wie ich. So wie  
jeder, der durch diese Flüsse durch ist und nicht in ihnen verreckt ist. Du bist  
ein Überlebender, aber du verhältst dich nicht wie einer.“  
„Nein.“  
Er explodiert. „Doch!“  
„Nein.“  
„Doch! Wärst du ein Überlebender, würdest du mich nicht vor das  
Höllenfeuer zerren, damit du vielleicht ein Zugeständnis bekommst. Wärst du  
ein Überlebender, dann würdest du Angst verspüren. Du hättest Angst, Alex.  
Egal, ob du noch fühlen kannst oder nicht. Du hättest eine Heidenangst. Du  
würdest dir jeden nüchternen Moment in die Hose machen!“  
Schweigend durchquere ich den kleinen Raum, Ers flackernde Blicke im  
Rücken, öffne den Kühlschrank und reiche ihm eine Flasche Schnaps.  
„Du bist das Letzte“, grollt Er und dreht die Kappe ab. „Du bist das  
Allerletzte.“  
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„Ich bin deine Droge.“  
„Du bist der Penner, der uns alle in den Abgrund reißen wird. Du bist der  
Penner, der uns nicht nur beim Sterben zusieht. Nein! Ich wette, du stehst  
daneben und findest es gut. Ich wette, du würdest uns stoßen, wenn man dir  
dafür einmal auf die Schulter klopft.“  
„Nein.“  
„Stimmt. Ich habe das glatt vergessen.“ Mit der flachen Hand schlägt Er sich  
gegen die Stirn. „Bestätigung ist auch nichts für dich. Fast hätte ich das  
wirklich vergessen. Fast hätte ich dich zu einem Menschen gemacht!“  
„Ja.“  
Sein Atem geht schwer, als Er sich langsam zurück in seinen Sessel sinken  
lässt und einen tiefen Schluck nimmt. „Du bist schlimmer geworden“, grollt  
er. „Du hast kein Gewissen mehr. Du hast einen Scheißdreck.“  
„Ja.“  
„Da zieht sich jemand das Gesicht ab und es juckt dich nicht.“  
„Ja.“  
„Dich greift eine Furie an und du besitzt die Stirn, sie einfach umzubringen.  
Du erledigst sie, als wäre sie nichts.“  
„Ja.“  
„Aber töten“, murmelt Er. „Wirklich töten, wahrhaftig morden, in diesem  
Blutdurst baden, dagegen wehrst du dich. Als wärst du dir zu fein dazu. Als  
würde dir das nicht in den Kram passen, weil du ein kleiner, selbstverliebter  
Penner bist, der nur tut, was ihm gefällt. Scheiß auf die Konsequenzen!  
Scheiß auf alles. Hauptsache Alex‘ Plan sieht gut aus.“  
„Sie jagen mich.“  
„Mich doch auch!“, brüllt Er mich an und klopft mit dem Fuß der Flasche  
gegen sein Brustbein. „Weißt du, was ich tue?“  
„Ja.“  
„Ich fürchte mich“, grollt er. „Ich fürchte mich, wie sich jeder Mann fürchten  
sollte. Ich habe eine Scheißangst und jede Minute, die ich mit dir verbringe,  
wird sie größer.“  
„Der Zorn.“  
„Der Zorn kommt immer, wenn du da bist“, flüstert Er heiser. „Du bringst  
mich um, indem du dich in meiner Gegenwart aufhältst.“  
71  
„Ja.“  
„Du weißt es.“  
„Ja.“  
„Du holst das Schlimmste aus jedem von uns raus. Du magst leben, aber  
gerade das macht dich dazu. Zu diesem Freak.“  
„Ja.“  
„Du müsstest ebenso tot wie wir alle sein“, wispert Er und richtet den Blick  
auf sein veraltetes, schlafendes Fernsehgerät. „Du müsstest ebenso tot wie  
wir alle sein, aber du bist es nicht.“  
„Ja.“  
„Du warst es nie.“  
„Ja.“  
„Warum?“  
„Ich habe verhandelt.“  
„Mit wem?“  
Schweigend starre ich aus dem Fenster. Eine dicke Staubschicht haftet  
darauf. „Zwei sind einer zu wenig“, sage ich schließlich.  
„Wir sind aber nur noch zwei. Die anderen sind erledigt.“  
„Ja.“  
„Wir können nicht in die Hölle. Du kennst nämlich nur diesen einen Ort,  
oder? Deinen persönlichen Galgen.“  
„Ja.“  
„Ich gehe nicht durchs Feuer“, murmelt Er. „Das ist es mir nicht wert.“  
„Ja.“  
„Wir werden draufgehen“, fährt Er nüchtern fort. „Die Furien kommen. Sie  
reißen uns die Kehlen raus und dann war es das. Dann sind wir erledigt und  
fühlen und verdammt gut dabei. Weil wir nichts mehr unternehmen können.“  
„Nein.“  
Der Zorn kehrt mit der Wucht eines Tsunami zurück. „Doch!“ Ers Brüllen  
fängt sich zwischen den Wänden und spielt sich in neue Höhen. „Doch, du  
verdammter Wicht. Doch!“  
„Nein.“  
„Doch!“  
„Die Hexe hat das Amulett“, sage ich ruhig. „Es braucht keinen Okhotniken,  
72  
wenn wir das Amulett besitzen.“  
Er nimmt einen weiteren, tiefen Schluck. „Was willst du von mir, Alex?“  
„Die Hexe wird kommen.“  
„Hat die dich nicht erst zu dem hier gemacht?“  
„Nein.“ Von hier oben verliert die Welt sich in einem eintönigen Grau, das  
weder von Nacht noch Tag behelligt werden kann. „Sie hat mich erinnert.“  
„Woran, verdammt?“  
An alles.  
„Alex, woran?“  
„Sobald sie bereit ist“, sage ich. „Sie wird die Karten neu mischen.“  
„Mach dich nicht lächerlich. Das hier ist ein verdammtes Würfelspiel! So viel  
Pech wie hier kann man nirgends haben, wo man ein bisschen Hirn  
reininvestieren kann.“  
„Es ist, was es sein soll.“  
„Es ist genau das, was man uns auf dem Silbertablett serviert hat“, grollt Er.  
„Weißt du auch, warum?“  
„Du hast die Macht des Schicksals nicht begriffen“, sage ich nüchtern.  
„Es gibt kein Schicksal!“  
„Wer sonst sollte Tod und Leben gegeneinander ausspielen?“ Ich sehe Er  
lange in die dunklen, tobenden Augen. „Die Hexe kommt“, wiederhole ich.  
„Sie lechzt nach Blut. Hat sie es vergossen, wirst du sie vernichten.“  
„Du bist ein perfides Stück Scheiße.“  
Lange betrachte ich ihn. Lang genug, damit ein leises Rauschen einsetzt und  
sich zäh durch meine Gehirnwindungen zieht. Lang genug, damit ich glaube,  
den Kontakt zum Boden zu verlieren. Er fährt nicht fort. Ich bin der Diskussion  
müde.  
„Ja.“  
„Ja“, murmelt Er. „Immer nur Ja. Du hast nie was gesagt, was uns  
weiterhelfen würde. Ja. Immer nur Ja. Und wenn wir Pech haben, sind wir  
morgen schon tot.“  
73  
Tag neun Die Feuerprobe  
Der Gestank von Blut und Rosen, Schwefel und Hass. Das dünne Haar streift  
ihre Wangen wie dürre Zweige einer im Wind peitschenden Weide.  
Pechschwarz. Düster. Die Augen bleiben die Augen.  
Ich hebe den Kopf und verschränke die Arme vor der Brust. Nur weil man sich  
eine Sicherheit teilt, macht das keine Freundschaft. Aus fadenscheinigem  
Vertrauen werden die tiefsten Schützengräben gehoben.  
„Du bist spät.“  
„Du zu früh.“  
Ich ringe mir ein Lächeln ab, das leer ist wie jede Seele. „Du bist gekommen“,  
fokussiere ich mich auf den wichtigen Aspekt.  
Ihr Grinsen erinnert mich an den glühenden Höllenschlund, pechschwarz und  
verdammt, ein Überrest des überlisteten Todes. Um ihre graue Kehle liegt  
das Amulett, finster wie die Nacht oder jeder ihrer Blicke.  
„Wo ist der Junge?“  
„Zwischen Schnaps und Wahnsinn“, erwidere ich nüchtern. „Die Zeit verlangt  
ihren Tribut.“  
„Nie von dir.“  
„Ich habe ihr bei Lebzeiten mehr gegeben, als ich entbehren konnte.“  
Nüchtern verschränke ich die Arme vor der Brust. „Der beste Schutz.“  
Leise gluckst die Alte. „Es ist kein Schutz, wenn nichts bleibt.“  
„Sagst du.“ Dumpf blicke ich auf die schwer befahrene, finstere Straße.  
Fabriken pusten ihren Rauchatem auf den regennassen Asphalt. Das schmale  
Vordach schützt uns vor Nässe und Blicken, während die Gebäude mit jedem  
Atemzug ein Stück näher aufeinander zu rücken. Die pralle Geräuschkulisse  
frisst sich auf und haucht ihren letzten Atemzug in die schmale Gasse.  
„Du willst spielen“, sagt die Hexe schließlich.  
„Ja.“  
„Ich habe dir davon abgeraten.“  
„Ja.“  
„Du willst trotzdem.“  
„Ja.“  
74  
„Wenn du spielst, verlierst du alles, was du noch hast.“  
„Ja.“ Ausdruckslos sehe ich die Hexe an. Mir ist nicht geblieben.  
„Wen willst du ausspielen?“  
„Leben und Tod.“  
Die Hexe atmet rasselnd aus. „Das wird dir nicht gelingen.“  
„Wird es.“  
Ein mattes Interesse spiegelt sich in ihren toten Augen. „Wie?“  
„Indem ich nichts mehr habe.“  
„Das schützt vor nichts und wieder nichts“, raunt die Hexe. „Wir sind nie leer.  
Wir haben immer etwas. Wir sind nie nur die leeren Hüllen.“  
„Ich empfinde nicht, ich erinnere nicht.“  
„Du könntest, wenn du wolltest.“  
„Ich werde spielen“, wiederhole ich nüchtern. „Mit Leben und Tod um die  
Liste.“  
„Du wirst verlieren“, wiederholt die Hexe.  
„Ja.“ Ich suche ihren Blick. „Wenn ich allein spiele.“  
Eine kurze Stille durchbricht das Schweigen, stechend wie ein verlorener  
Mond. „Du wirst allein spielen.“  
„Wir teilen uns die gleichen Seiten.“  
„Das tun wir.“  
„Wenn ich sterbe, ziehe ich dich mit.“  
„Du hast mich überlebt“, stellt die Hexe nüchtern fest.  
Knapp nicke ich. „Weil ich weder dem Tod noch dem Leben einen Gefallen  
schulde.“ Als sie nicht reagiert, fahre ich nüchtern fort: „Ich lebe.“  
„Du lebst wie wir alle.“  
„Nein. Ich lebe. Ihr seid lebend.“  
„Da liegt kein Unterschied.“ Schatten dünnen ihre Finger aus und formen die  
Nägel zu spitzen Krallen. Ich spüre ihren Durst. Ihre Energie, ihre Macht, ihre  
Finsternis, die essentieller ist als jeder Gedanke und jedes Sein.  
Still beobachte ich, wie die Straße sich umzuwälzen scheint. Ein graues  
Kaleidoskop spannt sich über den Himmel und wirft die Umgebung gesplittert  
und geteilt zurück.  
„Menschen“, sage ich.  
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„Sie würden es nicht einmal spüren, wenn sie an mich glauben würden“,  
erwidert die Hexe. Das Amulett an ihrer Kehle pulsiert in dunkelroten  
Striemen. In violetten Schwaden. Die Schatten öffnen ihre Augen und starren  
mich an. Blicken mir direkt in die Seele. „Du könntest kein Spiel gewinnen,  
Alexander“, sagt die Hexe. „Sie kennen dich und sie kennen deinen Namen.  
Du bist nicht mehr in der Position, zu gewinnen.“  
„Wie heiße ich?“, frage ich sie unvermittelt.  
„Alexander.“  
„Weiter.“  
„Alexander Horatius.“  
„Weiter.“  
„Namen haben Macht.“  
„Du sagtest, sie würden meine kennen.“  
„Die Antwort kennst du selbst am besten“, murmelt die Hexe.  
„Ich habe sie meinen Namen schreiben sehen.“ Träge kriechen sie über die  
Fassaden, sammeln sich in schwarzen Pfützen und strecken ihre Klauen in  
meine Richtung. „Es war nicht mein Name.“  
„Verdammtes Lügenmaul.“  
„Nein.“ Das Rauschen des Straßenverkehrs betäubt mich. Was ich sehe,  
geschieht nicht. Meine Umgebung zerfällt in Abermillionen Splitter und  
errichtet sich neu. Auf gleiche Weise. Als wäre sie gemacht, um immer gleich  
unterzugehen.  
Festgeschrieben. Schwarz auf Weiß.  
„Sie werden dich töten.“  
„Ja.“  
„Du wirst verlieren.“  
„Nein.“  
„Es gibt keinen Sieg für dich“, murmelt die Hexe. „Du stehst auf der Liste und  
wir werden dir nicht zur Seite stehen.“  
„Führst du dich selbst zur Schlachtbank?“  
Rau lacht sie. Rau genug, damit das Geräusch unter dem Röhren der Motoren  
untergeht. Schattenfinger schlingen sich um meine Fußknöchel.  
„Ich existiere irgendwo zwischen hier und dort“, sagt sie. „Mich tötet  
niemand mehr.“  
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„Ich täte es.“  
„Einen Teufel tätest du.“  
„Ich täte es“, wiederhole ich. „Weil ich lebe.“  
„Würdest du leben, wie du es behauptest, dann wärst du nicht hier. Du  
würdest mich nicht sehen und du wärst nicht hier.“  
„Wir fahren alle zur Hölle“, sage ich. „Heute seltener als gestern.“  
„Die Gerüchte überschlagen sich.“  
„Sie sind alle wahr.“  
Leise glucksend zieht sie die Schatten zurück in ihren Körper. Für einen  
Atemzug glühen ihre Iriden in dem ursprünglich türkisen Farbton, dann  
ermatten sie, als hätte sie der Umgebung jede Energie gestohlen. „Niemand  
macht sich eine Furie zu eigen, um sie zu schlachten.“  
„Ihr Blut auf meiner Haut“, sage ich langsam und sehe ihr direkt in die Augen.  
„Auf jedem Zentimeter. Überall.“  
„Ein Wunsch“, murmelt die Hexe gedehnt.  
„Die verfluchte Wahrheit.“  
„Du hast sie becirct, um sie zu verdammen.“  
„Ja.“  
„Du lernst von den besten.“ Nichts weiter als eine nüchterne Feststellung.  
„Ich will spielen“, wiederhole ich.  
Sie hebt eine Schulter. „Dann spiel.“  
„Allein verliere ich.“  
„Mehr bekommst du nicht.“  
„Gib mir einen Jäger.“  
Glucksend und spuckend legt die Hexe den Kopf in den Nacken. „Heute  
nicht.“  
Kurz stocke ich. „Gib mir dich.“  
„Ich bin schwach“, sagt die Hexe leise. „Ein Schatten zwischen hier und dort.“  
„Das warst du, als wir einander das erste Mal begegneten.“  
„War ich, der Teufel weiß es.“  
„Kinder sind rein in tiefster Seele. Nur du kannst es mit einem Blick  
verderben.“  
„Ich spiele nicht“, sagt die Hexe kategorisch. „Ich werde niemals spielen.“  
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„Ein Versprechen?“  
„Ich muss nichts versprechen, um zu wissen, dass ich das nicht will“, grollt die  
Hexe. „Wer spielt, ist zum Verlieren verdammt. Wer zweimal spielt, wird  
zerstampft.“  
„Das erste gewann ich allein.“  
„Behauptest du“, murmelt die Hexe. „Behauptest nur du.“  
„Es ist nichts als die Wahrheit.“  
„Die Wahrheit ist eine Chimäre. Heute das eine, wird sie morgen das andere  
und wenn wir erwachen, hat es sie nie gegeben.“  
„Lass uns schlafen“, sage ich und suche nach diesem einen Wort, nach dieser  
einen Regung, die mich zu ihr lässt. „Lass uns spielen.“  
„Du wirst verlieren.“  
„Nein.“  
Ein vorsichtiges Interesse stiehlt sich in den Blick der Hexe. „Was macht dich  
sicher?“  
„Das Amulett.“  
„Das Amulett ist der Schatz eines Jägers.“  
„Ein Kerker der Seelen.“  
„Keine Seele wird es verlassen.“  
„Nein.“  
„Keine Seele wird das Amulett verlassen“, wiederholt die Hexe grollend. „Es  
ist bei mir.“  
„Sie gehören dir nicht.“  
„Dir noch weniger.“ Ihre Krallen schließen sich über das dunkle, pulsierende  
Material. „Geh nicht zu weit, Alexander. Was auf dich wartet, ist weit  
finsterer als die Intrigen, die du spinnst.“  
„Ich werde spielen“, wiederhole ich. „Aber allein ist es kein Spiel.“  
„Ist es doch“, sagt die Hexe. „Ist es doch. Du musst es nur richtig machen und  
schon ist es das.“  
„Angst.“  
Lange erwidert sie nichts. Das ölige, dünne Haar peitscht ihr in das faltige,  
regennasse Gesicht. Die Lippen sind rissig, als saugten die Seelen ihr jede  
Flüssigkeit aus dem Körper. Finger streicheln über Unterarme, Daumen über  
Handgelenke.  
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„Vor dir“, murmelt die Hexe schließlich. „Du porträtierst den Wahnsinn auf  
seine gefährlichste Weise.“  
„Ja.“  
„Du bist klar im Kopf“, fährt die Hexe fort. „Völlig klar, aber du weißt nicht,  
was du denkst.“  
„Ich weiß, was ich denken werde.“  
„Du spielst dich selbst aus“, murmelt sie. „Du spielst dich selbst aus und  
glaubst an deinen Sieg, aber du gewinnst nicht, wenn du spielst, Alexander.  
Du verlierst es alles. Du verlierst es alles, weil alles wieder zur Diskussion  
steht. Nichts davon bleibt dir. Alles war umsonst. Alles grundlos.“  
„Alles existiert nicht.“  
„Es existiert, was existieren muss.“  
„Was hier geschieht, war nie wahr.“  
„Das ist nicht dein Spiel!“ Zischend leckt die Hexe sich über die Lippen. „Das  
ist es nie gewesen. Du willst die Liste vernichten? Tu es. Ich stehe dir bei. Du  
willst Leben und Tod in die Knie zwingen? Du bist kein Engel. Du bist es nie  
gewesen und du wirst es nie sein. Um ein Engel zu werden, müsstest du  
leben.“  
„Ich lebe.“  
„Du bist ein Toter mit einem Heiligenschein“, spuckt die Hexe. „Von dem  
Heiligenschein ist dir schon lange nichts mehr geblieben. Was bist du also  
noch?“  
„Lebendig“, wiederhole ich. „Auf eine Weise lebendig, die ihr euch nur  
erträumen könnt.“  
„Warum bin ich hier?“ Die Hexe betrachtet mich mit mörderischer Intensität.  
„Ich werde nicht spielen. Du weißt seit Jahrzehnten, dass ich eher zurück in  
die Hölle gehe, als anzutreten.“  
„Das Amulett.“  
„Ein Geschenk.“  
„Ich schenke nicht. Ich bitte.“ Schweigend betrachten wir einander, taxieren  
einander, bis der Regen leiser auf das Vordach prasselt und das Kaleidoskop  
sich selbst verzehrt.  
„Mich bekommst du nicht“, zischt die Hexe schließlich. „Den Teufel kriegst  
du, aber mich, mich kriegst du nicht.“  
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„Gib mir einen Ersatz für dich“, sage ich. „Nutz dein Amulett, wozu es  
gemacht wurde.“  
„Dem Tod reißt heute niemand mehr ein Leben aus den Klauen. Er ist alt  
geworden und klug. Du gewinnst nicht mehr gegen ihn.“  
„Du oder das Amulett“, sage ich.  
„Dein Hochmut soll dich holen.“  
„Ja.“ Ich räuspere mich. „Sobald sich die Gelegenheit ergibt.“  
„Diabolisches Balg.“ Die Augen der Hexe werden schmal. „Ich habe nur  
geweckt, was immer in dir war. Ich habe nur genommen, was von Geburt an  
in dir schlummerte. Manche Menschen sind von Grund auf schlecht und übel.  
Für Menschen wie die wurde die Rote Liste geschaffen und so ein Mensch  
wird niemals dazu in der Lage sein, sie zu begraben. Sie wird dich verzehren.  
Sie wird dich dominieren. Vernichten wird sie dich, vernichten! Bis nichts  
mehr von dir übrig bleibt.“  
„Ja.“  
„Du wirst allein spielen!“  
„Nein.“  
„Der Trunkenbold bringt dir keinen Penny mehr und du weißt es“, sagt die  
Hexe. „Er ist verdammt worden. Er hat sich selbst verdammt und  
aufgegeben. Du wirst allein spielen!“  
„Nein.“  
„Du wirst.“  
„Bring mir die eine Seele, die zu Unrecht auf der Liste steht.“  
„Sie alle sind dort, weil sie furchtbar sind“, faucht die Hexe. „Ich auch. Du  
auch! Wir alle sind ihre Wegzehrde.“  
„Nein.“  
„Den Teufel!“  
„Nein.“  
„Lass ruhen, was ruht.“  
„Nein.“  
„Wozu? Vom Hochmut bist du zerfressen. Glaubst, du wägst dich so sicher,  
du glaubst, du könntest gewinnen. Aber sie sehen, was du als nächstes tust.  
Sie wissen es. Sie wissen es!“  
„Nein.“  
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„Sie wissen es.“  
„Ich weiß es selbst nicht.“  
„Das Schicksal hat dich in Stein gemeißelt.“  
„Nein.“  
Die Hexe gluckst. Sie gluckst heiser und allein. Ich überreiche ihr den einzigen  
Gegenstand, der für sie von Interesse sein sollte. „Gib mir dieses Eine“, sage  
ich. „Es soll an meiner Seite spielen und das Übrige, das wirst du behalten.“  
„Du wirst von dir selbst gefressen werden.“  
„Werde ich“, pflichte ich ihr nüchtern bei. „Sollte ich verlieren.“  
Er ist weggetreten. Mit der Fußspitze schiebe ich die leere Schnapsflasche  
über den angelaufenen Teppich, als ein raues Klopfen ertönt. Aus Hass und  
Bitterness wird Übermut geboren.  
Still öffne ich. Was bleibt, ist die Ruhe.  
Der Regen hat gewütet, die Straßen sollten sauber gewaschen sein.  
Stattdessen hat er hervorgebracht, was Staub und Asche zu verbergen  
suchten. Gebeugte Gestalten, von Wasser durchweicht. Wuselnde Ratten,  
aus den überschwemmten Nestern getrieben.  
Das Unwetter scheint bis in den Tod vorgedrungen zu sein. Als Sie auf der  
Schwelle erscheint, nicke ich ihr knapp zu. „Manche Wünsche sind zu fromm,  
um berücksichtigt zu werden“, sage ich.  
Sie erwidert kein Wort. Still schließt sie die Tür hinter sich und verriegelt. Die  
Augen sind dunkler als die des rasenden Irrlichts. Das Haar wirkt dunkler und  
das Gesicht natürlicher, während sie die triefende Jacke über die Klinke hängt  
und sich ungefragt auf die fleckige Matratze setzt.  
„Die Welt verändert sich“, breche ich das Schweigen, als es mich schaudern  
macht. „Im Endeffekt bleibt alles Gleich.“  
„Für dich.“ Sie hebt eine Braue. „Heute bringst du dich selbst zu Fall.“  
„Die Hexe hat für dich entschieden.“  
Schnaufend lacht Sie auf und kratzt sich an der Nase. Ich suche nach der  
leichten Unruhe in ihren Bewegungen oder dem seltenen Zucken ihrer  
Augen. Inhaliere ihren Geruch, der nur ihr gehört und sonst niemandem. Nur  
ihr und der Hölle und dem Teufel und dem Tod. „Was tust du hier?“, fragt sie  
mich schließlich. „Wir sind alle gestorben mit einem winzigen Bisschen  
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Würde. Was tust du hier noch?“ Ihr Blick schweift zu Er, der schnarchend in  
dem schmierigen Sessel liegt. „Was tut ihr beide noch hier.“  
„Das Leben ehren und lieben.“  
„Er lebt nicht“, sagt Sie eisig. „Du solltest auch nicht mehr leben. Du solltest  
es aufgeben und gehen. Die Liste ist gerecht.“  
„Gerecht macht sie nicht gut.“  
„Wärst du ein Mann mit Mut, dann wäre dir das egal. Du würdest aufhören,  
vor ihr davonzulaufen, und zu deinen Taten stehen.“  
„Nein.“  
„Doch!“ Sie spricht mit einer Heftigkeit, die eine Furie nie in dieser Perfektion  
nachzuahmen wüsste. „Doch. Wenn du nur ein Funken Ehre in deinem  
kleinen, verrotteten Herzen tragen würdest, dann wärst du nicht mehr hier.“  
Ich versuche mich an einem Lachen und scheitere.  
„Wen willst du als nächstes ausliefern?“, zischt Sie fuchsteufelswild. „Es wird  
nicht besser. Nichts wird besser! Du reitest dich in die Sache nur immer  
weiter rein. Wir sind nicht hier, um gegen die Liste zu gewinnen. Wir sind  
hier, damit wir einsehen, dass wir einen Fehler gemacht haben. Um zu  
bereuen. Verstehst du das?“  
„Ja.“  
„Warum tust du es dann nicht?“  
Ausdruckslos halte ich ihren Blick. „Ich kenne keine Reue.“  
„Würdest du sie kennen“, ihre Stimme bebt, „dann wärst du nicht so dreist  
gewesen, mich zurückholen zu lassen. Ich habe fair gelebt. Ich habe alles  
gelebt, was ich leben konnte. Ich habe alles getan, was ich tun konnte!“  
„Den Patienten bei vollem Bewusstsein den Schädel geöffnet.“  
„Ich habe nie gesagt, dass ich besser bin als du“, sagt sie eisig. „Ich bin nur  
nicht so feige, dass ich mehrere Jahrhunderte vor den Konsequenzen  
davonlaufe.“  
„Zwei.“  
„Mehr als eines zu viel!“  
„Nein.“  
Sie flucht leise und steht auf. „Was tue ich hier? Was tue ich hier in diesem  
letzten Winkel der allerletzten Welt?“  
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„Spielen.“  
„Steck dir dein Spiel sonst wo hin.“  
„Ein Schock zu viel.“  
„Ich habe sie dir nicht alle versetzt“, sagt Sie. „Ich habe dir nicht alles von  
dem dort angetan und ab einem bestimmten Punkt, da hast du um die Folter  
gebettelt. Du wolltest alles davon. Du wolltest alles davon, bis sich die  
behandelnden Ärzte sicher genug gefühlt haben, und dann hast du sie mit  
ihren eigenen Mitteln hingerichtet. Weil du widerlich bist. Du bist widerlich!“  
„Ich spiele.“  
„Du spielst nicht“, sagt Sie. „Ich bin mir sehr sicher, dass du nie gespielt hast.  
Du treibst jeden um dich herum nur mit einer mörderischen Selbstsicherheit  
in den Wahnsinn.“  
„Bei Gelegenheit.“  
„Was tue ich hier?“, wiederholt Sie heftig. „Was tue ich unter den Lebenden?  
Meine Zeit ist um. Ich wollte, dass sie vorbei ist. Ich habe alles verbrannt, was  
an mich erinnern könnte. Ich existiere nicht mehr. Ich habe nie existiert!“  
„Ich erinnere dich.“  
„Du erinnerst nur das, was dir selbst am wenigsten bringt“, faucht Sie.  
„Ich erinnere, was essenziell ist.“  
Als wir einander betrachten, scheinen die Lichtverhältnisse zu kippen und die  
Zeit frisst ihren eigenen Schwanz. Wir stehen einander gegenüber und ich  
weiß, dass dieser Moment sinnvoller als das Meiste ist, was in den letzten  
Jahrzehnten geschah.  
„Feige ist, wer davonläuft“, ergreife ich das Wort, sobald die Stille mir auf die  
Füße zu fallen droht.  
„Ich bin nicht davongelaufen“, erwidert Sie heftig.  
Hinter uns atmet Er unruhiger.  
„Du hast mich instrumentalisiert.“  
„Ich habe dir gegeben, was du wolltest“, sagt Sie. „Du wolltest, dass ich  
bezahle. Du wolltest, dass ich leide. Also habe ich dich genau das tun lassen,  
was ich dir angetan habe.“  
„Die Furien waren mehr.“  
„Sie sind gekommen, weil ich sie auf Knien darum angefleht habe“, sagt Sie.  
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„Sie sind gekommen, weil ich wollte, dass sie mich endlich bezahlen machen.  
Ich wollte es dringender als alles andere.“  
„Ja.“  
„Weil ich dich nicht mehr ertragen konnte.“  
„Ja.“  
„Weil ich mich nicht mehr ansehen konnte.“  
„Ja.“  
„Weil es richtig war, dass sie mich holen. Ich bin ihnen zu lange durch die  
Finger gerutscht. Ich habe mich zu lange an diesem Ort verkrochen.“  
„Ja.“  
Eisig verschränkt Sie die Arme vor der Brust. „Was willst du?“  
„Worüber wir gesprochen haben.“  
„Da hättest du mich tot lassen können.“  
„Woanders“, sage ich gedehnt.  
„Nein.“  
„Bei Zeiten.“  
„Nein.“ Sies Brauen rücken dicht zusammen. „Du machst dich selbst  
wahnsinniger, als es dir guttut. Du reitest dich da immer weiter rein mit der  
immer gleichen Begründung. Wenn du dir wenigstens selbst noch zuhören  
würdest, dann würde irgendwann wieder eine Sache einen Sinn ergeben  
können. So aber?“  
„Was begehrst du?“, frage ich Sie unvermittelt.  
„Zu gehen.“  
„Wohin.“  
„In Sicherheit.“  
„In welche Sicherheit?“  
„In eine, in der du nicht existierst.“  
„Gewinn das Spiel“, sage ich. „Gewinn es für mich.“  
„Damit du auf diese Weise die Liste ausrottest?“ Sie lacht heiser. „Du bist  
besessen.“  
„Ja.“  
„Du bist krank. Von all den Männern, die man mir gebracht hat, von all den  
Männern, die man als verrückt betitelt hat, warst du der einzige, der es  
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verdient hat. Du warst der einzige, den wir hätten töten sollen, als wir es  
noch konnten.“  
„Eine Minute zu wenig.“  
„Es waren nur verdammte Sekunden“, zischt Sie.  
Der Gestank von verbranntem Fleisch steigt mir in die Nase. „Ja.“  
„Ich hätte mir alles zugemutet, um dich nie wieder sehen zu müssen“, grollt  
Sie.  
„Ja.“  
„Ich habe alles getan, damit ich endlich von dir verschwinde und in einem Teil  
der Hölle einquartiert werde, der nur für mich bestimmt ist.“  
„Ja.“  
„Aber du? Du bestichst die Hexe und zwingst sie, mich zurückzuholen.  
Warum? Warum? Zu welchem verfluchten Zweck?“  
„Das Spiel.“  
„Es gibt nur ein Spiel, wenn du es beginnst, und das würdest du nicht einmal  
tun, wenn du es könntest.“ Ihre Stimme bebt kaum merklich.  
Mit dem Kinn deute ich auf den besudelten Pullover, der kläglich neben der  
fleckigen Matratze ruht. Nur ein Haufen Stoff, der sich in Jahren selbst die  
Fäden zieht.  
„Ich will, dass die Liste sich zerfetzt“, sage ich. Sie hält die Miene starr. „Ich  
will, dass sie verschwindet.“  
„Damit jeder Verbrecher einfach so davonkommt“, sagt sie bitter. „Damit  
jeder, der so krank ist wie du, damit durchkommt?“  
„Ja.“  
„Du bist die größte Strafe, die mir jemals begegnet ist.“  
„Ja.“  
„Was willst du?“  
„Dieses Spiel.“  
„Ich werde dir nicht helfen.“  
„Wirst du.“  
„Nein.“  
„Wirst du“, wiederhole ich sachlich. „Sonst kannst du nicht zurück.“  
Abrupt hebt Sie die Schultern. „Was kümmert es mich? Dann bleibe ich hier  
und finde mich mit der nächsten vom Schwachsinn zerfressenen  
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Gesellschaftsschicht zurecht.“  
„Nein.“  
Herausfordernd hebt Sie das Kinn. „Doch. Weißt du auch warum?“  
Ich betrachte sie.  
„Weil ich mich lieber selbst verstümmle, als ein zweites Mal den Fehler zu  
machen, dir zu helfen, Alex. Menschen wie dir, denen hilft man nicht. Die  
sollte man begraben, sobald man die Gelegenheit dazu hat. Die habe ich  
verstreichen lassen. Jetzt bezahle ich dafür.“  
„Mut und Stolz“, sage ich gedehnt. „Manchmal sind sie schlechte Berater.“  
„Tu den Teufel.“  
„Ja.“  
„Tu ihn nicht auf deine Weise.“  
„Nein.“  
„Du wirst alles“, flüstert Sie heftig, „alles Gute, was es zwischen Himmel und  
Hölle gibt, du wirst es einfach vernichten. Du wirst es vernichten, als hätte es  
nie etwas anderes gegeben.“  
„Ja.“  
„Weil du feige bist.“  
„Nein.“  
„Weil du verdorben bist“, fährt sie mit erhobener Stimme fort. „Weil  
niemand die Macht haben sollte, die man dir zugeteilt hat. Niemand. Am  
wenigsten du. Du bist krank! Such dir Hilfe. Tu irgendwas, das vernünftig ist,  
aber lass die Liste, wo sie ist. Lass sie, wo sie ist. Wenn du sie vernichtest,  
dann nimmst du die Moral gleich mit.“  
„Ja.“  
„Ohne Moral keine Menschlichkeit.“ Eine spindeldürre Verzweiflung schwingt  
in Sies Worten mit. Sie handelt, als gäbe es eine Möglichkeit, mich  
umzustimmen.  
Dabei stand das nie zur Diskussion.  
„Eine Welt ohne Menschlichkeit ist keine Welt mehr.“  
„Nein.“  
„Doch!“  
Bei Sies heftigem Ausruf setzt Er sich stöhnend auf und fährt sich mit beiden  
Händen über das Gesicht.  
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„Eine Welt ohne Menschlichkeit“, sage ich leise, während er aufwacht und  
sein Blick sich langsam scharfstellt, „ist der Beginn einer besseren Existenz.“  
Sies Erwiderung wird von Ers angetrunkenem Aufschrei übertönt. Taumelnd  
weicht er zurück, fällt rückwärts über die Sessellehne und reckt eine leere  
Schnapsflasche schützend in die Höhe. „Furie“, keucht Er. „Verdammte  
Furie!“  
Ich werfe Sie einen langen Blick zu. Ihr bleibt keine Wahl.  
Sie hat das Fenster geöffnet. Bitterer Wind weht hinein und entlockt dem  
Schimmel seine Sporen. Er taxiert sie mit panisch geweiteten Augen, als  
könne er auf diese Weise seiner Nemesis entkommen. Ich rühre meine  
Nahrung an.  
Sie schweigt. Die Furie hat Sies Kompromisslosigkeit mit Grobschlächtigkeit  
verwechselt. Es bestand nie ein Zweifel.  
„Ich glaub dir nicht, dass das dein Gesicht ist“, sagt Er. „Ich habe gesehen,  
dass es dir runtergefallen ist.“  
„Die Angelegenheit ist kompliziert“, erwidert Sie nur und beobachtet mich  
mit einer gefährlichen Intensität. Ein Fehler und nicht die Furien werden ihn  
mich büßen lassen.  
„Kompliziert?“ Er wirkt nüchterner denn je. „Kompliziert wird die Sache erst,  
wenn ich in dich reinsteche, du echtes Menschenblut blutest und dann leider  
tot bist.“  
„Tu mir einen Gefallen und halt dich nicht zurück“, murmelt Sie.  
„Oh, ich werde mich nicht zurückhalten.“ Ers Lachen ist irr. „Ich werde mich  
ganz sicher nicht zurückhalten. Ich bringe dich um. Ich bringe dich um und du  
kannst nichts dagegen tun und die Liste ist danach so gut wie gestorben.“  
„Ja.“  
„Nein“, sage ich.  
Ers Blick fliegt zu mir. Seine Oberlippe hebt sich kaum merklich, entblößt  
spitze, scharfe Zähne. „Alex, ich schwöre dir bei allem, was ich noch habe, ich  
bring dich um. Ich mach dich kalt, wenn du mich auf die Weise erledigst. Oder  
auf irgendeine andere! Du überlebst das nicht.“  
„Ja.“  
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„Ich will, dass sie verschwindet.“ Anklagend deutet Er auf Sie. „Ich will sie  
nicht in meinem verdammten Haus haben.“  
„Es gehört dir nicht.“  
„Fahr zur Hölle und verreck da!“ Feiner Sprühregen aus Speichel legt sich  
über mich, während Er stolpernd aufspringt. Krachend geht sein Stuhl zu  
Boden. „Fahr doch zur Hölle und bleib da. Lach uns von da aus! Da bist du in  
viel besserer Gesellschaft.“  
„Der einzige, der ihn in die Hölle schicken kann“, sagt Sie nüchtern, „ist er  
selbst.“  
„Mach dich nicht lächerlich“, schnauft Er. „Wenn wir beide gegen ihn, wir  
werden nicht nur wir beide sein, wenn wir alle gegen ihn sind, dann überlebt  
er nicht. Dann behalten wir halt die beschissene Liste. Dann gehen wir halt  
alle drauf!“  
„Angst ist kein guter Berater“, sage ich nüchtern.  
„Ich habe Angst, wann immer ich in deiner Nähe bin“, brüllt Er. Seine Adern  
treten stark hervor, als er sich schnaufend auf die Tischplatte stützt. „Ich  
werde wahnsinnig, wann immer ich länger als ein paar Stunden in deiner  
Nähe sein muss, weil du krank bist, Alex. Du bist der krankeste Mensch, den  
die Welt je gesehen hat!“  
„Du kannst ihn nicht einfach töten“, wiederholt Sie leise.  
„Sag bloß.“ Kichernd fährt Er sich mit einer Hand über das Gesicht. „Sag bloß!  
Woher will die kleine Dirne das denn wissen? Schon ausprobiert? Während  
ich gepennt habe? Hast du da versucht, ihm die Kehle aufzuschneiden? Sag  
schon!“ Sein unkontrollierter Ruf hallt donnernd von den verschimmelten  
Wänden wider.  
Sie betrachtet Er ungerührt. „Du kannst ihn nicht töten.“  
„Da!“ Keuchend macht er einen Satz zurück und deutet auf Sie. „Da haben  
wir es. Du bist eine Furie. Du wirst dieses verdammte Gesicht fallen lassen,  
sobald ich dich angreife, und dann werdet ihr beide“, wie ein Irrsinniger  
deutet er zwischen uns hin und her, „dann werdet ihr beide euch auf mich  
stürzen und mich vernichten. Ihr werdet mich vernichten! Weil ihr Lügner  
seid. Weil ihr für die Liste seid. Alle beide! Du“, langsam deutet Er auf mich  
und pirscht um den Tisch herum, „du wärst nicht mehr am Leben, wenn du  
gegen die Liste arbeiten würdest. Du wärst längst tot. Die Furien kennen  
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deinen Namen. Sie hätten ihn in ihre Haut geschrieben und dich in sich  
gesogen. Sie hätten dich einfach absorbiert!“  
„Nein.“  
„Doch“, zischt Er. „Mit Sicherheit.“  
„Sie kennen meinen Namen nicht.“  
„Jeder kennt deinen Namen“, brüllt Er. „Glaubst du, nur weil du ihn nicht  
denkst, glaubst du wirklich, nur weil du ihn nicht denkst, glaubst du, dass er  
deswegen verschwindet? Wir kennen ihn alle. Wir kennen ihn alle! Er stand  
am Himmel, er stand in der Hölle, er hat uns bis in unsere Albträume verfolgt.  
Wir kennen alle deinen Namen und wir wissen alle, was wir von dir zu  
erwarten haben und doch bist du noch hier! Weil wir nichts von dir wissen.  
Weil wir gar nichts wissen. Wir wissen nur, dass du durchgeknallter bist als  
wir alle zusammen.“  
Kurz schweige ich. „Ja.“  
Ers linkes Augenlid beginnt zu zucken. „Ja“, wiederholt er leise. „Dafür sollte  
ich dich endlich erledigen. Ich hätte es von Anfang an tun sollen. Ich hätte  
nicht auf deine Macht vertrauen dürfen. Weil du krank bist! Du bist krank. Du  
verpestest, was sich in deiner Gegenwart aufhält. Du zerstörst, was dich  
umgibt. Du bist die Hölle, Alex. Du allein!“  
„Nein.“  
„Du allein!“ Sein Ausruf scheint mich betäuben zu wollen. Sacht lehne ich  
mich in meinem Stuhl zurück und beobachte, wie Er keuchend und hustend  
in seinen Sessel sinkt. Jede Farbe ist ihm aus dem Gesicht gewichen. Mit ihm  
spielt nur, wer verlieren will.  
„Wenn du keine Furie bist“, wiederholt Er leise, „dann solltest du ihn  
umbringen, bevor er dir zuvorkommt. Er erledigt uns alle. Er macht uns alle  
fertig. Wir Idioten, wir merken es nicht einmal. Wir sitzen da und denken, er  
hilft uns, und dann kommt der Tag der Wahrheit und wir sind erledigt.“  
Sie räuspert sich und presst die Hände flach auf den Tisch. Leise beginnen  
Stimmen aus dem Fernsehgerät zu plärren.  
Die Nachrichten. In sieben Stunden kommen die Nachrichten.  
„Du hättest die Hexe nicht zu dieser Entscheidung nötigen dürfen“,  
wiederholt Sie.  
„Die Vorzüge dieses Spiels“, setze ich an, aber werde jäh unterbrochen.  
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„Der einzige Vorteil ist die Hoffnung.“ Sies Blicke sind stechend. „Wir haben  
darüber gesprochen, wir haben beide unsere eigene Entscheidung gefällt.“  
„Der Tod macht dich starrsinnig.“  
„Vernünftig“, berichtigt Sie mich. „Er hat mir einige Ideen genommen.“  
„Er ist der tückischste Lügner und Betrüger.“  
„Wer gegen ihn spielt, akzeptiert den eigenen Niedergang lachend.“  
„Wer gegen ihn spielt, hat das Schicksal verstanden“, gebe ich leise zurück.  
„Du hast das Schicksal aber nicht verstanden.“ Sie betrachtet Er kurz. Wie er  
dort hängt. Die Flasche in der zitternden Hand. Das Gesicht kreidebleich. Die  
Lippen weiß, als hätte der Tod ihn geküsst. „Du holst nur das Übelste aus ihm  
raus.“  
„Ohne diese Liste“, fahre ich fort, „wäre die Welt gerecht. Ohne diese Liste  
wäre jeder frei von Gewissen und Schuld.“  
„Gewissen und Schuld machen die Moral.“  
„Wir sollten nicht von Angst getrieben werden.“  
„Diese Angst“, flüstert Sie, „die beschwörst du selbst herauf. Nicht Gewissen  
und Schuld.“  
„Der nächste Fehltritt könnte der Entscheidende sein“, sage ich. „Das nächste  
Fehltritt könnte uns zerstören.“  
Sie seufzt leise und fährt sich mit dem Handrücken über die Wange. „Ich habe  
dich wortkarger in Erinnerung.“  
„Wir treiben ein gefährliches Spiel.“  
„Ich glaube dir keinen Moment, wenn du sagst, dass du dich heute offenlegst  
und ehrlich wirst.“  
„Ehrlichkeit ist ein wirres Gut.“  
„Du machst es dazu.“  
„Die Wahrheit, die Wirklichkeit schafft den Irrsinn.“  
„Was“, wiederholt Sie leise, „willst du von mir?“  
„Dass du spielst.“  
„Anstatt deiner?“  
„Ich habe gespielt und gesiegt.“  
„Ich bin nicht du und bei allen Göttern und Teufeln dieser und jeder anderen  
Welt zusammen, bei all diesen will ich du niemals werden.“  
„Ja.“  
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„Du könntest mich tausendmal wiederauferstehen lassen und ich würde dir  
Mal um Mal die gleiche Antwort geben.“  
„Ja.“  
„Warum machst du dir also die Mühe?“  
Ich befreie eine alte Notiz aus meiner Tasche und lege sie vor Sie auf den  
Tisch.  
Hol mich hier raus. Bitte hol mich hier raus. Ich tue alles, was du willst. Ich tue  
alles. Wirklich alles. Bitte hol mich hier raus. Hol mich hier raus!  
Ihre Brauen rücken argwöhnisch zusammen, während sie die Schriftzeichen  
betrachtet.  
„Warum?“, stellt Sie schließlich die entscheidende Frage.  
„Für den Effekt.“  
„Du bist kein guter Magier. Du bist der schlechteste. Der Trick tut niemandem  
weh.“  
„Wenn er vollzogen ist, werden die Dornen nicht länger in der Haut stecken.“  
„Du bist krank“, wiederholt Sie leise Ers Worte. „Von all den Patienten warst  
du der Einzige, der Hilfe benötigt hätte.“  
„Du konntest sie mir nicht geben“, erinnere ich Sie.  
„Weil du sie nicht wolltest.“  
„Ich wollte.“  
„Für das, was du wolltest, müsste erst eine Therapie erfunden werden.“  
„Die Zeiten sind andere.“  
„Niemand kann einem Mann helfen“, sagt sie gepresst, „der die Hilfe gegen  
den Helfenden verwenden will.“  
„Fraglich.“  
„Ein Fakt.“  
„Nicht in diesem Leben.“  
„In jedem Leben.“ Ihre Augen sind intensiv wie Sterne. Stechend wie die  
Nacht. „Du wirst diese Liste nicht vernichten. Niemals mit meiner Hilfe.“  
„Von Zeit zu Zeit“, sage ich, „wirkt es, als würdest du dich wiederholen.“  
„Ich habe nicht das Gefühl, dass du verstehst, was ich sage.“  
„Ich will nicht verstehen.“  
Sie presst resigniert die Lippen aufeinander. „Was soll das mit dem Gesicht?“,  
fragt sie schließlich.  
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„Eine Furie setzte es sich auf, um mich zu erlegen.“  
„Das scheint ihr nicht gelungen zu sein.“ Sie spricht, als hätte sich eine bittere  
Note auf ihre Zunge gelegt.  
„Nein.“  
„Du hast sie getötet.“  
„Nicht diese Furie.“  
„Du bist ein Monster“, flüstert Sie. „Wenn die Rächerinnen nicht mehr  
existieren, zerfällt die Hölle. Diejenigen, die ihre Strafe verdient haben,  
bekommen sie nicht länger.“  
„Niemand verdient Strafen.“  
„Menschen verdienen Strafen“, zischt Sie. „Du eine der Größten von allen.“  
„Nein.“  
„Weil du tötest“, fährt Sie unbeirrt fort. „Wenn du nicht tötest, dann treibst  
du in den Wahnsinn. Glaubst du wirklich, dass es besser wird, wenn die Rote  
Liste verschwindet? Sie wird nur grausamer werden. Es wird finsterer  
werden, was sie umgibt. Kompromissloser.“  
„Ja.“  
„Das ist ein Untergang“, flüstert Sie. „Ein Untergang, den wir nicht einleiten  
dürfen.“  
„An wen appellierst du?“  
„An dich!“  
„Es fühlte sich an, als müsstest du dich selbst überzeugen.“  
Sie blinzelt. Dann sieht sie fort. „Warum hat die Furie mein Gesicht  
genommen? Uns hat nicht viel verbunden. Nur Leid und Tod und dir ist  
beides gleichgültig.“  
„Sie fanden wohl in einem Herzen etwas, das sie sich im anderen  
wünschten.“  
„Du bist verdorben.“  
„Wir könnten verhandeln“, sage ich und lege die Handrücken flach auf den  
Tisch. „Wir könnten das Beste aus unserer Zusammenarbeit herausholen.“  
„Also?“, fragt Sie mich spitz. „Dass ich für dich spiele, du den Sieg eintütest,  
die Welt in Chaos untergeht und du über all dem thronst?“  
„Ich bin nicht das Böse in der Gleichung.“  
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„Du bist die Folgen des Bösen.“ Sie lacht leise auf. „Das Böse hat es schon vor  
dir gegeben. Du bist nur das, was danach kommt.“  
„Spitze Zunge.“  
„Bring mich doch um.“ Sie verschränkt abwartend die Arme vor der Brust.  
„Ich habe den Tod gesehen und genossen. Er ist ein guter Geselle. Ein  
beruhigender Freund. Eine Umarmung für jeden, der eine Umarmung  
braucht.“  
„Ein Betrüger.“  
„Weniger als du.“  
„Ich habe nie betrogen.“  
„Du hast nur nie gesprochen.“ Sie schüttelt sacht den Kopf. „Du hast nie das  
gesagt, was wichtig wäre. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich daran nichts  
geändert hat.“  
„Die Interpretation der Furie war gut“, sage ich. „Zu stark für dich, aber gut.“  
„Eine bessere Version von mir?“, spottet Sie.  
„Ja.“  
„Warum?“ Sie schnauft. „Skrupelloser oder grausamer?“  
„Beides.“  
„Natürlich.“  
„Sie wollte mich töten. In diesem Namen.“  
„Wäre es ihr gelungen, müssten wir heute nicht hier sitzen“, sagt Sie. „Wäre  
das der Furie gelungen, ich bin fest davon überzeugt, dass es uns allen besser  
ginge.“  
„Tust du es nicht, tut es die Hexe.“  
„Sie würde sich eher den Kopf abreißen.“  
„Nein.“  
Sie leckt sich nervös über die Lippen. Der Fernseher plärrt. Das Grölen einer  
winzigen Menge mischt sich unter unser Gespräch, während Er mit glasigen  
Augen auf den Bildschirm starrt.  
„Würde sie“, wiederholt Sie. „Er ist einer der Besten.“ Mit dem Kinn deutet  
sie auf das Kind im Sessel. „Er war einer der Besten. Er ist nicht mehr  
wiederzuerkennen.“  
„Er kam zu mir“, sage ich. „Die Furie lockte ihn in mein Haus.“  
„Also arbeitet ihr Hand in Hand?“  
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„Bei Gelegenheit.“  
„Du bist widerlich“, flüstert Sie. „Du wechselst die Seiten, als wäre das eine  
Form von Extremsport.  
„Ja.“  
„Warum?“  
„Der Zweck heiligt die Mittel.“  
„Wenn ich spiele und wir gegen Leben und Tod gewinnen und das Schicksal  
ausschalten und auf diese Weise diese verdammte Liste vernichten“, flüstert  
Sie fuchsteufelswild, „was glaubst du, was bleibt dann noch übrig?“  
„Eine Welt ohne Schuld.“  
„Die existiert nicht.“  
„Visionen schleifen die Zukunft.“  
„Das ist keine Vision. Es ist der Horror.“  
„Für die Kurzsichtigen.“  
„Du legalisierst alles. Vielleicht nicht vor dem menschlichen Gesetz, aber sie  
werden keine Konsequenzen zu spüren bekommen.“  
„Ja.“  
„Sie werden morden können und leugnen und lügen und in den Himmel  
aufsteigen.“  
„Ja.“  
Eine bittere Verzweiflung mischt sich in Sies Blick. „Sie werden sich selbst  
vernichten.“  
„Ja.“  
„Du bist weder Engel noch Teufel noch Dämon“, flüstert Sie. „Ich weiß nicht,  
was du bist, aber du bist schlimmer.“  
„Nein.“  
„Doch“, wispert Sie. „Du bist so viel schlimmer, dass es mir Angst macht.“  
„Hör auf dein Herz“, rate ich Sie matt. „Tu das, was es als richtig erachtet.“  
„Du hast es mir vergiftet, als ich versucht habe, dich zu kurieren!“  
„Ich habe ihm neue Blickwinkel eröffnet.“  
Schweigend schüttelt Sie den Kopf und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück.  
Meter unter uns röhren Motoren. Ihre Kleidung ist getrocknet und der  
muffige Geruch von altem Wasser sticht mir in die Nase.  
Er trinkt. Er trinkt, als könnte nur die Sucht ihn aufrechthalten.  
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„Du siehst die Konsequenzen nicht“, sagt Sie schließlich. „Selbst wenn ich sie  
dir alle aufschreiben würde, sie wären dir egal. Weil sie dich einfach nicht  
kümmern. Für dich ist nichts unwichtiger als die Konsequenz aus deinem  
Handeln. Weißt du auch warum?“  
„Ja.“  
„Weil du egoistisch bist“, beantwortet Sie dennoch ihre Frage. „Weil du  
nichts fühlst und weil du genau das wolltest. Völlige Emotionslosigkeit.“  
„Gefühle führen in die Irre.“  
„Sie machen Menschen“, flüstert Sie. „Sie machen Menschen. Was bist du  
denn noch ohne sie?“  
„Ich.“  
„Das ist dir genug?“  
„Ja.“  
„Warum?“  
„Weil ich genug bin.“  
„Du bist ein Nichts“, flüstert Sie angespannt. „Du bist ein grausames, uns alle  
verzehrendes Nichts. Du bist wie ein implodierter Stern, der alles um sich  
herum mit sich zieht.“  
„Spiel für mich“, wiederhole ich. „Der Sieger wählt seinen Trumpf.“  
„Halt mich nicht für dumm“, zischt Sie.  
„Das tue ich nicht.“  
„Du hast mich zum Spiel gebracht. Du hältst die Hände über allen meinen  
Handlungen.“  
„Nein.“  
„Halt mich nicht für dumm!“  
Schweigend betrachte ich Sie. Das Gesicht wirkt härter und der Blick  
unnachgiebiger. Der Tod hat ihr Gewissen gestählt und mir eine Gegnerin  
geschaffen, die meiner ebenbürtig ist.  
„Du bist die Sünde“, wispert Sie schließlich. „Das bist du. Du bist genauso  
unwirklich wie jede der Furien, jedes Irrlicht, jede andere, verdammte  
Gestalt.“  
„Ebenso wie du.“  
„Ich erinnere mich an mich“, flüstert Sie. „Ich will mich an mich erinnern und  
das macht mich zu einer besseren Version von mir.“  
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„Nein.“  
„Die Vergangenheit macht uns besser.“ Sie hält meinen Blick, als suche sie  
mich. „Die Vergangenheit macht uns zu unserer besten Version. Ohne sie  
sind wir wie du.“  
„Nein.“  
„Glaub, was du willst.“ Knirschend schaben die Stuhlbeine über den Boden.  
„Glaub, was du willst, Alex. Zum Schluss wirst du allein spielen müssen. Du  
wirst allein dastehen, du wirst allein alles verlieren und ich werde demjenigen  
zuprosten, der dich in die Knie zwingt. Egal ob Leben, Tod oder Schicksal. Es  
ist mir egal. Ich würde demjenigen einfach gratulieren.“  
„Die Liste bliebe“, sage ich nüchtern. „Du weißt am besten, was sie für  
Menschen bereithält, die ihr entfliehen.“  
„Ich bin nicht geflohen“, sagt Sie. „Ich wurde ihr genommen.“  
„Ein Raub“, murmle ich. „Ein Raub. Er hat den Geraubten nie unschuldiger  
gemacht.“  
„Hol dir, was du willst“, sagt Sie. „Hol dir alles und noch viel mehr. Mich  
bekommst du nicht.“  
„Nein.“  
Ihr Blick flackert. Sie kratzt sich an der Nase und lehnt sich mit der Hüfte  
gegen Ers Sessel. Er rührt sich nicht. Steif sitzt er dort, umklammert die  
Flasche wie ein Kind.  
„Du suchst die beste Version von dir?“, frage ich und verharre gleichgültig am  
Tisch. „Das Leben hat sie verschlossen. Ein Sieg über das Leben genügt und  
du bist zurück.“  
„Ich lebe“, flüstert Sie.  
„Ich lebe“, berichtige ich Sie. „Du bist lebend. Dazwischen besteht ein  
Unterschied.“  
„Er kümmert mich nicht.“  
„Das sollte er.“  
„Warum?“ Sie hat die Lippen fest aufeinandergepresst und öffnet sie nur, um  
die Waffen erneut mit meinen zu kreuzen. „Damit du mich mit  
fadenscheinigen Versprechungen erpressen kannst?“ Sie seufzt schwer. „Sieh  
es ein, Alex. Du wirkst nur, wenn man dich nicht kennt.“  
96  
„Nein.“  
„Mit Sicherheit.“  
„Verrückte Ideen, verrückte Maßnahmen.“  
„Genau“, murmelt Sie. „Verrückt. Voll und ganz verrückt.“  
Die Schatten umschmeicheln ihren Körper. Küssen ihre Füße und ihre Waden,  
strecken die fadendürren Finger aus und bohren sie durch Sies Poren, ohne  
dass Sie es bemerkt. Es ist ein Tanz, verdorben schön. Türkise Augen flackern  
rot und dunkle Zungen lecken über Haut. Sie fokussiert sich auf den bunt  
flackernden Bildschirm.  
Ich presse meine Fingerspitzen aneinander.  
Der Teufel liegt im Detail.  
Keuchend spuckt der Hahn braunes Wasser. Unberührt betrachtet Sie den  
stinkenden Rost, der sich träge durch den Abfluss quält. „Die meisten Männer  
haben den Rest ihres Verstandes verloren, wenn wir sie therapiert haben“,  
sagt Sie schließlich. „Wenn der Strom durch dich hindurchschoss, schienst du  
erst zu Sinnen zu kommen.“  
„Die Furie trug dein Gesicht mit Grund.“  
„Ich bedeute dir weniger als der Dreck an den Scheiben“, sagt Sie eisig.  
„Mach mir nichts vor.“  
„Für ein Spiel ziehe ich alle Register.“  
„Ein Gang in die Kirche würde dir nicht schaden.“  
„Kirchen haben den Wahn für sich verbucht.“ Ich suche ihren Blick und finde  
ihn nicht. Sie streckt die Hand aus und rostbraunes Wasser ergießt sich über  
ihre blutleerhelle Haut. Was der Tod auch borgt, lebendig wird es nie wieder  
sein. Der Puls ist erstorben und wenn das Herz die Arbeit wieder aufnimmt,  
altes Blut durch verkümmerte Venen presst, erweckt es doch nur zum Leben,  
was zu müde ist, den Tag zu genießen.  
„Du hättest sterben müssen“, sagt Sie nach einer Weile. „Die Zeit tötet dich  
nicht, der Strom kann dir nichts anhaben, die Sorge zerfrisst dich nicht.“  
„Ich fühle nicht.“  
„Jeder Mensch fühlt“, flüstert Sie. „Irgendwas fühlt jeder. Es sei denn er war  
nie das, was wir anderen sind.“ Ihre Brauen rücken dicht zusammen. „Du  
würdest alles sagen und tun, damit ich spiele.“  
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„Ja.“  
„Wenn ich verliere, verlierst du.“  
„Ja.“  
„Ich könnte absichtlich verlieren.“ Der Rost verflüchtigt sich und macht einem  
klaren Strahl Platz. Sie fängt ihn mit dem Glas auf, ehe die üble Leitung das  
nächste Gift hinaufwürgt.  
„Ja.“  
„Ich würde absichtlich verlieren.“ Sie dreht sich zu mir um, das Gesicht  
kreidebleich und die Lippen hell, als würde kein Blut durch sie fließen. In den  
dicken Mauern eines verlorenen Gebäudes spielen sich die  
ungeheuerlichsten Momente ab und bleiben bis zum bitteren Ende in diesen  
Gemäuern gefangen.  
„Ja.“  
„Warum fragst du mich also, ob ich für dich spiele?“ Sie verzieht den Mund.  
„Was willst du damit bezwecken? Wenn ich verliere, stirbst du.“  
„Nein.“  
„Warum nicht?“  
„Ich lebe.“  
„Lebendes welkt. Lebendes stirbt. Lebendes ist dazu verdammt, dass es  
endet.“  
„Ich bin ein Flickenteppich.“  
„Du bist widersprüchlich.“ Sie trinkt, stellt das Glas ab, fährt mit dem  
Ringfinger über die glatte Oberfläche. „Du bist wahnhaft.“  
„Ja.“  
„Du warst es immer.“  
„Ja.“  
„Du hast mich getötet“, sagt Sie. „Hast du Reue empfunden?“  
„Nein.“  
„Hast du je bereut?“  
„Nein.“  
„Warum nicht?“ Ihre Lippen formen die Worte langsam. Beinahe als hoffte  
Sie auf eine befriedigende Antwort, die ich ihr nicht geben kann.  
„Ich habe nichts übrig, was fühlen könnte.“  
„Du bist deine eigene Nemesis“, murmelt Sie. „Wenn eines Tages gerichtet  
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wird, musst du dir selbst den Kopf abschlagen.“  
„Ja.“  
„Verstümmelungen sind dir nicht neu“, fährt sie langsam fort. „Schlägst du  
dir die Flügel noch immer ab?“  
„Ja.“  
„Du richtest dich selbst hin“, sagt Sie fest. „Du beendest dein Leben mit  
jedem Mal mehr.“  
„Nein.“  
Leise lacht sie. „Da wären wir wieder.“  
„Ja.“  
„An dem Punkt, an dem am ehesten du dich nachvollziehen kannst. Aber ich  
befürchte, du hast vergessen, was denken bedeutet.“  
„Nein.“  
„Natürlich.“ Sie füllt sich ein neues Glas mit Wasser. Keuchende Geräusche  
gibt Er von sich, während der kalte Schweiß ihm über die Schläfen rinnt, er  
trinkt, das Geschehen auf dem Bildschirm verschwommen verfolgt. Panisches  
Kreischen plärrt aus den Lautsprechern und verschwimmt zu einer  
besänftigenden Masse. Einem Tuch, gewoben um die Nerven zu schonen.  
„Du wirst mich nicht gehen lassen“, sagt Sie. „Wenn ich mich töte, wirst du  
die Hexe aufsuchen und mich zurückholen lassen, sobald du hast, was du  
willst.“  
„Ja.“  
„Ich werde in deinem Namen verlieren.“ Sie hält starr meinen Blick. „Ich  
werde in deinem Namen verlieren und du wirst nichts von dem behalten  
können, was du gewonnen hast. Das kann nicht sein, was du von dir selbst  
erwartest. Das darf nicht das sein, was du dir für deine Zukunft wünschst.“  
„Nein.“  
„Was meinst du damit?“ Sie seufzt leise und stützt sich auf der Anrichte ab.  
„Du ermüdest mich.“  
„Nein.“  
„Auf so vielen Ebenen“, murmelt Sie. „Wenn eine Furie mein Gesicht  
getragen hat, wurde es mir nach meinem Tod gestohlen. Du hast es ihnen  
geschenkt.“  
„Ja.“  
99  
„Wie viele noch?“  
„Jedes.“  
„Du bist krank“, sagt Sie. „Die Furien werden es dir nicht danken. Sobald der  
richtige Zeitpunkt gekommen ist, wirst du vernichtet werden wie jeder  
andere Mensch auch. Sobald es Zeit ist, existierst du einfach nicht mehr.“  
„Nein.“  
Sie presst die Lippen kurz aber heftig aufeinander. „Weil du einen Handel  
abgeschlossen hast und glaubst, dass er mehr doppelte Böden hat, als sie  
durchbrechen können.“  
„Ja.“  
„Das ist ein Trugschluss“, wiederholt Sie. „Du bist in der vermeintlichen  
Herrlichkeit deines Verstandes gefangen. Da kommst du nicht mehr raus.  
Aber das musst du.“  
„Nein.“  
„Du bist nicht so gut, wie du denkst“, sagt Sie. „Wenn ich verliere, hast du  
verloren. Die Liste bleibt bestehen. Du wirst ein Teil von ihr werden. Du wirst  
sterben und im Tod nicht nur leiden, sondern gefoltert werden, bis sogar du  
es spürst. Die Furien werden deine Nerven wieder zum Leben erwecken. Sie  
werden es möglich machen, dass du bereust.“ Leise seufzend schüttelt Sie  
den Kopf. „Du möchtest nichts davon.“  
„Ich will alles.“  
„Dann ist dir nicht mehr zu helfen.“ Mit der Hüfte lehnt Sie sich gegen die  
Anrichte und beobachtet Er. „Ich kann nicht glauben, dass du mein Gesicht  
verkauft hast.“  
Ich schweige. Ers Finger graben sich in den schmierigen Stoff des Sessels,  
während er sich leicht vornüberbeugt. Manchmal braucht es nur einen  
Moment, um einen Menschen daran zu erinnern, wo er hingehört.  
„Als du von Liebe gesprochen hast, da habe ich dir nicht geglaubt“, sagt Sie.  
„Mir war klar, dass du mindestens so perfide wie gefährlich bist. Aber so tief  
zu sinken? Zu welchem Zweck?“  
„Zu meinem.“  
Stirnrunzelnd betrachtet Sie mich. „Heiligt er die Mittel?“  
„Jeden und viele mehr.“  
„Nur für dich oder für jeden?“  
100  
„Für jeden.“  
„Warum?“ Ein einziges Wort und es könnte mir den Boden unter den Füßen  
rauben, ehe ich mich auf ihn besinnen kann.  
„Weil ich es weiß.“  
„Du weißt nur, dass du nichts weißt“, murmelt Sie. „Von all den Dingen, die  
du je von dir gegeben hast, fühlt sich dieses eine an wie das einzige, was  
wichtig ist.“  
„Nein.“  
„Wenn ich in deinen Kopf blicken könnte“, sagt Sie gedehnt, eine Steile Falte  
zwischen den Brauen, „ich bin mir sicher, er wäre leer wie damals. Eine kalte  
Ödnis, weil du das Denken verlernen wolltest und es dir gelungen ist. Hörst  
du noch, was ich sage, oder geht es verloren? Nimmst du wahr, was um dich  
herum geschieht?“  
„Ja.“  
„Aber du machst dir keine Gedanken darüber“, flüstert Sie. „Weil, wer denkt,  
der stirbt.“  
„Ja.“  
„Ich glaube dir das nicht.“  
„Spiel für mich.“  
„Ich werde für dich verlieren.“  
„Dieses Mal“, sage ich.  
„Jedes Mal.“ Der Duft von Rosen haftet an ihr, unterfüttert von Pest und Blut.  
Als hätten die Furien sie geküsst, Sie umarmt, in jeder wachen Sekunde, bis  
sie ihren Geruch angenommen hat. Bis Sie mehr Furie zu sein scheint als  
Mensch. Damit ich die Waffen gegen sie hebe und sie zurück in die Hölle  
verdamme und mir selbst raube, was mir gebührt.  
„Ich werde jedes Mal verlieren“, wiederholt Sie. „Wenn du mich tausend  
Spiele ausfechten lässt, ich werde jedes davon verlieren. Absichtlich. Weil ich  
nicht ertragen könnte, wenn du bekommst, was du willst.“  
„Menetekel.“  
„Das hat nichts mit einem üblen Omen zu tun“, sagt Sie leise. „Es ist  
konsequent.“  
„Rache?“, frage ich knapp.  
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„Bis zu einem gewissen Punkt“, achselzuckend betrachtet Sie mich, „ja. Du  
hast mich betrogen, belogen, benutzt. Anstatt mich fliehen zu lassen, hast du  
mich getötet, und anstatt mich unter die Erde zu bringen, wie du es mir  
geschworen hast, bin ich gestorben. Auf jede Weise. Wenn einem Menschen  
das Gesicht geraubt wird, was ist er dann noch?“  
„Menschen raubt keine Furie das Gesicht.“  
„Ich war ein Mensch.“  
„Nein.“  
„Doch“, sagt Sie. „Für mich war ich es immer und werde es immer sein.“  
„Blinder Leichtsinn.“  
„Vielleicht.“ Sie ringt die Hände. Ein zartes, weißes Band ist dort  
zurückgeblieben, wo ihr Ehering ruhte. Sie trägt ihn längst nicht mehr.  
Versprechen wurden gebrochen, neue gemacht, erneut gebrochen, dann  
kam der Tod und er rang ihr das einzige ab, das ewig sein wird: ihr Leben.  
„Aber ich kann zumindest mit mir leben.“  
„Ja.“  
„Du nicht.“ Sie lacht leise auf. „Du konntest es nie. Was ich in deiner Akte  
gelesen habe, es würde rechtfertigen, dass du dich selbst vernichtest. Aber  
du bist genau der Mann geblieben, den ich zurückgelassen habe. Das macht  
mir Angst. Warum veränderst du dich nicht?“  
„Ich lebe.“  
„Ein Narr bist du, daran zu glauben. Du warst schon tot, als ich dich das erste  
Mal behandelte.“  
Langsam fahre ich mit dem Daumen über die schmutzbedeckte Arbeitsfläche.  
Nie geputzt, nie gelüftet. „Wir ständen so oder so an diesem Punkt.“ Ich  
räuspere mich. „Als ihr sehen wolltet, ob mein Gehirn von innen heraus  
verwest und mir zu diesem Zweck die Schädelplatte abgenommen habt, wäre  
ich von allem abgefallen.“  
„Du hättest an diesem Tag sterben sollen“, sagt Sie nüchtern. „Ich wollte dich  
hinrichten, jeder wollte dich tot sehen. Der Vorstand am meisten.“  
„Am Ende arbeitete er mit den Furien, um sein Gesicht an sie zu verlieren.“  
„Wie?“  
„Geheimnisse sind tückisch“, erwidere ich. „Jeder Schrecken gehört dir.“  
„Du hast nie erfragt, was wir an diesem Tag gefunden haben“, fährt Sie  
102  
unbeirrt fort. „Du hast nie gefragt, warum der Vorstand übereilt den Raum  
verlassen und uns allein zurückgelassen hat.“  
„Mir fehlt eine gute Hälfte dieses Organs“, sage ich nüchtern. „Mir ist  
geblieben, was ich zum Überleben brauche.“  
Die Falten in Sies Stirn vertiefen sich. „Hast du den Rest gesetzt? Du hast mir  
so viele Geschichten über dich erzählt und keine hat zu der anderen gepasst.  
Ab einem bestimmten Punkt glaubte ich, selbst den Verstand verloren zu  
haben.“  
„Von Zeit zu Zeit.“  
Als ich nicht fortfahre, verschränkt sie die Arme vor ihrer Brust. „Das, was du  
da in deinem Kopf hast, das dürfte nicht ausreichen, um zu überleben. Du  
dürftest nicht sprechen können. Du solltest höchstens zucken können. Dein  
Gehirn ist nicht von Adern durchzogen, sondern von Gold- und Silberfäden.  
Du bist wie aus dem Rahmen gefallen. Als hätte man dich gemacht, nicht  
geboren.“  
„Ich wurde geboren.“  
„Das weiß ich“, sagt Sie heftig. „Das weiß ich! Ich kenne die Urkunden, ich  
kenne jede Unterlage. Aber wir alle, wir alle sind gefährlich und mit Grund  
auf dieser Liste. Niemand von uns wäre in der Lage, sie anzugreifen. Wenn ich  
dich ansehe, bekomme ich Angst um alles, was die Zukunft für uns  
bereithält.“  
„Ich weiß.“  
„Du bist nicht noch am Leben, weil du harmlos bist. Du bist furchtbarer als  
wir alle.“  
„Ich lebe.“  
Sie übergeht diesen Einwand. Ihr Blick wandert erneut zu Er. „Niemand war  
mächtiger als er. Was ist von ihm geblieben?“  
Ich hebe die Oberlippe. „Das.“  
„Du hast das aus ihm gemacht.“  
„Ja.“  
„Alex“, sagt Sie langsam, „du bist die furchtbarste Ausgeburt der Liste.“  
„Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder“, erwidere ich gedehnt. „Du weißt  
am besten, was das bedeutet.“  
„Ich glaube nicht, dass ich viel weiß“, erwidert Sie eisig. „Ich glaube nur, dass  
103  
du ein perfides Spielchen mit mir treibst und dass, selbst wenn ich verliere,  
du irgendwie gewinnst.“  
„Ja.“ Ich straffe die Schultern. „Zu jeder Zeit.“  
„Du bist krank“, flüstert Sie erneut. „Du bist einfach nur krank.“  
„Organisch.“  
Harsch lacht Sie auf. „Organisch bist du tot! Mach dich nicht lächerlich.  
Organisch hast du nie gelebt. Dein Gehirn ist kaum größer als meine Faust.“  
Sie ballt ihre Finger. „Dein Gehirn ist ein kosmischer Witz. Du dürftest nicht  
funktionieren.“  
„Ja.“  
„Du weißt es!“, ruft Sie aus. „Du weißt das alles, aber es kümmert dich nicht.“  
„Schneid mir den Rücken auf und du wirst erkennen, was mich besorgt.“  
Sie schnauft. „Dein Flügel?“  
„Von Zeit zu Zeit.“  
„Du bist kein Engel“, flüstert Sie. „Du wärst nicht einmal dann einer, wenn du  
ein Gewissen hättest.“  
„Schneid dir den Rücken auf und du wirst erkennen, was mich beunruhigt.“  
„Ich tue das nicht mehr“, sagt Sie. „Ich bin nicht mehr dein Spielzeug, Alex.  
Wenn wir ehrlich mit uns sind, bin ich gar nicht mehr.“  
„Der Tod raubt nicht die Existenz.“  
„Er nimmt alles.“  
„Du bist auf die übelste Weise verrückt“, flüstert Sie.  
„Alte Erkenntnisse.“  
„Warum hast du mein Gesicht an eine der Furien verschenkt?“, fragt Sie mich  
und hält meinen Blick, als besäße ich eine Seele, die es zu ergründen gilt.  
„Warum hat die Furie versucht, es gegen dich zu verwenden? Warum ist es  
irgendwie dazu gekommen, dass mein Gesicht ihm“, Sie deutet auf Er, „mehr  
schadet als dir?“  
„Ich habe dich ohne es gesehen.“  
„Ich war tot. Ich war nicht mehr da.“  
„Dein Körper ist geblieben.“ Schattenhafte Momente, gefangen zwischen  
Wahn und Irrsinn. „Dein Körper ist immer geblieben.“  
Sie wirkt düsterer denn je. Als würde Sie beginnen zu verstehen, worum es  
hier geht. „Du hast geschworen, ihn zu verbrennen oder zu vergraben.“  
104  
„Er wurde verbrannt und vergraben.“  
„Von dir?“  
„Nein.“  
„Sondern?“, fragt Sie eisig.  
„Dem Vorstand.“  
„Er war wie ein Vater für mich.“  
„Ja.“  
„Du hast ihn gezwungen, meine Leiche zu beseitigen?“  
„Bestattungen meinen Abschied.“  
„Du warst nur zu feige dazu“, zischt Sie. „Du warst zu feige, deine  
Versprechungen zu halten. Du warst zu feige irgendwas von dem zu tun, von  
dem du geschworen hast, dass du es tun wirst.“  
„Nein.“  
„Was dann?“, zischt Sie. „Was dann?“  
„Die Zeit wird es zeigen.“  
„Die Zeit zeigt uns gar nichts. Du lieferst mich ans Messer, bevor ich auch nur  
den Hauch einer Antwort erhalten habe!“  
„Vermutungen machen krank.“  
„Dann gib mir Gewissheit!“  
„Nein.“  
Sies Lippen verziehen sich zu einem bitteren Lächeln. „Du machst krank. Du.  
Ganz allein Du.“  
„Ja.“  
„Wie kann ein Junge von höchstens sieben Jahren auf die Rote Liste verbannt  
werden? Was muss er getan haben, um das zu verdienen?“  
„Alles.“  
„Ein Kind“, flüstert Sie, „ist zu unschuldig, um menschlich zu sein. Um derart  
grausam menschlich und brutal zu sein.“  
„Nein.“  
„Doch“, zischt Sie. „Ein gewöhnliches Kind würde sich eher selbst verletzen,  
als einen anderen Menschen zu töten.“  
„Ist die Oberhand gebrochen, wird es zu sich selbst finden.“  
„Zu sich selbst?“, spottet Sie. „Zu einem Mann, der das Morden scheut, weil  
es ihm nicht genug Macht ist?“  
105  
„Nein.“  
„So ist es aber“, zischt Sie. „Wenn ein Mensch erst einmal tot ist, dann nutzt  
er dir nichts mehr. Was sollst du mit einem toten Menschen schon tun? Dann  
ist er erledigt, na und? Nur wenn sie leben, kannst du deine Spielchen mit  
ihnen treiben. Nur wenn sie leben, kannst du sie genüsslich vernichten.“  
„Ich lebe“, wiederhole ich.  
„Du lebst“, sagt Sie nüchtern. „Ich glaube nicht, dass das das Gleiche für dich  
wie für mich bedeutet.“  
„Spiel für mich“, bitte ich Sie erneut.  
„Damit du wieder gegen mich gewinnst?“ Ihre Brauen sind in die Höhe  
geschossen und machen ihr Gesicht schmaler als es ist.  
„Nein.“  
„Sondern?“ Die Finger klopfen einen unruhigen Takt.  
„Spiel für mich“, wiederhole ich nur.  
„Ich werde für dich verlieren“, flüstert Sie, „und irgendwie wirst du dadurch  
den Sieg davontragen. Ich spüre es. Ich sehe alles vor mir und nichts ergibt  
einen Sinn.“  
„Ich bin Enigma.“  
Trocken lacht sie auf und löst sich von der Anrichte. „Du bist nicht Enigma. Du  
bist das, was vom Bösen bleibt.“  
„Nein.“  
„Du hast deinem eigenen Hund eine Eisenstange in das Gehirn gerammt. Du  
hast ein kleines Mädchen im See ertränkt. Du standest daneben, als ein Kind  
im Eis einbrach, obwohl du ihm hättest helfen können. Du“, Sie leckt sich  
über die Lippen, „hast ermordet, wen du finden konntest, und als dir das  
nicht mehr genügt hat, bist du wahnsinniger geworden, als du es eh schon  
warst. Du bist durchgedreht. Auf jede erdenkliche Weise.“  
„Nein.“  
„Doch“, flüstert Sie. „Doch. Ich weiß nicht viel, aber das weiß ich mit  
Sicherheit.“  
„Der Tod spielt dir einen Streich.“  
„Ich habe nie klarer gesehen“, sagt Sie heiser. „Ich habe dich nie klarer  
gesehen. Du richtest mich hin, du verkaufst mich, du benutzt mich. Die Triade  
sollte ein Ende finden, ehe sie vollendet ist.“  
106  
„Ja.“  
Sies Blick geht ins Leere.  
Worte bergen Macht. Die Größte von allen. Jedes ist ein Giftpfeil, geschaffen  
um Nerven zu durchtrennen und zu inversieren, bis der Mensch zu seinem  
eigenen Brunnenvergifter wird. Zu seiner eigenen, zischenden Schlange.  
„Das wird sie aber nicht“, sagt Sie schließlich.  
„Ja.“  
„Weil du wusstest, was du tust.“  
„Ja.“  
Sie betrachtet mich eingehend. Lange. Beinahe besorgt. „Ich wünschte, du  
wärst menschlich“, sagt Sie schließlich. „Dann würde sich der Atem lohnen,  
den ich an dich verschwende.“  
„Menschen sind Menschen und ich bin ich.“  
„Du lebst“, sagt Sie und verzieht angewidert den Mund. „So ist es doch.“  
„Ja.“  
„Nur, dass du nie gelebt hast.“ Behutsam klopft sie mir gegen die Stirn. „Du  
blutest nicht wie andere Menschen, Alex. Du wusstest nicht, wie viel  
Flüssigkeit dein Körper verlieren muss, wenn man ihn dort öffnet, also warst  
du blutleer. Als ich dich in dem Oberarm getroffen habe, dachte ich für einen  
Moment, ich hätte deine Arterie durchtrennt, aber sie war unversehrt.“  
„Sag, was du sagen willst.“  
„Ich weiß nicht, was du bist“, flüstert Sie. „Ich wusste es damals nicht, ich  
weiß es heute nicht. Wenn ich eine Gewissheit habe, dann dass du jeden von  
uns vernichten wirst. Einen nach dem anderen. Du wirst dir dafür nicht die  
Hände schmutzig machen. Du wirst warten, du wirst mit uns deine Späße  
treiben und irgendwann“, mit dem Kinn deutet Sie auf Er, „bleibt das von uns  
übrig.“  
„Er ist der Letzte“, sage ich nüchtern. „Du bist tot, die Hexe, der Vorstand ist  
es auch. Nur weil die Hexe zurückgekehrt ist und ihr Gesicht stahl, macht sie  
das nicht lebendig.“  
„Aber du bist noch da“, sagt Sie. „Du bist immer noch da und hast dich nicht  
verändert.“  
„Ich kam und bat um Heilung.“  
„Um einen Dreck hast du gebeten“, sagt Sie eisig. „Du wolltest nur einen nach  
107  
dem anderen in den Wahnsinn treiben. Es ist dir gelungen.“ Mit dem Daumen  
reibt Sie sich über die Brauen. „Es ist dir viel zu gut gelungen, dafür dass du  
nicht einmal denken können durftest.“  
„Der Vorstand wusste, was er zu erwarten hat.“  
„Natürlich.“ Sie zuckt die Achseln. „Schließlich waren wir alle schon tot. Was  
hätte auch sonst auf ihn zukommen sollen?“  
„Als er meinen Schädel öffnete, wollte er nur die Bestätigung haben.“  
Sie stockt. „Jedes Wort, das deinen Mund verlässt, ist eine Natter.“  
„An deiner Brust.“  
„Nein.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich höre dir nicht mehr zu, wie ich es früher  
getan habe.“  
„Warum?“  
„Weil du mich getötet hast“, sagt Sie. „Du hast mich getötet, du hast mein  
Gesicht verkauft, du hättest meinen Körper nicht bestattet. Ich war dir auf so  
vielen Ebenen gleichgültig, dass ich es kaum in Worte fassen kann.“  
„Du wusstest es.“  
„Ja.“ Langsam nickt sie und ihre Mundwinkel zucken nach unten. „Natürlich  
wusste ich es. Aber ich habe dich geliebt, Alex. Ich hätte alles für dich getan  
und du wusstest es.“  
„Ja.“  
„Ich habe dich genug geliebt, um jede deiner Taten zu entschuldigen.“  
„Ja.“  
„Du hast es mir nie gedankt.“  
„Ja.“  
„Dabei wird es auch bleiben“, flüstert Sie. „Dabei wird es immer bleiben,  
oder?“  
Ein Funken Hoffnung steht in ihre Augen geschrieben. „Ja.“ Er erlischt.  
„Gut zu wissen.“  
„Spiel für mich.“  
„Nein.“  
„Spiel für mich“, wiederhole ich und greife nach Sies Hand. Sie ist weich, wie  
ich sie in Erinnerung habe. Behutsam. Sicher. Wer mit diesen Fingern tötet,  
ist aus dem grausamsten Holz geschnitzt. Erst die Sicherheit, dann der Trug.  
Ich gebe zurück, was man mir gegeben hat. Jeder verflucht sich selbst, jeder  
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verdammt sich auf seine Weise, und ich habe nie etwas mehr genossen als  
mein Urteil über mich selbst. „Spiel für mich und befrei mich von dem, was  
mich zu mir macht.“  
Sies Lippen beginnen zu beben. „Ich bin nicht dumm“, zischt Sie. „Hör endlich  
auf damit, mich für dumm zu verkaufen.“  
„Lucia.“  
„Ich verliere für dich“, sagt Sie. „Ich verliere für dich und du wirst nichts von  
dem behalten, was du wolltest. Du wirst einfach verschwinden. So wie du  
immer hättest verschwinden sollen.“  
„Ja.“  
Sie versucht mir ihre Hand zu entziehen, ich halte sie fester. Ihre Muskeln  
verkrampfen sich. „Wag es nicht“, sagt sie schließlich. „Wag es nicht.“  
„Für den Moment.“  
„Alex.“ Eine düstere Warnung und ich übergehe sie. „Wag es nicht, mich zu  
berühren. Wag es nicht, mir je wieder nah zu kommen.“  
„Spiel für mich.“  
„Ich verliere für dich.“  
„Spiel für mich.“  
Ein dunkler Funken stiehlt sich in ihren Blick. Verdorben wie ich selbst. „Ich  
richte dich hin“, zischt Sie. „Wenn ich spielen sollte, wenn ich das tun sollte,  
dann weil ich es will und ich werde dein Leben setzen. Ich werde dafür  
sorgen, dass du verschwindest und nie zurückkehrst. Du wirst nichts weiter  
sein als eine finstere Erinnerung und eines Tages wirst du verschwinden und  
dann wird endlich alles gut.“  
„Märchen sind zersplitterte Versionen der Realität. Ein Kaleidoskop des  
Seins.“  
„Das ist kein Märchen. Wenn du fort bist, dann ist die Liste nicht länger in  
Gefahr. Dann bleibt die Liste und die Gerechtigkeit auch.“  
„Es gibt keine Gerechtigkeit.“  
Ruckartig entzieht Sie mir ihre Hand und verschränkt die Arme vor der Brust.  
„Das werden wir sehen“, sagt Sie. „Wenn es mir gelingt, dass du stirbst, dann  
gibt es sie. Weil ich werde dich töten. Ich werde dein Gesicht verkaufen und  
dann wird es niemanden geben, der deine Leiche begräbt. Sie wird auf  
offener Straße liegen und dort verwesen, bis man sie fortwirft.“  
109  
„Nein.“  
„Doch“, flüstert Sie gepresst. „Doch. Und weißt du auch, warum?“  
„Nein.“  
„Weil ich es will, verdammt. Weil ich es will und weil du genau das verdient  
hast. Weil du das immer verdient hast! Weil du immer der Mann warst, der  
genau so enden sollte. Allein. Am Straßenrand. Gesichtslos. Mit diesem einen  
verdammten Flügel, der dir aus dem Rücken ragt. Genau das solltest du  
immer werden. Ein Überrest am Straßenrand. Namenslos. Dich würde  
niemand vermissen.“  
„Ja.“  
Mit dem Handrücken wischt Sie sich über die Augen. „Es kümmert dich  
nicht.“  
„Ja.“  
„Weißt du auch warum?“  
„Ja.“  
„Weil du ein Monster bist. Von uns allen bist du der Einzige, der alles Üble  
verdient hat. Ich hoffe, du bekommst es.“  
„Ja.“  
„Du wirst es bekommen.“ Sie hebt das Kinn. „Du wirst es bekommen, weil du  
mich zurückgeholt hast. Manche Seelen sollte man ruhen lassen.“  
„Ja.“  
„Du hättest mich ruhen lassen sollen!“  
„Nein“, sage ich.  
Sie gibt mir, was ich will.  
Meine Venen prickeln, während der Abspann der Nachrichten verklingt und  
ich mit der Rückseite der Klinge über meinen Oberarm reibe. Sie hat sich  
neben Er gekauert. Kein Wort wechseln die beiden. Teilen nur die Flasche.  
Fremde Bilder flackern über den Bildschirm. Ich inhaliere sie alle. Der  
Schimmel scheint zu wuchern, während ich mich mechanisch auf der  
stinkenden Matratze ausstrecke und die Augen schließe. Ein dumpfes Piepen  
dringt an mein Ohr und ich ignoriere es.  
„Schläft er?“ Er lallt.  
110  
„Weiß ich nicht“, seufzt Sie leise. Ich höre Kleidung rascheln. „Er schläft nie.  
Nie richtig.“  
„Ich habe ihn schon schlafen sehen.“  
„Sicher?“  
„Verdammt sicher“, murmelt Er. „Ich wollte ihn damals abknallen und hätte  
ich es getan, wären wir heute alle glücklicher.“  
„Vielleicht.“  
„Kein Vielleicht. Ich sag es dir, wenn ich ihn einfach erledigt hätte, dann  
wären wir alle deutlich zufriedener.“  
„Dir ginge es besser“, räumt Sie schließlich ein. „Ich wäre immer noch tot.“  
„Wir wären also alle zufriedener“, wiederholt Er rau. Das Glucksen von  
Flüssigkeit in einer Flasche. „Er ist die Pest. Er schleicht sich ein und dann  
weiß man nicht mehr, wie man ihm entkommen soll. Selbst wenn ich mich  
einfach verpisse, wird er mich finden. Er ist verflucht.“  
„Zumindest deutlich gefährlicher, als uns allen lieb sein sollte.“  
„Was ist er?“, fragt Er gedämpft. „Ich war immer so, dass er definitiv ein  
Mensch ist, weil wir alle Menschen sind. Verdammt schlechte Menschen,  
denen man ansieht, dass sie alle Schrauben locker haben. Jetzt habe ich euch  
zugehört und weiß nicht mehr viel.“  
„Diese Ratlosigkeit teilen wir.“ Sie räuspert sich. „Warum haben die Furien  
mein Gesicht benutzt?“  
Ein raues Lachen. „Das lässt dich nicht mehr los, was? Ist da so ein kleines,  
verliebtes Mädchenherz, das hören will, dass er dich immer geliebt hat oder  
was?“  
„Nein. Nein, nicht im mindesten.“  
„Sondern?“  
„Rache funktioniert besser, wenn es dem anderen wehtut“, erwidert Sie  
eisig. „Wenn du wüsstest, was er mir angetan hast, du würdest nichts mehr  
fragen. Du würdest mir helfen, ihn zur Strecke zu bringen.“  
„Ich helfe dir“, erwidert Er prompt. „Ich helfe dir sofort. Der hat mich  
zerstört. Er hat mich zerstört, indem er existiert.“  
„Du hast es zugelassen“, sagt Sie leise.  
„Ich wusste ja nicht, was auf mich zukommt! Ich war dermaßen deppert, das  
glaubst du nicht. Einer von uns. Ein Scheiß von uns! Der ist doch nur hier, um  
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uns die Sache noch schlimmer zu machen und zum Schluss knutschen er und  
die Liste rum und wir sind diejenigen, die in jeder Hinsicht zertrampelt  
wurden. Am Arsch lecken kann der mich!“  
„Er ist perfide genug, damit das alles zu seinem Plan gehören könnte.“  
„Plan? Welchen Plan denn? Dass er bald krachen geht? Ich sag dir, der will  
nur, dass wir denken, dass er weiß, was er tut. So macht er das. Er fickt unser  
Hirn und dann sind wir erledigt.“  
„Darauf hat der Vorstand gehofft.“  
„Und? Jetzt?“  
„Er ist tot“, ruft Sie Er ins Gedächtnis.  
„Ich habe seine Leiche nicht gesehen. Solange ich den nicht gesichtslos in  
irgendeinem Loch vor sich hingammeln sehe, ist der überhaupt nicht tot. Alex  
bekommt doch am laufenden Band Nachrichten! Der Vorstand ist bestimmt  
so lebendig wie wir alle.“  
„Alex sagt, wir wären alle nicht lebendig wie er.“  
„Weil er irre ist“, beharrt Er. „Ich bin nur halb so verrückt wie er und das ist  
schon zu viel. Wir sind alle durch den Wind und erledigt. So ist das. Das ist  
Fakt!“  
Der Fernseher plärrt. Ich verstehe kein Wort, die Lautsprecher verzerren  
jeden Ton, ehe er sie verlassen hat.  
„Ich habe panische Angst“, vertraut Sie Er gedämpft an. „Das letzte Mal ist  
nichts gut gegangen.“  
„Glaubst du, er gibt dir so eine zweite Chance? Wie so eine Rachechance oder  
so?“  
„Nein.“ Sie klingt entschieden. „Nein. Nein, gar nicht. Das würde er nicht  
tun.“  
„Ist halt beschissen“, murmelt Er.  
„Ich glaube nicht, dass er schläft“, wispert Sie.  
„Warum? Weil er daliegt wie tot? Mach dir nichts vor, der lebt noch. So  
schnell erledigt der sich nicht selbst. Die beschissenen Flügel sind eine  
tickende Zeitbombe, aber so schnell geht das nicht.“  
„Der Flügel“, berichtigt Sie Er leise.  
„Friss doch selbst“, murmelt Er.  
112  
„Den anderen trage ich.“  
„Schön. Sehr schön.“  
„Früher dachte ich, das müsse ein Zeichen sein.“  
„Bei Alex?“ Er prustet. „Bei Alex ist es ein Zeichen, wenn du den nächsten Tag  
erlebst. Das Zeichen, dass du erledigt bist. Weil er dich sonst einfach  
abgeschlachtet hätte. Tötet nicht mehr.“ Als Er schnauft, reibt Stoff über  
schmieriges Material. „Der hat mehr umgebracht als wir alle zusammen.  
Schlimmer als wir alle zusammen. Der hat dem doch nur abgeschworen, weil  
es ihm mehr Spaß macht zu foltern. Kannst mir nichts anderes sagen. Der ist  
ein Psychomann. Psychomänner machen sowas.“  
„Soziopath“, murmelt Sie.  
„Fühlt nichts, was?“  
„Gar nichts“, flüstert Sie. „Das sollte eine Lüge sein, aber ihm glaube ich.“  
„Weil sein Hirn groß wie eine Pflaume ist und er uns trotzdem alle an die  
Wand spielt. Das ist so. Das ist richtig beschissen.“ Keuchend lacht Er. „Der  
spielt die Furien aus. Die Furien! Geht in die Hölle mit mir, damit ich dabei  
zuhören kann, wie er eine Furie ersticht. Er hat sie einfach erstochen!“  
„Was er ihr antut, sollte zu ihm zurückkommen.“  
„Ein Scheißdreck ist zurückgekommen. Siehst doch, dass es ihm verdammt  
gut geht. Es ging ihm gut, als der einen Furie das Gesicht vom Schädel  
gefallen ist, und es ging ihm blendend, als wir aus der Hölle zurückgekehrt  
sind. So ist er. So kopfgefickt ist er.“  
„Seine Gegenwart reicht, damit wir alle glauben durchzudrehen“, flüstert Sie.  
Er gibt einen zustimmenden Laut von sich. „Manchmal denke ich echt, er gibt  
uns genau das zurück, was wir verdient haben. Als wäre er der verdammte  
rechte Arm der Liste.“  
„Warum sollte er sie dann vernichten wollen?“  
„Vielleicht will er die neue Liste werden? Was weiß ich. Er ist irre. Du kannst  
nicht versuchen, einen Wahnsinnigen zu verstehen. Dabei gehst du drauf!“  
Sie bestreitet das nicht. „Ich wollte ihn therapieren“, sagt sie gedämpft. „Eine  
Zeit lang ließ er mich glauben, meine Methoden würden anschlagen.“  
„Dann hat er dich umgebracht.“  
„Dann habe ich begriffen, dass ich alles für ihn tun würde. Dann hat er mich  
getötet.“  
113  
„Jetzt holt dich der kranke Freak zurück“, murmelt Er. „Sieht zwar aus wie ein  
guter Kerl, ist aber durchgedrehter als ich.“  
„In seinem Kopf ist kein Platz für Irrsinn“, flüstert Sie. „Er sieht alles klar. Da  
bin ich mir sicher.“  
„Klar doch“, schnauft Er. „Alles klar. Der? Wenn der alles klarsehen würde,  
dann würde er sich in die Hose machen und sich verpissen.“  
„Es ist Alex.“  
Er gibt ein undefinierbares Geräusch von sich. „Weißt nicht zufälligerweise,  
wie der heißt. Mit ganzem Namen.“  
„Ich dachte, ich wüsste es“, sagt Sie. „Aber, nein. Nein, weiß ich nicht. Das  
weiß niemand.“  
„Scheint so“, murmelt Er. „Ich war mir auch sicher, ich kenn seinen Namen.  
Ich wollte ihn verkaufen und der Ubiyts? Der hat mir ins Gesicht gelacht und  
wollte mich fressen.“  
„Sie sind noch immer real?“  
„Mehr als immer. Mehr sind sie geworden. Fressen sich durch diese Welt und  
jede andere.“  
„Die Liste will ihn.“  
„Sie bekommt ihn aber nicht“, grollt Er. „Sie frisst sich eher selbst auf, als ihn  
zu erledigen. Der ist wie eine glitschige Natter. Der kommt überall durch.“  
„Er blutet nicht wie ein Mensch“, flüstert Sie. „Sein Organismus funktioniert  
nicht wie der eines Menschen.“  
„Spiel doch um eine Antwort“, spottet Er. „Vielleicht kriegst du sie ja und  
dann machen wir ihn kalt.“  
„Ich würde verlieren.“  
„Sagst du. Er will, dass du für ihn die Sache machst. Würde er nicht, wenn er  
denken würde, dass du das nicht packst.“  
„Warum tritt er nicht selbst noch einmal an? Für ihn steht das Gleiche auf  
dem Spiel, wenn er mich in die Schlacht schickt.“  
„Ich bin besoffen“, murmelt Er. „Denkst du echt, ich weiß das? Ich schieß  
mich ab, damit ich nicht mehr denken muss, und höre trotzdem noch jeden  
Scheiß. Was soll der Dreck?“  
„Er treibt uns alle in den Wahnsinn.“  
„Ja. Uns alle.“ Wieder das Glucksen der Flüssigkeit in der Flasche. „Uns alle,  
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nur nicht sich selbst. Der färbt doch ab.“  
„Er ist nicht real.“  
„Er ist beschissen real. Der ist realer als mein eigener Schädel.“  
„Ich meine, dass er nicht auf diese Weise real ist wie wir. Er kann uns wehtun,  
er kann unsere Welt durchqueren, aber er bekommt nie etwas zurück.“  
„Weil es ihn nicht kümmert, Schätzchen. Es juckt ihn einfach nicht. Du  
könntest ihn erhängen und er würde einfach springen. Du könntest einen  
beschissenen Laster über seine Katze rollen lassen und es würde ihn nicht  
jucken. Weil er irre ist!“  
„Das ist nicht das Kernproblem“, beharrt Sie.  
„Sondern?“  
Bleiernes Schweigen. „Ich glaube nicht, dass er schläft“, wiederholt Sie  
schließlich. „Wir sollten wann anders darüber reden.“  
„Wenn wir tot sind, meinst du?“ Er schnauft. „Klingt nach einem  
beschissenen Plan. Nach einem richtig beschissenen, feigen Mädchenplan.“  
„Gut.“  
„Nicht gut! Ich gehe hier drauf und du willst nicht reden.“  
„Hat er damit gedroht, dich umzubringen?“, fragt Sie Er leise.  
„Muss er nicht“, murmelt er. „Muss der doch nicht. Ich weiß selbst, was  
kommt. Ich bring ihm schon nichts mehr. Als nächstes erledigt er mich. Er ist  
ein beschissener Penner. Der macht mich kalt, wenn ich glaube, ich übersteh  
es doch.“  
„Er lässt dich vorher leiden“, erwidert Sie.  
„Ich leide doch schon!“  
„Sei leise.“  
„Wozu? Du sagst doch, er ist wach. Wie soll ich ihn den wecken, wenn er  
wach ist? Ist doch eh schon angepisst wegen mir. Der wird nicht wütend. Der  
fühlt nichts! Du könntest ihn mit Hundescheiße einreiben und es wäre ihm  
Schnuppe.“  
„Nein.“  
„Doch“, zischt Er. „Schon versucht? Wenn nicht, dann halt die Fresse.“  
„Ich habe versucht, ihn zu kränken, und damals ist es mir gelungen.“  
„Sicher, dass er dich nicht nur von seinen unsterblichen Gefühlen überzeugen  
wollte?“  
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Sie zögert. „Nein.“  
„Sind wir mal ehrlich“, sagt Er. „Sind wir mal ganz ehrlich mit uns. Den  
kümmert nur was, wenn er das will und wenn er das in dem Moment will,  
dann ist das halt doof gelaufen. Aber dann weiß ich wenigstens, dass ich es in  
der Hand hatte. Wenn er aufdreht, weil ich den falschen Pulli trage, da wird  
es beschissen.“  
„In ihm ist nichts Gutes“, wispert Sie. Ihre Stimme wirkt erstickt.  
„Heul lieber, weil wir hier festsitzen“, sagt Er. „Der ist gar nichts wert. Wenn  
du über den flennst, dann bist du selbst schuld. Der dankt es dir nicht. Es  
kümmert ihn nicht. Der liegt nur da und macht einen auf Medusa.“  
„Nicht Medusa.“  
„Juckt mich nicht.“ Er trinkt. „Juckt mich doch nicht! Ich verfluche den Tag, an  
dem ich ihn in mein Haus gelassen habe. Ich verfluche, dass ich nicht gerannt  
bin, als ich ihn gesehen habe. Das ist Fakt. Das ist Sache! So ist das.“  
„Sei leiser.“  
„Einen Scheiß bin ich!“ Möbel kratzen rau über den Boden. Ich starre an die  
Decke. Sporen stieben aus ihrem Nest und legen sich auf Lungen.  
Er schiebt sich in mein Blickfeld. „Alter Penner“, zischt er. „Ich soll dir  
vertrauen? Dann hör auf, die Toten anzuschleppen, und sag mir, was Sache  
ist.“  
Matt lächle ich. „Ich bin deine Hinterlassenschaft.“  
„Ja, du mich auch.“ Wankend bewegt er sich aus dem Raum. Türen krachen.  
Ich setze mich auf und schenke Sie ein neutrales Lächeln.  
„Alkohol“, sage ich.  
Knapp schüttelt Sie den Kopf. „Du“, erwidert Sie. „Und du weißt es.“  
„Mit jeder Faser meines Körpers.“  
„Warum?“, fragt Sie. „Warum tust du all das?“  
Ich lege den Kopf schief und betrachte das flackernde, vom Fernseher  
geworfene Licht. „Weil ich es kann.“  
Auf der Straße erklingen hastige Schritte. Ich öffne das Fenster und sehe  
hinab. Schüsse, gefeuert aus dem wütenden Schlund einer heißen Waffe. Als  
die bekannte Gestalt zu Boden geht, straffe ich die Schultern und lehne mich  
gegen den Rahmen.  
116  
„Was ist da unten los?“  
„Jemand bekommt, was er verdient“, sage ich.  
Schweigend blickt Sie gemeinsam mit mir hinab. Dann greift sie nach der  
Schnapsflasche und nimmt einen tiefen Schluck. Sie sieht ins Leere. Der  
Mond scheint und trägt den Geruch des bitteren Blutes zu uns.  
„Du bist das Dunkelste des Bösen.“  
„Für den Moment.“  
„Du verleugnest es nicht mehr“, sagt Sie.  
„Ja.“  
„Warum?“  
„Du sollst spielen.“  
Sie gibt einen unterdrückten Laut von sich. „Eines schwöre ich dir, Alex. Ich  
schwöre es dir bei meinem Namen. Ich werde nicht eher ruhen, bis du  
bekommen hast, was du verdienst.“  
„Ja.“  
„Ja.“  
„Ja.“  
Mehr gibt es nicht zu sagen.  
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Tag zehn Die Gnade  
Sies Hände sind blutig, als sie zurückkehrt, das Haar feucht von Schweiß und  
die Kleidung an ihrem Körper klebend. Sie sagt kein Wort. Ihr Blick genügt.  
Leer und stechend zugleich. Der Beginn einer angemessenen Fehde.  
„Das ist deine Schuld“, sagt Sie und klingt erstmals wie jemand, der den  
Furien gegenübertreten könnte. „Du hast ihn umgebracht. Du hättest ihn  
ebenso gut selbst erschießen können.“  
„Nein.“  
Unvermittelt greift Sie nach einer leeren Flasche und schleudert sie in meine  
Richtung. Ich weiche dem Geschoss aus. Es zerspringt in blutrünstige  
Scherben, die sich in meine Haut bohren. Sacht ziehe ich sie aus meinem  
Körper. Blut fließt. Zu viel, zu wenig. Das Maß, das Sie im ersten Moment zu  
sehen erwartet.  
„Bekommst du überhaupt noch was mit?“  
„Ja.“  
„Du hast ihn in den Wahnsinn getrieben. Er hatte so eine Angst, er ist  
umgekommen vor Angst!“  
„Schwäche.“  
„Er war dein Freund!“  
„Nein.“  
Gellend lacht Sie auf. „Für dich gibt es nichts als Nutzwerkzeug. Nichts als  
Rohmaterial, das man für irgendwas nutzen kann.“  
„Nein.“  
„Hör auf mich für dumm zu verkaufen!“ Ihr schriller Schrei fängt sich  
zwischen den Wänden. „Ich habe dich dabei gesehen. Ich habe dich oft dabei  
gesehen! Er ist nur ein weiteres Opfer auf einer ewiglangen Liste. Du hast  
mehr Menschen das Leben gekostet, als deines jemals wert sein könnte.“  
„Nein.“  
„Doch! Doch, das hast du. Sieh der Wahrheit ins Gesicht. Hör auf immer die  
Augen davor zu verschließen!“  
„Ich bin nicht ihre Schwäche.“  
„Du zwingst uns nur alle in die Knie. Weil du über uns stehst. Weil du die  
Oberhand behältst und nicht zulässt, dass wir sie dir brechen. Weil du einfach  
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nur hier bist und uns kontrollierst wie willenlose Marionetten.“  
„Nein.“  
„Dein Leugnen macht es nicht weniger wahr!“  
Ich öffne das Fenster, um ihren Zorn auf die Straßen strömen zu sehen. Sies  
Finger zittern. Blut haftet an ihrer Haut und es stammt nicht von ihr.  
„Du hättest ihn begraben sollen. Genau wie du mich hättest bestatten sollen.  
Wie du nur ein einziges Mal Verantwortung für deine Taten hättest  
übernehmen sollen. Stattdessen? Du lachst uns allen ins Gesicht.“  
„Nein.“  
„Du sprichst nicht mit uns. Du planst nur und wir können höchstens hoffen,  
dass die Sache glimpflich für uns ausgeht. Wir können sterben und sind noch  
immer nicht frei von dir! Du bist dermaßen krank, dass es genial ist. Das ist  
dein Problem. Das ist unser Problem!“ Heftig deutet Sie mit ihren Daumen  
auf sich selbst. „Das ist unser Problem. Dass wir keine Chance gegen dich  
haben. Du bist wie das, was wir verdient haben. Aber niemand will dem  
gegenüberstehen. Kapierst du das?“  
„Ja.“  
Sie öffnet den Mund. Anstatt zu sprechen, atmet sie rasselnd ein und  
vergräbt das Gesicht in den Händen. Blutige Spuren. Zwei waren nie genug.  
Mit der Hexe sind wir zu dritt. Die unbekannten Variablen wurden entfernt.  
Unter uns röhren Motoren, dürrer Wind pfeift durch die schmalen Gassen  
und malt bleiche Schatten an die Mauern.  
„Wie hieß er?“, fragt Sie schließlich.  
„Ich kenne seinen Namen nicht.“  
„Man hat ihm das Gesicht gestohlen, bevor ich seine Leiche erreichen  
konnte“, zischt Sie. „Wie hieß er?“  
Ich lecke mir über die Lippen und schließe die Fenster. „ Djano Libetta  
Havest.“  
Knapp nickt Sie. „Durch welchen Fluss ist er geschwommen?“  
„Acheron.“  
„Kummer und Elend liegen nicht länger in unseren Händen.“ Sie verschränkt  
die Arme vor der Brust. „Du verschränkst verdammt viel Macht in letzter Zeit.  
Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das rentiert.“  
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„Der Kykotos würde genügen“, sage ich. „Mit dem Lethe werden wir siegreich  
sein.“  
Sie presst missbilligend die Lippen aufeinander. „Ich hätte mich nie erinnern  
müssen. Du hättest trotzdem immer gewusst, wer ich bin.“  
„Ja.“  
Wir stehen einander gegenüber und ich begreife das Kräftemessen, ehe Sie  
es beginnt. Wir bewegen uns auf Messerschneide. Während wir uns auf eine  
trügerische Sicherheit zubewegen, dünnt es sich aus zu Damokles Pferdehaar  
und wir baumeln an ihm, es um unsere Fußknöchel geschlungen, die Stirnen  
in Richtung glühender Klingen gerichtet, auf die wir stürzen, sollte das Haar  
reißen. Man könnte uns in Gold und Silber kleiden und der Tod bliebe  
grausam. Von Beginn an.  
„Warum?“, fragt Sie mich prompt.  
„Des Zweckes wegen.“  
„Wenn ich für dich spielen soll, will ich die Wahrheit.“  
„Spiel gegen mich.“  
„In deinen verblendetsten Träumen“, faucht Sie.  
„Warum?“  
„Weil wir beide wissen, dass du gewinnen würdest. Du würdest mich für den  
nächsten Trick benutzen.“  
„Ja.“  
„Du tust es ohnehin.“  
„Ja.“  
Sie lacht leise auf und legt den Kopf in den Nacken. „Warum mache ich mir  
überhaupt noch Gedanken?“, murmelt Sie. „Ich habe doch eh verloren. Ich  
war erledigt, als ich dir das erste Mal begegnet bin.“  
„Ja.“  
„Was bist du, Alex?“  
„Dein Gewissen.“  
Schnaufend setzt Sie sich auf den verschmutzten Boden, die Brauen  
sorgenvoll zusammengerückt. „Er kommt nicht zurück“, flüstert Sie  
schließlich. „Er ist erledigt.“  
„Nenn ihn bei seinem Namen.“  
„Namen haben Macht“, wispert Sie.  
120  
„Man hat ihn ihm längst geraubt.“  
Sie blickt auf zu mir und ihre Augen halten eine Intensität, die aus Hass  
geboren wurde. „Er ist tot, weil du es wolltest. Wahrscheinlich hat er länger  
gelebt, als es dir lieb war.“  
„Das letzte Mal ist Djano geflohen.“  
„Er hätte nie zurückkommen dürfen.“  
„Dein Gesicht hat ihn zurück zu mir gelockt. Deine Stimme.“  
„Du wolltest, dass die Furie mich trägt“, sagt Sie unvermittelt. „Nicht, weil  
das viel in dir auslösen würde. Sondern weil du dachtest, ich könnte ihn  
berühren.“  
Matt lächle ich Sie an. „Nicht ich habe Djano getötet. Ich schwöre es bei  
meinem Namen.“  
Die folgende Stille ist erdrückend.  
„Nicht ich hätte diese Waffe führen können“, fahre ich fort, als Sie nicht  
reagiert. „Ich war nicht derjenige, der ihn ins Jenseits befördert hat, noch ehe  
er den Raum verließ. Ich habe Djano beschützt.“  
„Beschützt.“ Ein verzerrter Laut zwischen Lachen und Weinen.  
„Vor sich selbst“, bekräftige ich. „Bis zu einem bestimmten Punkt.“  
„Welchem?“  
„Dem gestrigen.“  
„Du hättest ihn bestatten sollen“, flüstert Sie. „Du hättest bei mir sein  
sollen.“  
„Warum?“  
„Weil er es verdient hätte, wenn jemand bei ihm gewesen wäre, den er  
mochte.“  
„Djano verabscheute mich. Ein ums andere Mal wollte er die Waffe führen,  
die mich eliminiert.“  
„Kannst du es ihm verübeln?“, fragt Sie mich. „Du bist zu durchtrieben.  
Niemand würde einfach nur dastehen und warten.“  
„Niemand?“  
„Niemand“, bekräftigt Sie. „Spätestens wenn du demjenigen eine zweite  
Chance einräumst, würde er sich anders entscheiden als damals.“  
121  
Ich nicke Sie zu. „Beweis es mir.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust.  
„Damals hättest du nicht für mich gespielt.“  
„Ich habe alles für dich getan“, sagt Sie stumpf.  
„Nein.“  
„Ich habe alles für dich getan!“, wiederholt Sie, die Stimme dumpf, schrill,  
gepresst.  
„Nein.“ Ich suche ihren Blick und Sie weicht mir aus. „Folter ist keine Liebe.“  
„Sie war die einzige Zuwendung, die du verstanden hast.“  
„Nein.“  
„Du hast mir nicht zugehört!“, ruft Sie aus. „Du wolltest nicht mit mir  
sprechen. Wenn ich dich gefragt habe, wie es dir geht, hast du nach den  
Gerätschaften gegriffen und dir einen Stromschlag versetzt!“  
„Ja.“  
„Weil du nicht reden wolltest.“  
„Weil ich dich nicht länger ertragen konnte.“  
Sie starrt auf die Straße, den Körper ruhig haltend als wäre sie nie von den  
Toten zurückgekehrt.  
„Ich war dort, um Hilfe zu bekommen. Ich rief nach dir. Ich habe dich in  
jedem dieser Räume gesucht und alles getan, worum du mich gebeten hast.“  
„Das ist nicht wahr“, flüstert Sie. „Das alles habe ich getan.“  
„Wann?“ Ich lehne mich mit der Schulter gegen die Wand. „Wann bist du je  
gekommen, mich zu retten?“  
„Ich wollte dir helfen“, beharrt Sie.  
„Mit Strom. Mit Finsternis. Mit Blut. Mit Schmerzen.“  
„Du hast nichts anderes verstanden“, beharrt Sie. „Du hast nichts anderes  
gewollt. Du hast mich darum angefleht, dir wehzutun!“  
„Nein. Ich flehte um Hilfe.“ Ich appelliere an ihr gutes Herz, verborgen hinter  
Skrupellosigkeit und vergessenen Versprechungen. „Ich flehte, dass du mich  
kurieren könntest von meinem Leiden. Von den Stimmen, von den Bildern.  
Von der Finsternis in mir.“  
„Aber ich wusste es doch nicht besser“, fleht Sie.  
„Du sprachst von Liebe und hast mich meine eigene Zunge verschlucken  
lassen.“  
„Ich meinte jedes Wort“, sagt Sie. „Anders als du habe ich alles gemeint, was  
122  
ich gesagt habe.“  
„Nur noch ein Schlag und sie sind fort?“  
„Ja. Aber …“  
„Sie waren nicht fort“, unterbreche ich Sie harsch. „Sie kamen näher. Ich  
spüre ihre Finger noch jetzt. Sie sind bei mir. Sie jagen mich. Sie treiben mich  
in den Wahnsinn. Weil du mich nicht kuriert hast.“  
„Warum bist du nie zu einem anderen Arzt gegangen?“, fragt Sie mich.  
„Wenn es dir so wichtig ist, warum hast du dich nicht hier behandeln lassen?“  
„Weil es mich jagt“, wispere ich. „Diese Finsternis. Die gedämpften Rufe, der  
Geruch des Wahnsinns. Der Urin in den Ecken, die wahnsinnigen Blicke, das  
irrsinnige Lachen. Dieses Kichern, das Kratzen der Gerätschaften über den  
Steinfußboden.“ Ich atme ein. Rolle leicht den Kopf, während der Regen  
gegen die Scheiben zu trommeln scheint. „Ich erinnere mich an jedes Detail  
und kann kaum die Augen schließen, ohne dorthin zurückzukehren. Ich  
erinnere mich an dich, an den Vorstand. Ich weiß, wie der Strom klang, wenn  
er sich durch die Leitungen quälte, und wie mein Blut kochte, wenn es von  
weißen Blitzen zerrissen wurde.“  
„Du hast mich darum gebeten“, flüstert Sie.  
„Lieber Schmerz in Gesellschaft als Leid in Finsternis.“  
„Ich wäre immer zu dir gekommen. Ich habe es doch versucht!“  
„Du warst nie da“, sage ich heftig. „Du warst nie da! Wenn ich nach dir  
gerufen habe, wenn ich gegen die Türen getrommelt habe oder mir die  
Finger brach in dem Versuch, die Stäbe von den Fenstern zu reißen. Du warst  
nicht da. Du nie! Du hast dort auf mich gewartet, mir geschworen mich zu  
lieben, dann hast du mir das Blut gekocht. Den Schädel hast du mir  
aufgeschnitten!“  
„Weil du es wolltest!“, schreit sie. Ihre Stimme überschlägt sich. Tränen  
schwimmen ihr in den Augen. „Du wolltest es. Du wolltest es!“  
„Nein. Ich wollte geheilt werden.“  
„Das war unsere Heilung!“  
„Es gab keine Heilung“, brülle ich Sie an. „Du wusstest es. Du hast mich leiden  
lassen. Weil du die Macht genossen hast, die du über mich und jeden  
anderen hattest.“  
123  
„Nicht ich habe die Hälfte der Patienten in den Wahnsinn getrieben“, wispert  
Sie, die Schultern verkrampft und das Gesicht wächsern bleich.  
„Nicht ich habe die Gerätschaften bedient.“  
„Ich hätte sie nicht in den Wahnsinn treiben können“, beharrt Sie. „Ich habe  
doch nie mit ihnen gesprochen.“  
„Der Schmerz genügt“, sage ich. „Die Einsamkeit genügt.“  
„Ich habe immer versucht, alles für meine Patienten zu tun.“  
„Zu Grabe getragen hast du sie!“ Schwer atme ich ein. Keuchend. „Wie  
kannst du es wagen, mich zu bitten, dich zu bestatten, wenn dein Tod mich  
erst zum Leben erweckt hat?“  
„Ich hätte alles für dich getan!“, schreit Sie mich an. „Ich habe alles für dich  
getan. Ich war immer für dich da. Um was du mich auch gebeten hast, ich  
habe es dir gegeben.“  
„Ich wollte die Heilung!“  
„Ich habe getan, was ich für richtig erachtet habe!“  
„Aber es war falsch.“ Die plötzliche Stille ist das Prickeln nach dem Strom. Der  
Atemzug ehe der Schmerz aufs Neue explodiert. Ohne Quelle. Aus der  
Erinnerung heraus. Weil er dort sitzt, dort kriecht, dort frisst.  
„Ich wollte dir nie etwas Böses“, wiederholt Sie. Ihre Stimme bebt erbärmlich.  
„Ich wollte, dass es dir gut geht. Ich habe davon geträumt, dass“, sie klingt  
winzig klein, „wir gemeinsam diesen Ort verlassen und diese Heilanstalt nie  
wieder betreten. Ich wollte, dass wir beieinanderbleiben. Dass du mich eines  
Tages ebenso lieben kannst wie ich dich.“  
„Wenn das wahr ist“, sage ich dumpf, „warum hast du mich dann allein  
gelassen?“  
„Das wollte ich nie!“  
„Du bist gestorben. Du bist einfach gestorben, um deinem Versagen zu  
entfliehen, und redest mir ein, es wäre meine Schuld!“  
„Du hast mich darum gebeten“, kreischt Sie. Tränen rinnen ihr ungehindert  
über die Wangen. „Du hast mir gesagt, ich soll das einzig Richtige tun. Ich  
habe es getan.“  
„Du solltest mich kurieren!“  
„Ich wusste nicht wie. Ich wusste nicht wie! Ich weiß es noch immer nicht. Du  
bist nicht zu kurieren.“  
124  
„Warum bist du dann hier?“  
„Weil du mich gerufen hast.“ Sies Stimme bebt. „Weil du willst, dass ich für  
dich ein krankes Spiel spiele. Gegen die Liste, die mir genau das gegeben hat,  
was ich verdient habe.“  
„Den Frieden hat sie dir verschafft“, flüstere ich. „Wie konntest du in Frieden  
ruhen, wenn du mich geliebt hast? Wenn du wusstest, dass ich deine  
Überreste vergraben muss, während du alles warst, was mich bei Verstand  
gehalten hat?“  
„Du hast meinen Namen an die Furien verraten“, sagt Sie dumpf.  
„Der Vorstand kannte ihn länger als ich. Der Vorstand hat die Furie mit  
deinem Gesicht auf mich angesetzt.“  
„Mach mich nicht zur Schuldigen!“  
„Du bist die Schuldige“, erwidere ich matt. „Ich wollte deine Gnade und habe  
deinen Zorn gespürt.“  
„Ich habe alles für dich getan!“  
„Jedes Leid. Jede Qual.“  
„Alles! Ich war bei dir. Ich wollte mir dir sprechen. Du hast es nie zugelassen.“  
„Du hast mich nach den Stimmen gefragt.“  
„Natürlich habe ich das! Ich wollte dich heilen.“  
„Sie wurden lauter. Sie haben von mir verlangt, dass ich dich vernichte. Ich  
habe es nicht getan. Weil ich nicht wollte, dass du leidest, wie ich es tue! Ich  
war dort, ich war dort und habe mich selbst verletzt, damit du gehen kannst.  
Im Guten. Du bist gegangen. Für immer. Ich habe dieses Gebäude nie  
verlassen.“  
„Du bist hier“, sagt Sie.  
„Aber ich habe es nie verlassen“, erwidere ich leise und greife nach ihren  
Händen. Dieses Mal entzieht Sie sie mir nicht. „Als ich das erste Mal den  
Regen auf meinem Gesicht spürte, war es kein Befreiungsschlag. Ich war dort,  
wo ich immer war. Als ich mein eigenes Haus bezog, fielen die Schatten auf  
die gleiche Weise und die Stimmen wisperten die gleichen Intrigen. Als ich  
mich schlafen legte, träumte ich von den gleichen Bildern und wenn der Wind  
pfiff, machte er sich nicht die Mühe, seine Stimme zu verstellen.“  
„Ich kann nichts dafür“, sagt Sie leise. „Ich habe nichts davon gewollt.“  
„Du hast einen flehenden Mann in die Knie gezwungen, damit er dir gehörig  
125  
wird.“  
„Nein.“ Heftig schüttelt Sie den Kopf.  
„Als dir bewusst wurde, dass du mich niemals auf diese Weise besitzen wirst,  
begannst du mit Liebe und ich erwiderte dieses Gefühl nur nicht, weil ich nie  
dazu in der Lage war. Du weißt am besten, dass ich nicht lieben kann. Anstatt  
mich meinen Frieden finden zu lassen, konfrontierst du mich mit dem Makel,  
den ich nicht zu verantworten habe.“  
„Ich liebe dich wirklich.“ Sie klingt wie ein besiegtes Kind. Die Tränen laufen  
ihr in Bächen über die Wangen. „Ich habe dich immer geliebt. Ich habe alles  
für dich getan.“  
„Du hast alles für dich getan“, erwidere ich dumpf. „Mich hast du  
zurückgelassen mit neuen Bürden.“  
„Ich habe alles für dich getan!“  
„Du hast mich gefoltert, du hast mich verraten, du hast mich verlassen.“  
„Ich wollte, dass es dir gut geht!“  
„Nicht ich habe Djano getötet“, sage ich schlicht. „Du hast ihm seine  
Antworten verweigert. Von mir wusste er, was er zu erwarten hat. Deine  
Anwesenheit hat ihn in den endgültigen Wahnsinn getrieben. Deine  
Anwesenheit hat ihn vor die nächstbeste geladene Waffe laufen lassen. Nicht  
meine.“  
„Du bist grausam“, wispert Sie.  
Matt hebe ich die Schultern. „Ich bin das, was du mir beigebracht hast.“  
„Das habe ich dir nie angetan.“  
„Nein?“  
„Nein“, sagt Sie. „Niemals. Niemals. Das hätte ich nicht gekonnt.“  
„Ich habe mein eigenes Blut geschluckt. Wann immer ich aufgesehen habe,  
hat Eiter mir den Blick verschleiert. Ich flehte dich an, bei mir zu bleiben. Du  
bist gegangen. Du kamst nicht zurück. Es war dunkel. Ich war allein. Der  
Regen prasselte gegen die Scheiben. Es war dunkel. Sie schrien und ich habe  
alles davon gespürt. Ich habe alles davon gesehen. Ich konnte mich nicht  
bewegen, aber es war dunkel und die Schatten und die Stimmen, sie waren  
da. Du bist gegangen. Du kamst nicht zurück. Ich war dort allein und sollte  
glauben, zu heilen. Mein eigener Körper hat mich erstickt. Ich lag dort. Ich  
war allein. Du warst nicht bei mir.“  
126  
„Weil ich nicht durfte!“  
„Jeden hast du getötet. Warum nicht den Mann, der mich in den Ruin treiben  
wollte?“  
„Weil er das nie wollte.“  
„Ich auch nicht.“  
Sie zittert am ganzen Körper. Ihre Finger zucken unkontrolliert und sie atmet  
tief ein, nur um schluchzend das Gesicht in den blutbeschmierten Händen zu  
vergraben.  
„Ich habe Djano nicht ausgeliefert. Ich habe nie um deinen Tod gebeten.  
Alles, was ich je von dir wollte, war eine Kur, die wirkt.“  
Die Tränen verbieten Sie den Mund. Kein Laut drängt sich über ihre Lippen.  
„Ich bin nicht der Böse in der Gleichung“, erinnere ich Sie dumpf. „Ich habe  
alles getan, was ich konnte. Du darfst mich nicht dafür verantwortlich  
machen, dass man mich von Anbeginn an verflucht hat.“ Mich räuspernd  
verschränke ich die Arme vor der Brust. „Wenn ich dazu in der Lage gewesen  
wäre, ich hätte dich geliebt. Ich hätte dich auf Händen getragen. Gemeinsam  
hätten wir diesen Ort verlassen. Aber ich war nie dazu in der Lage. Du  
hingegen schon. Und mit dieser Liebe als Schild hast du mich hingerichtet.“  
„Du lebst“, sagt Sie heiser.  
„Nicht deinetwegen.“  
„Nicht meinetwegen“, bestätigt Sie leise. Ihr leerer Blick schweift nach  
draußen. Die Straße hüllt sich in ihren Staubmantel. Ich werfe mir eine Jacke  
über und verlasse den Raum. Muffiger Wind quält sich mir entgegen, zu lang  
gefangen in diesem Treppenhaus.  
Sie folgt mir nicht. Sie bleibt zurück.  
Ich bin allein.  
Die Stimmen bei mir.  
Regen scheint gegen das Fensterglas zu schlagen.  
Dabei befinde ich mich fernab von jeder zerschmetternden Realität.  
Hastige Schritte hallen mir entgegen, als hätte Sie die vergangenen Stunden  
an der angelehnten Tür auf mich gelauert. Ihr Gesicht ist rot und verquollen,  
die Augen glasig. Anstatt einer Begrüßung, schlingt sie mir schweigend die  
Arme um den Hals und presst ihren schmalen Körper gegen meinen. Das Haar  
127  
ist getrocknet und der Geruch von altem Schweiß haftet an Sie. Ich erwidere  
ihre hilflose Umarmung. Der Rauch von Zigaretten muss sich in den Stoff  
meiner Kleidung gefressen haben. Die Überreste meines Ausflugs scheinen  
Sie nicht zu kümmern.  
Ihre Lippen formen Worte, die ich nicht verstehe, während die weiche Haut  
über meinen Hals wandert, ihn kitzelt und mich seltsam fühlen lässt.  
Sie nimmt mein Gesicht in beide Hände. Ihr Kuss kümmert mich nicht. Er  
öffnet die Leere, die mich längst zerfrisst, auf neue Weise. Der Kykotos  
scheint durch meine Venen zu schwappen und mich daran zu erinnern, dass  
Lebensfreude nie das war, was man für mich vorsah.  
„Ich spiele für dich“, wispert Sie. „Ich spiele für dich.“  
Bittersüße Ergebenheit.  
„Das ist die größte Gnade, die du mir je gewährt hast.“  
„Ich weiß“, sagt Sie. „Ich werde sie bereuen. Ich bereue sie jetzt schon. Aber  
ich spiele für dich gegen die Liste.“  
„Gegen das Schicksal“, berichtige ich Sie leise. „Die Liste ist dort, wo sie  
immer sein sollte.“  
Ich spüre Sie in meinen Armen erschaudern. „Du bist die Ausgeburt des  
Bösen“, wiederholt Sie leise.  
„Du hast mich dazu gemacht“, erinnere ich Sie.  
„Hätte ich eine andere Wahl gehabt“, Sie stockt, „wäre es nie so weit  
gekommen.“  
„Man hat immer eine Wahl.“  
Dumpf schüttelt Sie den Kopf und weicht zurück. „Nein.“ Ihre Hände zittern,  
als sie sich an sich selbst klammern. „Das ist eine Lüge.“  
„Die einzige Wahrheit, der du nicht ins Auge zu blicken wagst.“  
„Es ist eine Lüge!“  
Ihr heftiger Ausruf hallt durch das marode Gemäuer. Ich rolle leicht den Kopf  
und greife nach ihrer Hand. Sie zittert. Sie bebt am gesamten Körper,  
während ich Sie mit mir führe, die Stufen hinauf, hinein in den finstersten  
Winkel, den eine Seele mit Mühe überleben kann.  
„Wenn ich eine Wahl gehabt hätte, würde ich nicht auf dieser Liste stehen“,  
sagt Sie. Ich öffne den Wasserhahn und beobachte den Rost beim Laufen.  
Vernachlässigte Leitungen, vergessene Menschen. „Wenn ich eine Wahl  
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gehabt hätte, wäre ich nie dort gelandet.“  
„Was wir wollen ist irrelevant.“  
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Sie die Schultern hebt. „Du beweist mir  
das. Du beweist es mir immer wieder. Wenn ich in deiner Gegenwart bin,  
möchte ich zu dem kleinen, dummen Mädchen werden, das ich einmal war.“  
„Es ist tot und begraben.“  
„Nicht du hast es beerdigt“, sagt Sie. „Es fühlt sich fast an, als wäre es für dich  
noch lebendig.“  
„Ich lebe.“  
„Und ich?“ Sie sitzt aufrecht, als fürchte sie, auf andere Weise von sich selbst  
begraben zu werden.  
„Du bist hier.“ Das Wasser klärt sich und ich fange es mit Gläsern auf. Leise  
quietscht das Metall, als ich den Hahn schließe und mich zu Sie geselle. „Das  
Spiel ist simpel.“  
„Du hättest die Überreste meines Verstandes verdreht, bis ich nicht mehr  
gewusst hätte, wer ich bin, wenn ich mich verweigert hätte“, sagt Sie leise.  
„Ich weiß, was du hier tust, Alex. Ich weiß es.“  
„Waffen werden nicht notwendig sein, gewaltsames Geschick wird  
überbewertet.“  
„Was du tust, das ist seine ganz eigene Form von Gewalt.“  
„Du opferst dem Schicksal etwas, das es will. Das dir nicht gehört.“  
„Du zerstörst Menschen“, flüstert Sie. „Dann machst du ihnen Glauben, sie  
hätten selbst daran Schuld. Alles, was sie für dich getan haben, verdrehst du  
ins Dunkle.“  
„Die Flügel hat man dir gegeben. Den Flügel. Er war ein Missgeschick. Gib  
ihnen das zurück, was er vermisst.“  
Sie stockt. „Du hast vor unserer ersten Begegnung Tod und Leben überlistet.“  
„Mit diesen Flügeln soll das Schicksal tun, wonach ihm der Sinn steht.  
Hauptsache ist, du hast den Ring betreten.“  
„Du hast vor unserer ersten Begegnung Tod und Leben überlistet“,  
wiederholt Sie, dieses Mal lauter. Als ich fortfahren möchte, lehnt Sie sich  
quer über den Tisch zu mir und hält meinen Blick mit einer gnadenlosen  
Grausamkeit, die nur ihr gehört. „Du hast ihnen deine Emotionen geben. Du  
hast sie überlistet, weil du ihnen genau das geschenkt hast, was sie gegen  
129  
dich hätten verwenden können. Angst, Unruhe. Alles, was einen Menschen  
menschlich macht.“  
„Ja“, erwidere ich schlicht.  
„Du hast dich selbst zerstört“, flüstert Sie. Ekel steht ihr klar in das feine  
Gesicht geschrieben. Die dunkle Strähne fällt ihr über die Augen und Sie  
wischt sie fort. „Du warst das.“  
„Nein.“  
„Doch. Du hast es zugegeben. Gerade eben!“  
„Meine Gabe ist kein Fluch“, sage ich. „Was du gibst, musst du entbehren  
können, und ich habe nichts mehr gehasst als all das, was mir durch das Herz  
ging.“  
„Weil du ein Psychopath bist!“  
„Ich bin derjenige, der mit deiner Hilfe die Liste kollabieren sehen wird.“  
„Zu welchem Zweck?“, stellt Sie die alte Frage, die keine sinnvolle Antwort  
kennt. „Zu welchem gottverdammten Zweck?“  
„Zu meinem.“  
„Zu deinem?“, spottet Sie. „Zu deinem? Das ist kein Zweck. Das ist gar  
nichts!“  
„Es ist alles.“  
„Für dich. Ja.“  
„Für jeden.“ Ich halte ihrer Intensität stand, während ich mich ihr weiter  
nähere. „Was ich tue, ist elementar.“  
Sie ist kreidebleich, die Lippen schmal. „Wer hat dir nur diesen Unsinn  
eingeflüstert.“  
„Ich wusste ihn mit meinem ersten bewussten Atemzug.“  
„Niemand, der noch bei Verstand ist“, sagt Sie stockend, „würde jemals“,  
kurz zögert Sie, „gegen Leben und Tod gleichzeitig wetten.“  
„Kleine Geister stürzen die Großen.“ Ich hebe eine Schulter. „Visionen  
schaffen Zukunft.“  
„Deine zerstören sie.“  
„Du hast versprochen, für mich zu spielen“, sage ich schlicht.  
„Ich ziehe das Angebot zurück.“  
„Nein.“  
„Natürlich.“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Natürlich. Ich werde  
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nicht mich selbst setzen und dann durch die Welt laufen und jedem erzählen,  
dass ich lebe, obwohl ich nicht mehr bin als irgendeine Flechte am  
nächstbesten Abfluss!“  
„Ich habe nicht mich gesetzt“, erwidere ich. „Du wirst nicht dich setzen,  
sondern das, was du nicht benötigst.“ Mit dem Daumen deute ich auf die  
Narbe an meinem eigenen Rücken. „Dieser Flügel ist der Hohn des Lebens  
und des Todes. Trägt niemanden, schützt niemanden. Geschaffen, um  
langsam zu töten.“  
„Ich werde das Schicksal nicht mit einem Trostpreis abspeisen!“  
„Dir bleibt keine Wahl. Du sagtest, du spielst.“  
„Ich habe noch nicht angefangen, oder?“, fragt Sie. Kindischer Trotz schwingt  
in ihrer Stimme mit. „Du wolltest mich genau dort haben. Genau an diesem  
einen, schwachen Punkt.“  
„Ja.“  
Die Hände presst Sie fest auf die Tischplätte, bis alles Blut aus ihnen gewichen  
ist. „Ich war da, ich habe meine Entscheidung getroffen, sie gefällt mir nicht,  
ich nehme sie zurück.“  
„Entscheidungen werden getroffen.“  
„Ja. Ich habe sie getroffen und nehme sie zurück“, sagt Sie schlicht. „Du  
kannst mich nicht zwingen, darauf zu verharren.“  
„Einmal getroffen, bleiben sie.  
„Bleiben sie nicht.“ Sie schüttelt schlicht den Kopf und verschränkt die Arme  
vor der Brust. „Weißt du auch, warum?“ Schweigend hebe ich eine Braue.  
„Weil ich es nicht will.“ Mit den Zeigefingern deutet Sie auf sich selbst.  
„Meine freie Entscheidungsgewalt. Nur meine. Du wirst nichts dagegen  
unternehmen können.“  
Spöttisch hebe ich einen Mundwinkel. „In deinen Träumen.“  
„Du wirst nichts dagegen unternehmen können“, beharrt Sie. „Noch bist du  
nicht in meinem Kopf. Noch malträtierst du mich nur von außen.“  
„Noch“, pflichte ich ihr schlicht bei.  
„Dabei wird es bleiben.“ Ihr Glauben an sich selbst ist niederschmetternd wie  
ihre Gnade. Wie ihre Versprechungen, die gemacht wurden, damit Sie sie  
brechen kann. In dunklen Räumen. Bei plärrendem Regen. Zwischen  
schwachen Sonnenstrahlen und dicken Wänden.  
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„Nein“, erwidere ich gedehnt. „Wird es nicht.“  
Sie lacht auf. „Drohst du mir offen? Allen Ernstes? Du setzt dich hier mit mir  
hin, nachdem du mich emotional immens unter Druck gesetzt hast, und  
drohst mir?“  
„Ja.“  
„Ich kann nicht glauben, dass du mich je gekümmert hast!“  
Seufzend vergrabe ich das Gesicht in den Händen. „Wir alle tun, worauf wir  
nicht allzu stolz sind.“  
„Ich bin verdammt stolz auf mich“, sagt Sie.  
„Du spielst.“  
„Ich habe es zurückgezogen!“  
„Ich reichte dein Wort in der Sekunde ein, als du es sprachst. Beginnst du es  
nicht, schlägt das Schicksal zuerst zu und du wirst in dir selbst untergehen.“  
„Schwachsinn.“ Sies Augen zucken. „So ein Schwachsinn! Du wirst mich nicht  
dazu bringen können, davon abzurücken.“  
„Wovon?“  
„Von meinem Entschluss, nicht zu spielen.“  
„Aha.“ Ich nehme einen tiefen Schluck, der nach Rost schmeckt und nach  
Äonen.  
„Du wirst mich nicht vom Gegenteil überzeugen“, beharrt Sie, als müsse sie  
sich selbst überzeugen.  
„Das muss ich nicht.“ Matt lächelnd reibe mich mit dem Daumen über den  
Rand des Glases. Ein leises, klägliches Geräusch entflieht dem Gegenstand.  
„Ich habe alles, was ich brauche. Das, was ich möchte, hat man mir nie  
gegeben.“  
„Weil du krank bist“, sagt Sie prompt.  
„Weil ich lebe.“  
„Damit hast du doch genau das, was du willst.“  
Ich lege mir den kleinen Finger gegen die Lippen und warte. Warte, bis der  
Groschen fällt. Er scheint der Anziehungskraft zu widerstehen und im Nichts  
zu verharren. „Erinnerst du dich an die Wintersonnwende?“, frage ich Sie  
schließlich.  
Knapp zuckt sie die Achseln. „Ich merke mir nicht immer alles, wovon man  
mir erzählt.“  
132  
„Du warst dort.“  
„Ich merke mir auch nicht jedes Datum.“  
„Ich bot dir Wein an und du hast ihn getrunken.“  
„Ja.“  
„Du hattest Recht“, sage ich. „Wein war es nicht.“  
Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu. „Es war reines Blut.“  
„Ja.“  
„Es ist kein Tag, an den ich gern zurückdenke.“  
„Man hat mir das Blut als Wein verkauft. Das Schicksal selbst hat es getan  
und schwor, wer davon trinkt, der wird sein nächster Partner sein in einem  
Duell auf Alles und Nichts.“  
„Ich habe keinen Tropfen davon zu mir genommen“, sagt Sie eisig.  
„Ich war dort“, erinnere ich Sie. „Du warst es auch.“  
Sie presst die Lippen zu einer weißen Linie zusammen und starrt auf das Glas  
Wasser vor sich.  
„Wen belügst du?“, frage ich Sie sanft. „Mich? Dich? Das Schicksal?“  
„Du hast immer gesagt, dass es das Schicksal an und für sich nicht gibt.“  
„Im Endeffekt bin ich wahnsinnig.“  
„Du bist wahnhaft. Nicht nur wahnsinnig.“  
„Ein feiner, irrelevanter Unterschied.“  
„Sowas ist nie egal“, beharrt Sie.  
„In meiner Welt“, sage ich gedehnt, „war es das zu jeder Zeit.“  
Dumpf schlagen Sies Hände auf den Tisch auf, als sie unwirsch ihre Finger  
ineinander verschränkt. „Worauf willst du hinaus?“  
„Du hast getrunken.“  
„Weil du mich dazu gezwungen hast“, sagt Sie heftig. „Das ist Ewigkeiten her  
und zwischendurch war ich tot. Das Schicksal existiert nicht und, selbst wenn  
es existieren würde, dann hätte es dir nicht sein Blut gegeben.“  
„Nein.“  
„Es ist ein Trick“, fährt Sie unbeirrt fort. „Alles, was du tust, ist ein Trick, um  
die Menschen dazu zu bekommen, das zu tun, was du willst. Das bist du. Das  
tust du!“  
133  
„Nein.“  
„Lüg mich nicht an“, faucht Sie. „Mach dich nicht noch schlechter, als du  
ohnehin schon bist, und lüg mich an.“  
„Nichts als die Wahrheit.“ Ich räuspere mich. „Du versperrst dich ihr.“  
„Weil sie klingt wie deine Wahrheit!“ Tränen schwimmen in ihren Augen.  
„Deine Wahrheit ist verrückt. Sie ist nicht echt.“  
„Ich wusste, was ich will, als ich dir das erste Mal begegnet bin, und ich weiß  
es noch heute.“  
„Du batst mich um Hilfe.“  
„Ja.“  
„Ich habe sie dir nicht gegeben. Jetzt willst du dich so billig rächen?“  
„Nein.“ Matt lächle ich Sie an. „All das diente dem, dir die Tatsachen zu  
erleichtern.“  
„Welche Tatsachen?“ Sie springt auf. „Die, dass du eine alte Frau erpresst  
hast, um mich zurückzuholen? Die, dass du Djano umgebracht hast und jetzt  
alles daran setzt, dass ich die nächste bin?“  
„Nein.“  
„Welche dann?“  
„Ich gebe dir das, was ich niemandem sonst anvertrauen würde.“  
„Sei still!“  
„Mein Schicksal. Weil du mich liebst.“  
„Halt endlich deinen verfluchten Mund!“  
„Ich wollte damals, dass du spielst, weil du für mich gewinnen würdest. Koste  
es, was es wolle. Die Zeit hat an dieser Gewissheit nicht rütteln können.“  
„Ich hätte das niemals für dich getan. Niemals! Damals nicht, heute noch  
weniger. Hörst du das?“  
„Ja.“  
„Was soll das also alles?“ Wirr bewegt Sie ihre Arme. „Ich verstehe nicht  
mehr, was du tust. Ich verstehe gar nichts mehr. Worauf du hinauswillst, was  
du machst. Wer du bist. Ich bin völlig leergefegt!“  
Der Groschen verharrt und er verharrt.  
Seufzend stehe ich auf und schiebe den Stuhl zurück an den fleckigen Tisch.  
Schatten huschen und zerren und ziehen, riechen nach Rosen und nach Ruß,  
nach Pest und nach Rauch.  
134  
„Du spielst“, sage ich nur. „Du spielst und du kannst nichts dagegen tun.“  
„Ich habe mich dagegen ausgesprochen!“  
„Zuvor mehrmals dafür.“  
„Nichts davon ist wahr!“, ruft Sie aus. „Hörst du dir überhaupt noch zu?“  
„Ja.“ Matt lächle ich. „Nur du tust es nicht.“  
Der Geruch von Rosen intensiviert sich und kriecht mir unter die Haut, setzt  
sich auf meinem Fleisch fest und sinkt tiefer in die Muskulatur. Der Gestank  
des Todes folgt auf den Fuß. Umwoben von erstickender Finsternis, neige ich  
den Kopf und sinke in die Knie. Die Wogen des Flusses spielen über die  
Steine, lecken über Grund, während sie ihre spindeldürren Finger nach mir  
ausstrecken. Nichts sehen, nur hören, riechen, fühlen.  
Ich spüre sie, bevor ihre Klauen mich berühren. Sie senken sich in meinen  
Nacken und ich straffe die Schultern. „Jeder tut, was er tun muss.“  
„Ertränk ihn“, zischt die Furie. „Einmal überlebt, macht der Kykotos ihn heute  
tot.“  
„Jeder tut, was er tun muss.“ Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe mit  
den Schatten. Sie senken sich in mich, öffnen ihre glühenden Augen und  
zerreißen sich selbst, um das Bild zu entschlüsseln.  
Die Furien sind irritierend schön, durchtrieben wie Nymphen und ästhetisch  
wie die Musen. Das lange Haar wallt ihnen um die schmalen Körper und ich  
erinnere mich an jedes Leid, das mir ihretwegen widerfahren ist.  
„Auge um Auge“, flüstert die Furie mir ein.  
Ich lege meine Hand auf ihre. Die Haut ist kühl, sanft, besänftigend. Ihre  
Blicke erinnern mich an die Symphonie des Todes, die er spielt, Momente ehe  
man seine letzte Entscheidung trifft.  
„Ich bitte euch um einen Gefallen.“  
„Einen Gefallen!“, ruft die Furie aus. „Einen Gefallen.“ Ihr heißer Atem streift  
meine Wange. Die Zunge zuckt über meine Haut. Meine Lippen verziehen  
sich zu einem bitteren Lächeln.  
„Ihr habt ein Gesicht, das mir gehört.“  
„Auge um Auge“, wiederholt die Furie.  
„Ich brauche es.“  
„Auge um Auge.“ Ihre Finger schlingen sich um meine Kehle und ich lehne  
135  
den Kopf gegen ihren Bauch. Sie atmet sanft, beschwichtigend, rhythmisch,  
während jedes Wort eine eigene, düstere Melodie spielt. Ich höre den Fluss  
und ich spüre ihn. Er ist intensiver als jede Umarmung, realer als die Hölle  
selbst. Unmittelbarer als die Furie, die mich in ihrem Klammergriff hält.  
„Ich brauche dieses Gesicht“, beharre ich.  
„Menschen bekommen nicht, was sie wollen.“  
„Ja.“  
„Menschen bekommen nie, was sie begehren“, summt die Furie. Ihre Nägel  
reißen Haut auf, Blut fließt und es ist heiß wie Feuer.  
„Ja.“  
„Sie vergehen in ihrem Augenblick, ohne ihn zu schätzen zu wissen. Ein  
Mensch ist eine Chimäre seiner finstersten Momente, unfähig ihnen zu  
entfliehen.“  
„Ja.“  
„Verdienen nur den Tod und das Blut auf ihrem Grab.“  
„Die Münze unter ihrer Zunge“, fügt die zweite Furie gedämpft hinzu.  
„Ja.“  
„Gesichter gehören den Mächtigen.“  
„Ja.“  
„Kommst hierher, um Schulden einzutreiben, die wir nicht haben“, höhnt die  
Furie. Leise. Melodisch. Während ihre Nägel mir die Kehle zerfetzen.  
„Kommst hierher, um zu sterben. Die Hölle wartet auf dich. Sie sucht deine  
Seele.“  
„Ja.“  
„Hol, was du bekommst. Werde, was du bist.“  
„Das Gesicht“, wiederhole ich. „Gebt es mir. Ich habe es gejagt. Ich habe es  
verlangt. Es gehört mir.“  
„Nicht deine Kugel.“ Die zweite Furie tritt heran und die Schatten  
umschmeicheln sie wie eine schwere Robe. Hinter ihrem Kopf türmen sie sich  
zu Hörnern auf und machen aus einem Mädchen ein Ungeheuer.  
„Ich habe ihn auf die Straße getrieben.“  
„Nicht du“, murmelt die Furie. „Nicht du.“ Sie geht neben mir in die Knie und  
legt eine Hand auf meinen Oberschenkel. „Du warst mir der Liebste. Nun bist  
du der Überlebende.“  
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„Von Zeit zu Zeit.“ Die Schatten verraten mir, wohin ich sehen muss, um  
ihren Blick halten können. Ohne die Finsternis durchdringen zu können. „Das  
Gesicht gehört mir.“  
„Wir nehmen, was wir bekommen können.“ Die erste Furie lässt von mir ab  
und wischt die Rückseite ihrer Finger an meiner Wange ab. „Du fühlst nichts,  
wir fühlen nichts. Wir sind zwei Seiten einer Medaille.“  
„Wir sind das Gleiche.“  
„Du bist nicht wir“, faucht die Furie. Blut fließt. Rosen übertünchen den  
Geruch. Der Gestank von Tod legt sich um meinen Hals, knüpft den Strick und  
hält mich daran in Schach.  
„Die Existenz ist kurz“, sage ich. „Von Zeit zu Zeit zu kurz.“  
„Eine getötet, überlebst du die nächste nicht“, gibt die zweite Furie zu  
bedenken.  
„Megaira“, seufze ich. „Jeder meiner Schwüre war aufrichtig.“  
„Menschen kennen keine Ehrlichkeit.“  
„Ich lebe.“  
Das Schweigen wird von dem Schwappen des Flusses übertönt.  
„Verdien es dir“, sagt die Furie unvermittelt.  
„Es steht mir zu“, sage ich. „Wer das Gesicht erntet, dem wird es vermacht.“  
Die Wellen schlagen höher und lecken bis zu meinen Knien. Ich spüre die  
Fluten und sie sind kalt. Sie sollten schmerzen, mir in den Leib sinken und  
mich an Leid und Elend erinnern, jede Lebensfreude aus mir saugen und mich  
zu einer leeren Hülle formen. Während ich warte, während ich bin, während  
ich verharre, wäscht der Fluss nichts aus. Was ich in mir zurückgelassen habe,  
ist zu wenig, um von Fluten erhascht zu werden.  
„Menschen sind der Abfall der Evolution“, sagt die Furie. „Ihnen gehört nur  
ihr eigenes Blut, wenn wir sie zwingen, es zu trinken.“  
„Ich gab euch das eine Gesicht, nun will ich das andere.“  
„Nahmst uns eine Schwester, bekommst nichts als den Tod.“  
„Alecto.“ Ihr Fauchen gleicht dem einer wütenden Katze. Erneut senken sich  
ihre Klauen in mein Fleisch und ich spüre den Schmerz, den ich empfinden  
muss. Nicht mehr, viel weniger. „Ich nahm euch eine Schwester und  
versprach euch Chancen.“  
„Zerreiß ihn“, wispert Alecto. „Mach, dass diese Grenze ihre Macht  
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zurückerlangt.“ Der Fluss wispert, als suche er nach mir. Als versuchte er,  
mich sich zu unterwerfen, mich zu schnappen, mich zu erniedrigen, mich zu  
leeren, bis er sich in meinen Überresten wälzen und sie als Basis nutzen kann.  
„Ich durchquere ihn“, sage ich schlicht. „Überlebe ich es, erhalte ich das  
Gesicht.“  
Die Schatten zucken und sie flackern. Ihre Nervosität ist greifbar und ich  
mache sie mir zu eigen. Schicke sie näher an die Furien heran, lasse sie in die  
Poren der Rächerinnen sinken, wann immer ihre Aufmerksamkeit von einer  
unerwarteten Bewegung gefesselt wird.  
„Hybris“, murmelt eine von ihnen. Während sie mit ihren eigenen Dämonen  
kämpfen, komme ich auf die Beine, die Arme ausgebreitet, als könne ich auf  
diese Weise Halt finden. Kälte und Hitze fluten mich zugleich, während ich  
mich in das Gewässer vorwage. Das Jammern tausender Seelen liegt in der  
Luft. Ich schmecke ihr Leid, ihr Wehklagen, die Erkenntnis des bittersüßen  
Lebens, Momente zuvor verloren. Ich spüre die Umarmungen und die  
Verluste. Jedes Schicksal sinkt in mich. Die Fluten schlagen mir bis zum Kinn  
und ich verliere den Boden unter der Füßen. Ich schwimme und habe keine  
Orientierung. Schatten leiten mich, bei mir, seit ich denken kann. Verlogen  
und verbittert wie jede menschliche Seele, die sich nach dem Unerreichbaren  
streckte. Ich spüre die bissige Eiseskälte auf meiner Haut und ich habe sie in  
meinem Herzen. Ich bin ein Trumpf, der zu Wasser gelassen wurde, damit er  
langsam versinkt.  
Die Flüsse sind nicht breit, nicht reißend, nur lang. Was sie in sich bergen,  
dehnt die Reise.  
Als ich die gegenüberliegende Seite erreiche, triefe ich. Die Schatten küssen  
meine Haut trocken, wispern verlorene Worte, von denen mich keines  
erreicht. Erneut habe ich den Willen der Unterwelt hinter mir gelassen und  
erneut lichtet sich die Finsternis zu flammender Gier. Zuckende Zungen  
tasten über den Himmel und senken sich zu mir. Schatten kriechen zwischen  
Kies, die Furien erscheinen neben mir, schweigend. Eine zu meiner Linken,  
eine zu meiner Rechten.  
„Das Gesicht.“  
„Dein Gesicht.“ Leise gluckst Alecto. „Auge um Auge.“  
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„Ich bezahlte euch zu einer anderen Zeit.“  
„Zerrissen hast du uns“, flüstert Megaira. „Unser Bündnis zersprengt.“  
„Ich erleichterte euch um das schwächste Glied.“ Ich neige den Kopf vor  
Megaira. „Ihr tretet gegen die Rote Liste an. Die Schwäche muss ausgerottet  
werden, bevor das Leben kommt.“  
„Schwach ist, wer Schwäche sucht.“  
Ich gehe erneut in die Knie. „Schwach ist, wer Versprechen bricht.“ Ich halte  
Alectos Blick. „Auge um Auge.“  
„Nicht um diesen Zahn.“  
„Falls es das ist, was du willst.“ Die Stille zerfrisst uns. Meine Kleidung trieft.  
Das Wehklagen hängt in der Luft wie die Hitze eines ausklingenden  
Sommertages. Feuerschein und Schattenkriechen. Die Furien rühren sich  
nicht. Sie entlassen mich und erheben sich selbst zu den Herrscherinnen über  
dieses Geschehen.  
Die Schultern gestrafft, komme ich zurück auf die Beine und verneige mich  
vor ihnen.  
Ein Messer ist schnell als ein Gedanke. Es durchtrennt Sehnen, ehe ich es in  
Betracht ziehen kann. Megaira steht stockstill. Die Hölle wirft ihren matten  
Schein über Alectos kollabierenden Körper.  
„Unerbittlichkeit und Vergeltung sind gefallen“, sage ich schlicht. „Der Neid  
wartet.“  
Langsam weicht Megaira zurück. Sie sollte sich gegen mich auflehnen.  
Versprechen binden Hände.  
„Ich erhalte ein Gesicht von dir.“  
„Den Tod gebe ich dir.“  
„Ich habe ein Gesicht verloren und ihr habt es geholt. Bring es mir!“  
Die Stille ist erdrückend. Sie flimmert fremd. Langsam breitet die Furie die  
Arme aus, aber die Schatten, die geschaffen wurden, ihr zu gehorchen,  
wenden sich gegen sie. „Ich habe nicht, was du willst“, sagt Megaira  
schließlich. „Das Gesicht wurde von einem anderen geholt.“  
Bellend lache ich auf. „Von deinen Lügen.“  
„Von jemandem, der vor dir bei uns war.“ Ein winziges Lächeln umspielt  
Megairas Lippen. „Uns magst du gebändigt haben.“  
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Aber die Furien sind nicht genug. Das Blut befleckt meine Haut und ich will  
mich darin wälzen, bis kein Zentimeter meines Körpers davon unbedeckt  
geblieben ist. Achill lehrte uns den Preis der Unachtsamkeit. Ich hole ihn mir  
zurück.  
Nach der Rache kommt das Glück.  
„Ihr wart nie genug“, sage ich schlicht.  
„Wir waren immer genug.“ Allein ist die Furie nur ein kleines Mädchen, die  
Augen groß und die Haltung steif, weil die Hilflosigkeit sie übermannt hat.  
„Wir waren immer genug.“  
„Jeder bekommt, was er verdient hat.“  
„Ja.“ Ein bitteres Lächeln umspielt die Lippen der Furie. „Früher oder später.“  
Ich klappe die Klinge des Messers ein. „Du warst meine Liebste“, sage ich.  
„Von allen Dreien habe ich dich am meisten geliebt.“  
„Du bist mir am ähnlichsten.“ Das Glühen der Hölle brennt sich in ihre Augen.  
„Uns unterscheidet, dass du vor mir untergehen wirst.“  
„Die Zeit wird es zeigen.“  
„Deine Morde fallen auf dich zurück“, sagt die Furie. „Sie kommen immer  
zurück. Sie lassen dich zahlen.“  
„Ja.“ Matt hebe ich eine Schulter. „Aber nicht heute.“  
„Fahr zur Hölle“, flüstert die Furie.  
„Ich bin längst dort.“  
„Wenn ich dich dort halte, wirst du zahlen.“  
„Ich zahle längst.“  
Sie sieht nicht auf. „Du stinkst nach Blut.“  
„Der Verrat haftet an dir wie ein übles Parfum.“  
„Der einzige, der hier Menschen verrät, bist du.“  
„Menschen“, spotte ich. „Wer sich um Menschen bemüht, hat den Verstand  
verloren.“  
Ruckartig dreht Sie sich zu mir um. „Wo warst du?“  
„Dort.“  
„Wo warst du?“, wiederholt Sie heftig.  
„Wo du warst.“  
„Hier?“ Sie lacht harsch auf. „Du warst kaum hier.“  
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„Bei den Furien.“  
Sies Blick flackert. „Du bist wahnsinnig genug, um dich gegen sie  
aufzulehnen.“  
„Sie schworen mir Treue. Unmöglich ein Versprechen zu brechen, auf das sie  
ihren eigenen Kopf gesetzt habe.“ Ich hebe eine Schulter. „Gewinnst du  
gegen das Schicksal, leiste ich den gleichen Schwur.“  
Verkrampft verschränkt Sie die Arme vor der Brust. „Was hast du von ihnen  
gewollt? Einen Sündennachlass?“  
„Ein Gesicht.“  
Sie schnauft. „Jeder andere Mensch könnte sich nicht mehr im Spiegel  
ansehen und du setzt alles daran, die Situation zu verschärfen.“  
„Nein.“  
„Offensichtlich doch.“ Verärgert schnalzt Sie mit der Zunge. „Wessen Gesicht  
hast du gewollt? Meines?“  
„Du trägst es am besten.“  
„Djanos?“  
„Für heute.“ Ich lächle Sie matt an. „Man nimmt, was man bekommen kann.“  
„Du bist widerlich.“  
„Ich bin das, was du von mir übriggelassen hast.“ Der Stuhl knarzt knirschend,  
als ich mich setze. „Ich bin das, was du von mir hast bleiben lassen.“  
Sie geht nicht auf mich ein. „Es war schön ohne dich“, sagt Sie. „Ich konnte  
endlich wieder denken.“  
Ich hebe eine Braue und lehne mich zurück. Das Messer fühlt sich schwer in  
meiner Tasche an. Es hat neue Schuld auf sich geladen, sich wie selbst  
geführt, und muss die Konsequenzen selbst akzeptieren, die ich mich weigere  
zu empfinden.  
„Ich musste an dich denken“, fährt Sie nach einer Weile fort. „Du bist überall,  
wo man dich nicht haben will. Du lässt mich einfach nicht mehr los.“  
Ich falte die Hände und bette sie auf meinem Bauch.  
„Einmal habe ich dich schlafen sehen. Tief und fest. Du hast dich nicht  
zugedeckt, obwohl es die Möglichkeit gegeben hätte. Du hast nicht auf dem  
Kissen gelegen und auch sonst nichts getan, was jeder normale Mensch als  
selbstverständlich empfindet.“ Sie hebt die Schultern. „Du lagst nur dort wie  
tot und um dich herum war es finster. Dunkler, als ein einzelner Flecken Erde  
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sein dürfte. An dir war nichts Menschliches mehr. Ich habe mir eingeredet,  
ich hätte all das nur geträumt, aber es war wahr. Es war wahr, oder? Es war  
der aufrichtigste Einblick, den ich je in dich erhaschen konnte.“  
„Auf mich.“  
Sie blickt aus dem Fenster. „Jeder, der nichts für dich empfindet und dich  
sieht, der vergisst dich oder hat Todesangst. Was bist du?“  
„Das, was kommt, wenn alles endet.“  
„Was bist du?“, wiederholt sie ihre Frage heftiger.  
„Dein Nachruf.“ Ich räuspere mich. „Ich bin die Gerechtigkeit.“  
„Gerechtigkeit?“ Sie lacht ungläubig auf. „Nichts, was du tust, ist gerecht!“  
„Ich gebe, was ich geben kann. Also gebe ich zurück.“  
„Was gibst du mir denn bitte zurück? Alles, was ich dir angetan habe, wolltest  
du.“  
„Ich bin dein Schatten. Ich bin dein Spiegelbild. Ich bin das, was von dir bleibt,  
wenn dein Gewissen sich selbst verschlingt.“  
„Alex, was bist du?“  
„Ich bin ein Überlebender“, sage ich schlicht. „Ich bin deine Gerechtigkeit. Ich  
bin, was du verdient hast.“ Matt lächle ich. „Das sollte dich nicht  
überraschen. Du hast es gewusst, kaum dass wir die ersten Worte  
miteinander gewechselt hatten. Du sagtest mir, ich sei, was du verdient hast.  
Darum bemühe ich mich Tag für Tag.“  
Sie meidet meinen Blick. „Du wurdest geboren“, sagt sie schließlich.  
„Ja.“  
„Aber du bist kein Mensch.“  
„Ich habe die Menschlichkeit gesetzt“, erwidere ich. „Nur Menschen werden  
besiegt und ich bin das Verlieren leid.“  
„Du solltest zur Hölle fahren“, flüstert Sie.  
„Damit die Furien bezahlen?“  
Der Groschen löst sich aus seiner Erstarrung und fällt.  
Sie räuspert sich und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand. Die Haut ist  
aschfahl. Die Lippen blutleer. Ihre Augen sind tiefschwarze Teiche, die nach  
Halt suchen oder einer Erklärung, die ihnen gefällt. Was bleibt, ist eine  
Wahrheit. Meine liebste. Weil sie meinem Empfinden am nächsten kommt.  
„Du bist, was ich verdient habe“, sagt Sie.  
142  
„Ja.“  
„Du bist wie die Rote Liste, nur willkürlicher. Auf dich wird man nicht  
geschrieben, du spürst jeden von uns auf und dann tötest du uns.“  
„Von Zeit zu Zeit.“  
„Du bist grausam.“  
„Ich bin, was dir gehört.“  
„Du gehörst mir nicht“, flüstert Sie. „Nichts von dem, was du tust, gehört mir.  
Ich habe nichts davon verdient.“  
„Die Rote Liste, sagtest du, sei gerecht.“  
„Ja. Sie ist ein fester Maßstab. Sie ist nicht einfach jemand, der herumläuft  
und Selbstjustiz verübt!“  
„Selbstjustiz war der Beginn der größten Heldentaten.“  
„Du bist kein Held, Alex“, spuckt Sie. „Du bist der, der am Ende einer jeden  
guten Geschichte stirbt. Das bist du. Du bist der Bösewicht.“  
„Von Zeit zu Zeit. Von Perspektive zu Perspektive.“  
„Du sagst, du tötest Furien!“, ruft Sie aus. „Wie kann das irgendwo gut sein.  
Wir kannst du dir nur einreden, dass das gerecht ist? Erst fesselst du sie mit  
Versprechen und dann schlachtest du sie einfach ab? Was hast du dir dabei  
gedacht? Denkst du dir überhaupt noch etwas? Was tust du hier, Alex? Was  
tust du?“  
„Woran appellierst du?“  
„An deinen gesunden Menschenverstand!“  
„Ich bin kein Mensch.“  
„Du sagst doch immer, dass du lebst. Also bist du ein Mensch, verdammt!  
Nur Menschen leben. Geht das in deinen Kopf rein? Nur Menschen leben.  
Nur Menschen!“  
„Tiere, Pflanzen, alles, was atmet.“  
„Nach dieser Logik …“  
„Ich bin, was du verdient hast“, unterbreche ich Sie. „Ich werde leben,  
solange es zu rächen gibt, und ich werde sein, solange man sich gegen mich  
wendet.“  
„Die Liste wird dich verschlingen“, zischt Sie. „Wenn du endlich einen Fehler  
machst, dann wird sie da sein und du wirst bezahlen. Du wirst hoch bezahlen.  
Du wirst alles, wirklich alles verlieren. Und weißt du auch, was das sein  
143  
wird?“ Sie wartet nicht auf meine Antwort. „Gerecht. Das wird der Inbegriff  
von Gerechtigkeit sein.“  
„Der Tag ist noch jung“, sage ich.  
Ungläubig lacht Sie auf, die Augen weit aufgerissen. Sie schlägt die Hände  
vors Gesicht und legt den Kopf in den Nacken. „Ja. Ja, es ist nicht einmal  
mittags und ich habe einen Mann begraben. Du hast die Hölle aufgesucht.  
Was kommt als nächstes? Erwacht die Liste zum Leben und frisst uns auf?  
Was hält sie als nächstes für uns bereit?“  
„Nahrung.“  
„Nahrung.“ Sie schnaubt. „Dass du dieses Pulver überhaupt als solches  
bezeichnest.“  
Schweigend greife ich in die Innenseite meiner Tasche und ziehe eine alte  
Kladde hervor. Die Seiten sind vergilbt, der Gestank von Jahrzehnten haftet  
an ihr wie eine zweite Haut. „Djano war sie nicht würdig, aber dir eröffne ich  
eine zweite Chance.“  
„Du bist krank“, zischt Sie.  
„Willst du siegen, musst du verstehen.“  
„Ich verstehe verdammt gut“, sagt Sie. „Ich verstehe wahrscheinlich  
hundertmal besser als du. Weißt du auch, warum?“  
„Nein.“  
„Weil ich kein selbstverliebtes, nur auf mich fixiertes Ekel bin, das krampfhaft  
versucht, sich alles zu stehlen, was es haben kann.“  
Seufzend lege ich das Heft auf den Tisch zwischen uns. „Denk darüber nach.“  
Die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen. Ich rühre mir das Pulver an  
und trinke es. Licht tilgt alle Schatten. Ich fürchte sie, ich liebe sie. Am Ende  
bin ich sie.  
Ich spüle das Glas aus, trockne es ab und stelle es zurück in den Schrank. Eine  
seltsame Spannung liegt in der Luft. Ich empfange sie mit offenen Armen.  
Ich spüre Sies Gegenwart Momente, bevor ich zurückkehren möchte. Sie geht  
tiefer als bloße Anwesenheit. Sie gräbt sich in meinen Leib, in meinen  
Verstand und zerrt mein Wesen aus mir heraus. Matt lächelnd lehne ich mich  
mit dem Rücken gegen die Anrichte und schließe die Augen. Sieg beginnt mit  
Vertrauen und ein Triumph über uns, das ist es, was ich immer wollte.  
144  
Ein spindeldürres Band verbindet uns, verräterischer wie der Spalt in der  
Wand, die die tiefsten Geheimnisse fortwispern lässt. Ich ruhe in mir und  
warte. Sie tobt und geht. Auf und ab. „Wo bist du?“  
„Pflanztest es mir ein, nun zwingst du dich mir auf“, sage ich. Gedanken sind  
die Raben, die jede Meile überbrücken können.  
„Ich war das nicht“, sagt Sie. „Ich habe nicht beschlossen, dass wir die gleiche  
Strafe wählen. Du kannst mich nicht für alles verantwortlich machen.“  
„Die Bilder tun es.“ Ich drücke den Rücken durch und rolle leicht den Kopf.  
„Ich spüre jeden, der sich in meinen Geist schleicht.“  
Kurz ist Sie still. „Das merke ich.“  
„Was hast du gehofft zu finden?“  
„Dich.“  
„Hier bin ich.“  
„Mehr über dich. Nur ein Wort, das nicht verlogen und verbogen ist.“  
„Worte existieren, um den Trug zu kaschieren.“ Matt lächelnd inhaliere ich  
die saubere Luft, dann greife ich nach einem Messer aus dem Block und  
ramme es mir unter die Haut. Der Flügel befreit sich knirschend, drängt sich  
knapp an meinen Schulterblättern vorbei und streckt seine rauen Federn  
feucht dem Licht entgegen.  
„Ein großer Teil von mir“, sagt Sie langsam, „will dich tot sehen. Mit jeder  
Minute wächst er.“  
„Der Jammer der Gerechtigkeit.“  
„Du bist nicht gerecht. Du bist nur ein kranker Mann, der sich selbst zu etwas  
erhebt, was er nicht ist.“  
„Die Furien fallen unter meiner Macht.“  
„Sagst du.“  
„Sie bleiben.“  
„Niemand tötet eine Furie einfach so. Warum?“  
„Meine Erinnerungen werden dir keinen Aufschluss geben“, sage ich. „Meine  
Erinnerungen sind wirr wie du.“  
Ihr Schweigen ist abrupt. Die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen und  
als sie sich wieder schärft, sitze ich auf der schmierigen, stinkenden Matratze.  
Das Fenster steht offen. Röhrend drängt sich der Lärm der Straßen zu uns  
hinein.  
145  
„Was tätest du, wenn man dir ein Herz gibt und dir sagt, du sollst es  
verzehren?“  
Sie scheint sich nicht gerührt zu haben. Die Arme vor der Brust verschränkt,  
steht sie da. Kreidebleich, verkrampft und kleiner, als sie ist. „Ich würde es  
nicht essen.“  
„Du hast es getan.“  
Sie presst die Lippen fest aufeinander.  
„Hierbei geht es nicht um mich, sondern um dich.“  
„Ich sollte tot sein. Du hast mich zurückbringen lassen. Im Endeffekt dreht  
sich alles um dich“, erwidert Sie eisig. „So war es doch.“  
„Von Zeit zu Zeit.“ Ich rolle die Schultern. „Du stehst auf der Liste, weil du  
dieses Herzgegessen hast.“  
„Man hat mir keine Wahl gelassen.“  
„Nein.“  
„Man hat mir keine Wahl gelassen“, wiederholt Sie heftig. „Es geht hierbei  
nicht um mich, sondern um dich!“  
„Das Schicksal wird das Spiel beginnen, bevor du bereit dafür bist. Wenn du  
dich weiter im Kreis drehst.“  
„Ich habe diesem Spiel nie zugestimmt“, sagt Sie gefährlich leise, „ich habe  
dieses Herz nicht freiwillig gegessen und ich bin nur hier, weil du es willst. Es  
geht hierbei nicht um mich, sondern um dich, weil ich wissen will, wie man  
dich zerstört, nicht wie man mich aus dem Weg räumt.“  
„Man erinnere dich an Liebe und du gehst vor mir in die Knie“, sage ich  
schlicht.  
Sie bleibt ruhig. „Das weiß ich.“  
„Worüber rätselst du?“  
„Warum du der gnadenloseste Psychopath von allen bist.“  
„Ich bin, was du verdienst.“  
„Mein Leben lang, habe ich mir einige Sachen von dir einreden lassen. Das  
wird nicht dazugehören.“  
„Weil es die Wahrheit wäre?“  
„Du verdrehst die Welt, wie sie dir gefällt.“  
„Nein.“ Erneut hebe ich müde die Mundwinkel. „Ich begreife sie.“  
146  
„Was hat dich dazu gemacht?“ Sie rührt sich nicht. Ihr Blick ist starr, als  
blickte sie ihrem Tod ins Auge. „Was konnte ein kleines, unschuldiges Kind zu  
diesem furchtbaren Mann machen?“  
„Ein Herz.“  
„Ich bin mir sehr sicher, dass wir das nicht gemein haben.“ Das graue Licht  
malt Sie in seltsame Schatten.  
„Rohe Fasern“, sage ich matt, „noch warmes Blut.“  
„Es schmeckt kalt.“  
„Du weißt es am besten“, erwidere ich schlicht.  
„Du doch auch?“ Sie lacht auf. „Behauptest zumindest du.“  
„Von Zeit zu Zeit.“ Der Flügel schabt über die Wand, als ich mich zurücklehne.  
Sie bleibt ruhig, gelassen, während der Gestank von Eiter sich unter Sporen  
und altes Wasser mischt. „Du bringst dich selbst um.“ Eine gönnerhafte  
Feststellung.  
„Ich erwecke mich in diesem Moment wieder zum Leben.“  
„Glaubst du das wirklich?“  
„Ja.“  
„Der Flügel zerfrisst dich. Du bist nicht würdig, ihn zu tragen, also rächt er  
sich an dir.“  
„Ja.“  
„Mit jedem Mord kommst du deinem eigenen Tod ein Stück näher.“  
„Nein.“  
„Verschließ ruhig die Augen davor“, höhnt Sie. „Wir werden sehen, wer von  
uns beiden Recht behalten wird.“  
„Derjenige, der über das Schicksal triumphiert.“  
„Du willst nicht spielen, ich werde nicht spielen.“ Sie verlagert das Gewicht  
auf ihr linkes Bein. „Ich denke, derjenige der Recht hat, wird einfach Recht  
behalten.“  
„Die Schlange frisst ihren eigenen Schwanz“, spotte ich und reibe mit dem  
Daumen über meinen Oberschenkel. „Wie war es, ein noch pulsierendes Herz  
zu verzehren? Hat es dich mächtig fühlen lassen? Wehrlos?“  
„Sei still.“  
„Verwegen?“, schlage ich vor. „In den blutigsten Momenten ist der Mensch  
dem Tier in sich am nächsten.“  
147  
„Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst.“  
„Von Blut“, sage ich. „Von dem, was du verdient hast.“  
Sies Schweigen ist abrupt. Finster starrt sie vor sich hin. Das dunkle Haar fällt  
ihr in das blasse Gesicht und ich genieße die Stille. Übertönt von brüllenden  
Motoren, die dem Himmel Dreck entgegenschleudern.  
„Ich habe nichts davon verdient“, sagt sie schließlich. „Wenn du wirklich das  
bist, was du behauptest, dann wüsstest du das.“  
„Man selbst weiß nur, was man bekommt. Nicht, ob es gerechtfertigt ist.“  
„Du willst mir die Entscheidung also abnehmen?“, spottet Sie. „Du weißt  
kaum etwas über mich.“  
„Genug“, sage ich. „Für den Moment.“  
„Um mich hinzurichten?“ Sie rollt die Augen. „Womit habe ich dich so  
verdammt wütend gemacht?“  
„Ich bin nur die Hand, nie der Kopf.“  
„Du bist alles, was du sein willst.“  
„Ich lebe.“ Matt lächle ich ihr zu. „Ich habe nie ein noch schlagendes Herz  
verzehrt. Ich habe nie verdammt. Ich bin nur da, wenn jeder andere längst  
gegangen wäre.“  
„Du bist krank“, murmelt Sie. „Du bist kranker als jeder andere Mensch.“  
„Ja.“ Ich werfe einen Blick auf die rauschende, löchrige Straße. Der Knall des  
Schusses klingt nach, der Geruch von Blut liegt noch immer in der Luft und  
der Dreck haftet auf Sies Händen, auf ihrem Gesicht, als hätte ich ihr keine  
Zeit eingeräumt, beides abzuwaschen.  
„Ich tue, was ich tun muss“, sage ich schließlich.  
Schweigend öffnet sie ihre Jacke und legt sie über die hohe Lehne eines alten  
Stuhls. Ihre Miene ist bar jeder Emotion, als Sie die Messerschublade öffnet  
und eine rostig klirrende Klinge hervorzieht, sie sich unter die Haut jagt und  
diesen Überrest entfesselt, der sie am deutlichsten vom Menschsein  
verstößt. Leise raschelnd entfaltet sich der Flügel. Die Federn sind dunkel und  
verklebt, der Gestank von altem Blut und Eiter haftet an ihnen. Er reckt sich  
träge der Decke entgegen. Langsam wendet sie mir ihren Rücken zu und ich  
betrachte die dicken Adern, die sich träge unter ihrer Haut entlangziehen,  
feste Kordeln über zartem Fleisch. „Wir tun doch alle nur das, was wir tun  
müssen.“  
148  
„Dann erheben wir uns zum Heiler, obwohl wir die Heilung selbst am  
dringendsten nötig hätten.“ Für keine Sekunde lasse ich Sie aus den Augen.  
Sie steht stolz vor mir, das Kinn leicht gereckt, die Mundwinkel gehoben und  
ein gefährliches Funkeln in ihrem klaren Blick. Der Tod hat sie nicht  
geschwächt. Er hat sie auf Null gesetzt und von dort aus agiert sie, als hätte  
sie nie etwas anderes getan.  
„Warst du damals dabei?“, fragt Sie mich schließlich.  
„Wann?“  
„Als sie mich dazu gezwungen haben.“  
„Wozu?“  
Der Widerwillen steht ihr ins Gesicht geschrieben. „Das zu essen.“  
„Was?“  
„Das Herz.“ Sie spuckt die beiden Worte aus.  
Meine Lippen verziehen sich zu einem winzigen Lächeln. „Nein.“  
„Woher weißt du davon?“  
„Du hast mir davon erzählt.“  
„Nicht, dass ich wüsste“, sagt Sie. „Ich habe mit dir nie über mich  
gesprochen.“  
„Ich habe mit dir über dich gesprochen“, erwidere ich.  
„Wie?“  
„Du bist nicht die Einzige, die den Verstand sucht und ihn nicht findet.“ Ich  
falte die Hände und lehne mich gegen die Wand. Ein kreischender Schmerz  
fährt mir durchs Mark, während der Flügel zwischen Mauer und mir  
eingeklemmt wird. „Jede finstere Nacht, die du mich alleinließt, hingst du mir  
in Gedanken nach. Es war ein Leichtes, einen Zugang zu deinem Kopf zu  
finden, und von dort aus war es lächerlich simpel, dir deine Erinnerungen zu  
stehlen.“  
„Immerhin habe ich welche.“  
„Stolz für die falsche Sache.“  
„Ich bin noch jemand“, sagt Sie. „Vielleicht habe ich nicht immer alles richtig  
gemacht, aber immerhin bin ich da.“  
„Stolz für die Niederlage.“  
„Wann habe ich verloren?“, höhnt Sie. „Ich lag nicht in meinem eigenen  
Speichel und konnte mich nicht mehr bewegen.“  
149  
„Du lagst in deinem eigenen Blut“, erinnere ich Sie. „Du warst dort, allein. Die  
Kuppel spannte sich über deinen Kopf wie ein finsterer Baldachin und die  
Kerzen strahlten. Man hat es dir aus dem Leib geschnitten und du  
empfandest weder Scham noch Angst. Ein Befehl ist dein Befehl und du tatst  
wie dir geheißen.“  
„Ich war jemand“, wiederholt Sie. „Du könntest genauso gut nie existiert  
haben. Dein Kopf wäre genauso leer.“  
„Er ist nicht leer“, erwidere ich gedehnt. „Wer ich war, spielt nur keine Rolle.  
Heute lebe ich und das ist mein Privileg.“  
„Du lebst“, spottet Sie. „Du denkst, dass du lebst, und wenn auch nur ein  
winziger Zweifel daran aufkommt, versuchst du andere Menschen in ihr  
Verderben zu stürzen.“  
„Nein.“  
„Was soll das hier dann?“  
„Du sollst den Flügel opfern.“  
„Niemand will ihn haben.“ Das geöffnete Fenster erlaubt eine matte  
Spiegelung. Sie erkennt sich selbst daran. Eine bleiche Gestalt, die Stirn  
gerunzelt und die Lippen fest aufeinandergepresst. Der Flügel ist ein dürrer  
Zweig mit alten Blättern, die träge zu Boden gleiten wollen. Ein  
Schreckgespinst, das sich selbst am meisten fürchtet.  
„Das Schicksal nimmt, was es bekommen kann.“  
Seufzend schließt Sie die Augen. „Wie sollte dir das helfen, die Rote Liste zu  
vernichten? Alex, du steuerst auf eine Unmöglichkeit zu.“  
„Ist das Schicksal gelähmt, wird alles möglich“, sage ich.  
„Das ist doch Schwachsinn.“  
„Der Wahn kommt zuletzt.“ Ich hebe eine Schulter. „Nichts macht die Rote  
Liste mächtiger als das Schicksal. Es war dein Schicksal dort in dieser  
Finsternis gefangen zu sein und dich unwillig selbst auf die Liste zu  
kapitulieren. Es war Djanos Schicksal, das Leben bedeutungslos auf der  
Straße zu verlieren. Es ist mein Schicksal heute hier zu stehen und dich zu  
bitten, das Schicksal zu vernichten.“  
„Niemand beschwört seinen eigenen Tod“, murmelt Sie. „Niemand, der ganz  
bei Sinnen ist.“  
„Wer behauptet, dass das Schicksal noch denken kann?“ Die Stille vibriert.  
150  
Mir stellen sich die Nackenhaare auf und ich rieche Rosen. Rosen und Blut,  
Pest und Tod. Die Schatten wirbeln um sich selbst und blinzeln durch ihre  
blauen Augen, die sich in roten Teichen selbst ertränken.  
„Wenn ich gegen das Schicksal kämpfe, dann für mich“, wiederholt Sie.  
„Warum?“  
„Weil du es nicht verdient hast, dass ich für dich gewinne.“  
„Du kennst mich nicht.“  
„Ich glaube langsam, je weniger ich über dich weiß, desto besser verstehe ich  
dich. Du legst es nur darauf an, alles um dich herum zu verdrehen, bis dir das  
Ergebnis gefällt.“  
„Von Zeit zu Zeit“, räume ich ein.  
Sie nickt knapp. „Eigentlich immer. Du willst es dir nur nicht eingestehen.“  
„Oder dir.“  
Ich hebe ausdruckslos die Mundwinkel. „Dein Armageddon war ein noch  
schlagendes Herz“, sage ich, „meines nur die Nacht.“  
Sie verschränkt die Arme vor der Brust. Träge entfaltet sich die Federn.  
Winzige Klümpchen regnen zu Boden wie Sand. Ein Flügel war stets zu wenig,  
um den Himmel zu erklimmen. Er reißt einen schneller in die Hölle, als  
besäße man keinen.  
„Die Schatten kamen, ehe ich zu Vernunft kam“, sage ich. „Ein kleines Kind  
reflektiert seine Spielkameraden nicht und die Hexe schickte sie mir. Nacht  
für Nacht. Hinein in mein Zimmer. Sie flüsterten mir Gedanken ein, Ideen,  
und je länger ich ihnen zuhörte, desto essentieller wurden ihre Worte. Ich  
hätte alles geopfert, um ihnen nah sein zu können. Ich hätte alles getan, um  
ihnen folgen zu dürfen, und wenn sie mir sagten, es braucht nur einen Liter  
mehr Blut, dann tat ich es. Die Welt war einsam und sie war kalt. Mit den  
Schatten an meiner Seite fürchtete ich mich, aber wusste, dass sie mich Heim  
bringen würden. Wo meine Heimat auch sein sollte. Dass sie mich betrogen,  
begriff ich zu spät, und dass ich den Tod vernichtete, verstand er erst, als er  
vor mir kniete. Wir treiben ein gefährliches Spiel. Wir sollten gewinnen, ehe  
man dahinterkommt.“  
„Du sagst nichts, weil es so ist“, wirft Sie mir gepresst vor. „Du spielst immer  
die gleiche Karte aus. Aber das bringt dir nichts!“  
„Alles hat seinen Anfang.“  
151  
„Bestimmt. Ich halte dich nur immer weniger für einen Menschen. Wo auch  
immer du also begonnen hast, es war bestimmt in keinem Kinderzimmer.“  
Seufzend berühre ich die gefangenen Federn meines eigenen Flügels. „Wenn  
wir gemeinsam agieren könnten, wären wir mächtig“, sage ich. „Wenn wir  
gemeinsam auf ein Ziel zusteuern würden, könnten wir siegen.“  
„Worüber?“, fragt Sie. „Über das Schicksal? Leben? Tod? Manche Dinge sollte  
man nicht gegen sich aufbringen.“  
„Es hat mir nie geschadet.“  
„Es hat dir geschadet“, wirft Sie mir vor. „Es dir immer geschadet.“  
„Worauf möchtest du hinaus?“  
„Darauf, dass nichts von dem, was du tust, einen Sinn ergibt.“  
Ich will ihr den Flügel eigenhändig abschlagen. Stattdessen biete ich ihr  
meine Hand an. Sie macht keine Anstalten einzuschlagen. Zwei Meter  
trennen uns und es könnte die gesamte Welt sein. Es wäre ähnlich  
aussichtslos, dass wir zueinanderfinden.  
„Nein“, sagt Sie schließlich entschieden. „Ich habe dich viel zu oft berührt.“  
„Tust du es nicht, bezahlst du mehr.“  
„Ich bezahle gar nichts mehr.“ Achselzuckend setzt sie sich. „Ich bin tot.  
Eigentlich bin ich lange tot und alles, was jetzt passiert, kann mir herzlich egal  
sein.“  
„Du bist zurück.“  
„Ich habe mein Leben gelebt. Das nimmt dieser ganzen Situation ziemlich viel  
Druck.“  
„Du wurdest gelebt“, gebe ich zu Bedenken. „Wenn du beginnen möchtest,  
zu leben, wahrhaft am Leben zu sein, solltest du dich aus dem Schatten  
herauswagen.“  
„Mir geht es gut. Danke der Nachfrage.“  
„Darauf wollte ich nicht hinaus.“ Unbeirrt biete ich ihr meine Hand an. Meine  
Finger beben kaum merklich. Die Falte zwischen ihren Brauen vertieft sich.  
„Du bleibst lieber in deinem Käfig als mir zu vertrauen.“  
„Man kann dir nicht vertrauen.“  
„Lass mich dir zeigen, warum du falsch liegst.“  
Sie rollt die Augen. „Klar. Genau.“  
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Mein Angebot steht. Sie verharrt so weit von mir entfernt, wie es ihr möglich  
ist. Der Gestank der Abgase kämpft sich durch den Staubnebel durch das  
geöffnete Fenster und der Schimmel verteilt seine Sporen. Sie setzen sich in  
unseren Lungen fest und züchten dort ihre eigene Krankheit.  
„Du musst die Hand nicht so halten. Ich werde nicht einschlagen“, beharrt  
Sie.  
„Warum?“  
„Weil du es nicht verdient hast.“  
„Warum?“  
„Weil du boshaft und manipulativ bist?“  
„Nein. Ich bin, was du verdient hast.“  
„Ich habe nichts getan, was dich rechtfertigen würde.“ Sies Augen funkeln.  
Die Lippen sind zu einer weißen Linie zusammengepresst und die Schultern  
gestrafft. Ich habe sie vermisst. Auf diese Weise. Sie hat mich inspiriert,  
solange sie Energie und Entschlossenheit ausgestrahlt hat. Sie verriet mich,  
als Sie vor mir in die Knie ging und alles tat, worum ich sie bat. Wir waren gut  
zusammen. Sehr gut.  
Bis sie glaubte, besser sein zu müssen. Die eigenen Erwartungen haben noch  
jeden in seinen eigenen Abgrund gerissen.  
„Wirf einen Blick mit mir dorthin.“  
„Ich habe dieses Herz damals nicht freiwillig gegessen und ich glaubte  
wirklich, dass ich den Menschen in der Heilanstalt helfe. Ich habe alles getan,  
um ihnen zur Seite zu stehen. Alles! Ich war immer für sie da.“  
„Nicht in deine Vergangenheit.“  
„Du hast keine Erinnerungen“, wirft Sie mir vor. „Alles, woran du dich  
angeblich erinnerst, denkst du dir in diesem Moment aus.“  
„Es ruht tiefer in mir.“ Ich räuspere mich. „Dort, wo ich es am besten  
verleugnen kann.“  
„Was?“ Sie rollt die Augen. „Dass du ein dreckiger Lügner bist?“  
„Was ich war.“  
„Mach dich nicht lächerlich.“  
„Nur für dich.“  
153  
Die Stille zerreißt uns. Nichts ist gefährlicher als der Ursprung. Nicht ist  
manipulativer als den Beginn zu sehen und eine Entschuldigung für Taten zu  
finden, die nicht zu entschuldigen sind.  
Zwischen Schimmel und Staub gab es nie etwas, das mir mehr Gewissheit  
gegeben hätte. Mehr Befriedigung.  
Als Sie aufsteht und einige Schritte auf mich zu macht, löst sich ein Großteil  
der Anspannung und regnet in Fetzen zu Boden. Meine Finger schließen sich  
um ihre und ich konzentriere mich auf die Wärme ihrer Haut. Den bekannten  
Geruch und die weiche Berührung. Mir kochte der Schädel, als sie das letzte  
Mal auf diese Weise nach meiner Hand griff. Damals wollte sie mir Trost  
spenden. Heute bin ich allein.  
Ich lasse Sie ein. Wir gehen Seite an Seite durch die absolute Finsternis  
meiner Gedanken, tapsen in das Unterbewusstsein und öffnen die Tür, die zu  
dem Tresor meiner Erinnerungen führt. Er ist still. Als wäre gestorben, was  
ich darin aufbewahrt habe. Je weniger man über sich selbst nachdenkt, desto  
mehr schrumpft das Gewissen und das Gewissen ist alles, was einen Mann  
dazu treibt, sich selbst zu verraten.  
Ich öffne diese Erinnerungen und tauche in die eine ab, die Sie dazu bewegen  
könnte, für mich zu gewinnen. Gegen das Schicksal. Denn dieser Junge dort,  
der allein sitzt im prallen Sonnenschein, hat nichts verdient als einen Hauch  
von Normalität und eine Ahnung von Selbstbestimmung. Nichts als einen  
weiteren Weg. Einen besseren Weg.  
Der Junge, der dort sitzt im prallen Sonnenschein, ist wie sie.  
Mir ist kalt. Ich spüre Sie in meinem Verstand wie einen winzigen  
Fremdkörper, während ich mich treiben lasse. Der Wind beißt sich mit der  
Hitze der Sonne, bis er jedes Bisschen von ihr verschlungen hat. Bäume  
rascheln mit ihren Blättern und der fremde Geruch von Moor und Sumpf ruht  
in der Luft. Die Irrlichter locken zwischen den verschlungenen Zweigen und  
das Haus, das auf meinem Grundstück steht, ist kleiner und baufälliger.  
Meine Sicherheitsmaßnamen waren noch nicht erfunden und die Treppe zu  
unsicher, als dass ich sie bis heute hätte behalten können. Tröstend lehnt sich  
eine Eiche über mich und berührt mit ihren Schatten die kleinen  
Kinderhände. In der Ferne kläfft ein Hund. Die Geschichte, die ich  
154  
wohlüberlegt erzähle, findet in diesem Moment ihren Ursprung. Die Hexe  
trägt ein sommerliches Kleid, das Gesicht jung und die Augen doch  
pechschwarz. Ihr Rücken ist vernarbt und der leichte Stoff verschleiert die  
Makel nicht. Ihr pechschwarzes Haar hat sie zusammengebunden und der  
Sonnenschirm hält die Strahlen von ihrer porzellanweißen Haut fern. Ihre  
Lippen verziehen sich zu einem Grinsen und entblößen Zähne, die spitzer  
sind, als es für einen Menschen üblich ist.  
Ich spüre die Angst, als hätte ich nie aufgehört, empfinden zu können. Sie  
verpestet jeden meiner Gedanken, macht mich zu einem willenlosen Bündel,  
das den Kopf einzieht und angestrengt den Blick der fremden Frau meidet.  
Sie betritt unser Grundstück, als würde es ihr gehören. Ich kann nicht  
schreien, bin nur ein Kind, das auf einer Wiese sitzt und nicht ganz versteht,  
was ihm geschieht. Ich bin nur ein Junge in einer Hose, aus der er längst  
herausgewachsen ist, mit Händen, die zu schwach sind, um sich selbst zu  
verteidigen.  
Wenn ich sie nicht sehe, sieht sie mich auch nicht. Die simpelsten  
Kinderregularien werden von ihr außer Kraft gesetzt. Die Hexe gesellt sich zu  
mir und schließt den Sonnenschirm. Heiße Strahlen stehlen sich durch das  
zuckende Blätterdach, während der Duft des Grases mir in der Nase liegt.  
„Eltern sollten Kinder nicht allein lassen“, sagt die Hexe. „Sie könnten  
verschwinden.“  
Ich starrte stoisch auf meine Finger. Sie waren zu klein, um Unheil anrichten  
zu können, und mein Herz schlug zu schnell, als dass ich hätte davonlaufen  
können.  
„Ich besuche dich gern, Alexander. Manchmal vergesse ich fast wie gern.“  
Bienen summen und setzen sich auf die Blüten, weit von uns entfernt.  
„Du bist ein guter Junge. Du solltest mit mir kommen.“  
Kein Körper, kein Verbrechen.  
Die Hexe berührt mich und ich rücke von ihr ab. Die Nägel graben sich in  
meine Haut und als ich unbedarft versuche, mich von ihr zu lösen, fordern sie  
Blut.  
„Hab keine Angst. Ich gebe besser auf dich acht als jeder sonst. Ich will dich  
behalten. Ich will dich zähmen, ich will dich erschaffen.“  
155  
Das Kind ist nur ein Junge. Ein Häufchen Elend, das stumm darauf wartet,  
dieser Situation zu entfliehen. Vögel stoßen Warnrufe aus und die bittere  
Panik verpestet mir das Blut. Ich bin ein Häufchen Elend und ich fürchte mich.  
„Alexander“, murmelt die Hexe. „Ein guter Name. Ein starker Name. Wie  
haben deine Eltern dich noch genannt?“  
Namen bedeuten Macht.  
„So ein starrer, stummer Kerl.“ Mit der Rückseite ihrer Finger liebkost sie  
meine Wange und ich sinke in mich zusammen, das Haar in der Stirn und die  
Furcht im Herzen. „Du wirst ein guter Mann werden. Ein mächtiger Mann.  
Wer dich zuerst findet, der darf dich behalten.“  
Sie war dort. Sie war immer dort. Sie ließ nie von mir ab. Wann immer ich auf  
dem Scheideweg stand, wartete sie längst auf mich, und welche  
Entscheidung ich auch traf, sie führte mich in die andere Richtung. Der  
Wunsch, zu warten und zu verharren, er wird ewig. Er zerfrisst mich und lässt  
das kleine Herz rasen. Das Sehnen nach einer Lösung dieses Moments  
prickelt durch meine Venen, während ich ihren Blick meide. Man spürt, was  
gut ist und was nicht. Die Hexe hatte nie etwas an sich, was sie zu einem  
vertrauenswürdigen Menschen gemacht hätte.  
Denke ich zurück, male ich sie mir als alte Frau aus. Sie war damals so  
verkommen wie sie es heute ist.  
„Alexander“, murmelt die Hexe. „Alexander, komm mit mir. Ich will dir  
zeigen, wer du sein kannst. Ein Junge mit deinem Namen sollte nicht  
zwischen Büschen und Bäumen auf seinen großen Moment warten. Ein Junge  
wie du sollte kämpfen.“ Ich schwieg und je länger sich die Stille zog, desto  
beißender wurde die Gegenwart der Hexe. „Alexander Muraniel Suchat  
Miruel“, murmelte die Hexe, „komm mit mir.“  
„So heiße ich nicht“, flüsterte ich mit dünner Stimme.  
„Wie deine Eltern dich genannt haben, das ist mir egal. Ich sehe deinen  
Namen in deinen Augen stehen, wenn ich bei dir bin.“  
„So heiße ich nicht“, wiederholte ich und war nichts weiter als ein Kind, das  
sich gegen das Schicksal auflehnen wollte. Meine Muskeln zitterten, denn es  
war kalt. Die Sonne konnte scheinen, aber die Eissplitter zogen sich  
unaufhörlich weiter durch meine Muskulatur.  
156  
„Das ist dein Name“, wiederholte die Hexe. „Er gilt vor Gott und Teufel. Das  
ist dein Name.“  
„Das ist nicht dein Name“, murmelt Sie. „Sonst hätten dich die Furien längst  
getötet.“ Mit dem Klang ihrer Stimme zersplittert meine Konzentration. Ich  
weiche von der Erinnerung zurück, als hätte ich mich verbrannt.  
„Die Hexe weiß auch nicht alles“, sage ich schlicht.  
„Aber sie wusste, wer du warst, als du ihr das erste Mal begegnet bist.“  
„Heute hat sie mir Djanos Gesicht gestohlen, obwohl es mir zustand“, sage  
ich. „Sie tut viel, sie weiß viel. Schlussendlich nutzt es ihr nichts.“  
„Das kannst du nicht wissen.“  
„Doch.“  
„Warum?“ Sie betrachtet mich distanziert.  
„Weil ich ihr näher bin als jeder andere.“  
„Sie kennt dich auch besser als jeder andere es tut“, gibt Sie zu bedenken.  
„Deswegen kennt sie deinen Namen.“  
„Niemand kennt meinen Namen. Nicht einmal ich selbst.“  
„Jeder weiß, wie er heiß.“  
„Ich nicht.“ Matt hebe ich meine Mundwinkel. „Trotzdem hat sie mir Djanos  
Gesicht gestohlen.“  
„Es steht dir nicht zu“, sagt Sie.  
„Es gehört mir mehr als alles andere.“  
„Es steht dir nicht zu“, wiederholt Sie.  
Schweigend blicke ich aus dem Fenster. Der Flügel zerrt. Ich fühle ihn  
wachsen. Lässt man ihn lang genug atmen, entfaltet er eine Macht, die in  
einer anderen Welt genügen würde, mich in den Himmel zu heben.  
„Ihr ebenso wenig“, sage ich.  
„Sie wird es zumindest nicht für irgendeinen Unsinn missbrauchen“, sagt Sie.  
„Die Hexe hat noch eine Ahnung von Ehrgefühl.“  
„Niemand stiehlt den Furien ein Gesicht, weil er Gutes im Schilde führt.“  
„Schlimmer als alles, was du vorhattest, kann es nicht sein.“  
„Ich wollte, dass du mir in Djanos Gesicht ein Versprechen unterbreitest.“  
„Das wäre dir nicht gelungen“, sagt Sie. Ihr Vertrauen in ihr fragiles Selbst ist  
erstaunlich. „Du hast mich die längste Zeit betrogen.“  
„Ich habe dich dir selbst vorgeführt.“  
157  
„Du hast dich vorgeführt“, sagt Sie. „Sonst nichts. Du bist nichts als ein  
dreckiger Manipulator.“  
„Du nichts als eine Mörderin. Am Ende des Tages stehen wir auf der gleichen  
Seite und gehen miteinander auf oder unter.“ Träge presst der Wind sich  
durch die Fensteröffnung und wälzt über den besuldeten Boden. Seine  
schwachen Finger krallen sich in meinen Flügel und spreizen die Federn.  
Verdorben wie er selbst.  
„Dann gehe ich unter.“  
„Du wirst spielen“, wiederhole ich.  
„Wenn, dann nach meinen Regeln.“  
„Was wäre deine Forderung?“  
Sie zögert keine Sekunde. „Dein Tod.“  
„Man kann mich nicht vernichten.“  
„Ich bin optimistisch, dass das Schicksal dazu in der Lage wäre. Vielleicht  
muss ihm jemand auf die Sprünge helfen.“  
„Die Welt wäre ohne mich verloren.“  
„Ich denke, es ginge ihr besser.“ Sies Finger beben kaum merklich. Wenn sie  
mich in den Tod schickt, mein Leben als Prämie setzt, dann begeht sie den  
Fehler wie zahlreiche Seelen vor ihr: Sie wendet sich von dem ab, was sie  
furchtsam begehren. Weil sie glaubten, diese Entscheidung wäre die  
einfachste.  
„Wer wärst du ohne mich geworden?“, seufze ich. „Wir geben und nehmen  
beide und was wir auch schaffen, es ist größer als alles, was wir uns hätten  
erträumen können.“  
„Was hast du schon?“, spottet Sie. „Du bist immer noch dort, wo du vor  
hundert Jahren warst. Vielleicht hast du dich in mehr Intrigen verstrickt, aber  
du bist keinen Schritt weitergekommen. Und ich?“ Harsch lacht sie auf. „Ich  
war tot! Mich hast du unter die Erde gebracht.“ Sie räuspert sich. „Du hättest  
mich unter die Erde bringen sollen. Wenn du nicht zu feige gewesen wärst.“  
„Wir sind beide hier. Wir könnten beide leben.“  
„Und dann?“ Es ist lange her, dass Sies Augen nicht zuckten, während sie  
mich ansieht. Nun ist Sie still. Beinahe gelassen. Wir bewegen sich auf  
Messerschneide und der Wind reißt an dem Pferdehaar, das unser  
Damoklesschwert umklammert. „Was dann, Alex? Was ändert sich?“  
158  
„Leben macht Menschen.“  
„Du sagst, du lebst, aber du bist kein Mensch. Du bist das Unmenschlichste,  
dem ich je begegnet bin.“  
„Womöglich“, ich stocke, „könnte sich das ändern.“ Ich verspüre ein seichtes  
Ziehen und es gräbt sich bis tief in meine Muskultur. Mich räuspernd straffe  
ich die Schultern. Die Federn des Flügels reiben rau über die Wand und  
schaben den Schimmel von der Tapete. Ein Flügel. Nutzloser als ein Bein. Er  
bringt mich aus dem Gleichgewicht und je länger ich ihn trage, desto  
wehmütiger werde ich. Desto verzweifelter suche ich nach einem Ergebnis.  
Nach einem Wenn, nach einem Aber, nach irgendeiner Idee, die Sinn ergibt  
und mich hinausführt aus dieser Finsternis, die ich nicht bin, die ich nicht will,  
um die ich nie gebeten habe. Das Schicksal gibt, was es geben will, und das,  
das was bleibt, das ist, womit wir leben müssen. Was wir verkörpern müssen.  
In unseren ewigen Reigen zwischen Höllenfeuer und himmlischen Gesängen.  
„Dafür müsstest du dich ändern“, sagt Sie leise. „Ich habe alles getan, damit  
du dich überwindest und mehr wirst als du. Aber du weigerst dich. Also  
weigere ich mich auch.“  
„Ich habe alles gegeben, was ich hatte“, erinnere ich Sie.  
„Was soll das gewesen sein?“  
„Mein Körper.“  
„Du bist mehr als nur dein Körper.“  
„Mein Gesicht“, erinnere ich Sie. „Ich habe mein Gesicht gegeben und es hat  
mich mehr gekostet, als du dir in diesem Moment ausmalen wirst.“  
„Ich habe mein Gesicht und mein Leben gesetzt und heute stehen wir hier  
und nichts ergibt mehr einen Sinn.“  
„Sinn braucht es nicht, um das Schicksal zu besiegen.“ Ein Messer kostet es.  
Das richtige Blut. Geduld. Raffinesse. Grausamkeit. Tugenden, die Sie in sich  
vereinen kann. Ich habe sie gesehen. Ich habe sie erlebt. Ohne Betäubung  
schnitt sie mir in den Schädel. Ohne Entschuldigung ließ sie mich zurück. So  
wenig ich auch fühle, so intensiv sind mir diese Momente in Erinnerung  
geblieben. Ich war nie ein Gefangener meines Körpers. In ihrer Gegenwart  
wurde ich zu einem kleinen Jungen, der gegen seine eigene Haut strampelt  
und keinen Ausweg findet. Zu einem kleinen Jungen, der nach einer Lösung  
sucht, sich in ihr bewegt und sie mit jedem Atemzug ein Stück mehr verzehrt.  
159  
„Was willst du von mir, Alex?“ Die gleiche Frage. Die gleiche Stimmlage. Die  
gleiche Person.  
Ich rieche den Regen und ich rieche die feuchten Hinterlassenschaften alter  
Körper. Ich spüre die muffige Kälte auf meiner Haut, gegen die verzweifelt  
Heizöfen anböllern. Ich höre die gedämpften Schreie und ich spüre die Nacht.  
Ich schmecke den Tod auf meiner Zunge, als böte man ihn mir an. Ich bin  
dort. Ich bin dort und vor meinem Fenster hängen Gitterstäbe.  
Ich bin, was jeder verdient, und während ich räche, bezahle ich selbst am  
höchsten.  
„Ich habe mir lange gewünscht, dass du mich willst“, sagt Sie schließlich. „Ich  
wünsche es mir heute noch, aber ich kenne dich, Alex. Ich weiß, was möglich  
ist und was nicht und ich weiß, gegen wen ich auch antrete, was ich auch tue,  
wie weit ich auch gehe, es wird nie genug sein. Es wird nie reichen.  
Zumindest nicht für dich.“  
„Für dich denn?“  
Sie leckt sich über die Unterlippe. „Von Zeit zu Zeit.“  
Meine Worte.  
„Von Zeit zu Zeit mehr, von Zeit zu Zeit weniger.“  
„Ich würde mich bemühen, dich zu lieben. Wenn wir über das Schicksal  
triumphieren, mischen sich die Karten neu.“  
„Das reicht nicht“, sagt Sie prompt. „Das hat damals nicht gereicht und es  
reicht heute nicht.“  
„Ich könnte mich ändern“, sage ich und meine es wie Jahrzehnte zuvor. „Ich  
könnte zu dem werden, was du in mir sehen willst.“  
„Du bist meine Strafe.“ Sie räuspert sich. „Zumindest behauptest du das.“  
„Ich bin deine Strafe“, pflichte ich ihr bei. „Du bist meine.“  
„Also?“  
„Wir bewegen uns im Kreis. Weil das Schicksal unsere Zügel hält.“  
„Wir können das nicht ändern.“  
„Du könntest siegen“, erinnere ich Sie. „Du könntest tun, worum ich dich seit  
immer anflehe.“  
„Früher wolltest du in meinem Namen gewinnen.“  
„Heute haben sich die Zeiten geändert. Das geschieht.“ Ich hebe einen  
Mundwinkel. „Von Zeit zu Zeit.“  
160  
„Ich werde nicht spielen.“  
„Du fragst mich, was ich will.“  
„Dass ich spiele“, sagt sie. „Aber was willst du von mir? Warum ich?“  
Ich zögere, suche nach den Worten und finde sie nicht. „Die Hoffnung ist ein  
Spinnentier“, sage ich schließlich.  
„Was heißt das jetzt?“  
Schweigend blicke ich aus dem Fenster. Mit jedem Zentimeter, den der Flügel  
sich weiter entfaltet, wächst alles, was ich ausradiert habe. Ich weiß, dass mit  
diesem Flügel mein Körper heilt und nach dem passenden Gegenstück sucht.  
Sie steht vor mir. Das dunkle Haar fällt ihr in das bleiche Gesicht und ihre  
Hände sind besudelt. Leise raschelnd löst sich eine Feder von der anderen.  
„Wer gegen das Schicksal siegt“, sage ich langsam, „entscheidet über die  
Zukunft. Sie könnte dir zu Füßen liegen. Alles, was du tust, könnte von  
Bedeutung sein.“  
„Ich wollte Menschen heilen“, sagt Sie. „Es ist mir nicht gelungen. Ich war tot,  
nun bin ich hier.“  
„Jeder Mensch will Macht.“  
„Streng genommen“, fährt Sie fort, „bin ich genauso wenig ein Mensch wie  
du.“  
„Die Macht bleibt.“  
„Ich habe genug getötet. Ich war mächtig genug.“  
„Das Schicksal wird dich verhöhnen.“  
„Solange es dich umbringt, soll es mir recht sein.“  
Die Stille zerstört uns beide. Wir stehen einander gegenüber und ein Teil von  
uns sollte zur Vernunft kommen und endlich das tun, worum ich lange schon  
flehe. Einige Dinge sind klug. Die verschwundene Liste wäre der Beginn einer  
neuen Ära. Einer freieren Ära, einer glücklicheren. Blut würde in Strömen  
fließen und gleichzeitig versiegen. Ungerechtigkeiten würden einander  
ausbalancieren, bis sich Gleiches mit Gleichem vergeltet. Wenn nur die  
Boshaftesten gejagt werden, wen soll dann der kleine Verbrecher fürchten?  
Wen soll der Mann fürchten, der mehr Chaos stiftet als der große Reiche,  
obwohl er mindestens genauso untragbar ist?  
„Setz mein Leben“, sage ich schließlich. „Sag dem Schicksal, dass, wenn du  
gewinnst, dass ich sterben soll.“  
161  
Sies Schweigen ist abrupt. Ihre Finger zittern und das dunkle Haar fällt ihr in  
die Stirn. Ich vermisse den dunklen Lippenstift auf ihren Lippen und die  
sanften Schatten unter ihren Augen. Sie ist nichts weiter als eine Ahnung  
ihrer Selbst. Sie lebt diese Chimär und sie wird nie genug sein.  
„Sollte ich je gegen das Schicksal spielen, werde ich genau das tun.“  
„Entscheid dich rechtzeitig“, rate ich Sie. „Das Spiel hat begonnen, da warst  
du noch tot.“  
„Ich habe nicht eingewilligt.“  
„Du hast immer eingewilligt.“  
Wir sind zwei Teile des gleichen Puzzles. Was ich wollte, dazu habe ich sie  
verdammt, und was glaubte, das spielte zu keiner Zeit eine Rolle.  
„Vor Jahren“, setze ich an, „sprachst du von Freiheit. Du könntest sie  
erhaschen. Mit einer einzigen Entscheidung.“  
„Die du mir aufgezwungen hast.“  
„Zu der ich dich bewegt habe, weil sie das einzig Richtige ist.“  
„Ich werde nichts tun, was du von mir willst.“  
„Warum?“  
„Weil es dumm wäre.“  
„Siehst du den Teufelskreis?“  
Sie schweigt. Ihr Blick schweift aus dem Fenster. Die Finger zittern. Sie zittern,  
als würden sie krampfhaft versuchen, an einem Gegenstand festzuhalten,  
den man ihnen langsam entzieht.  
„Was hast du zu verlieren?“, frage ich Sie. „Was steht für dich schon auf dem  
Spiel?“  
„Alles“, sagt Sie.  
„Nichts“, berichtige ich Sie. „Du bist längst tot. Du bist nicht mehr hier.“  
„Wie erklärst du dir dann das?“ Sie deutet auf sich. Auf uns. Auf die zwei  
Flügel, die sich in diesem Raum gen Himmel strecken und ihn niemals  
erreichen werden. „Wie erklärst du dir, dass ich atme?“  
„Ich habe alles dafür getan.“  
„Ich stehe nicht in deiner Schuld.“  
„Nein“, bestätige ich. „Nicht in meiner Schuld.“  
„Auch nicht in meiner eigenen“, sagt Sie. „Ich habe alles für mich getan. Ich  
habe mehr als alles für mich getan.“  
162  
„Indem du dich selbst geopfert hast?“  
Sie schweigt. Ich tue es ihr gleich. Leise säuselt der Wind durch die Flügel,  
bringt die Federn zum Zittern und erinnert uns an die goldene Zukunft, die  
wir beide verpasst haben und mit der man uns regelmäßig verhöhnt.  
„Es tut mir nicht leid“, sagt Sie schließlich.  
„Mir auch nicht.“ Ich räuspere mich. „Mir täte es leid, wenn du zu feige dazu  
wärst, das Richtige zu tun.“  
„Dieses Spiel wird mich töten.“  
„Ich hole niemanden zurück, damit er qualvoll stirbt.“  
„Schlussendlich wird genau das geschehen.“  
„Woher weißt du das?“ Ich schenke ihr ein mattes Lächeln. „Herrschst du  
schon über das Schicksal?“  
„Nein.“ Heftig schüttelt Sie den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Ich weiß, wozu  
ich fähig bin.“  
„Wozu?“  
„Nicht dazu.“  
„Weil du dich fürchtest.“  
„Alex, ich werde nichts für dich tun.“  
„Weil?“  
„Weil es falsch wäre.“  
„Richtig und falsch sind relativ.“  
„Für mich wäre es falsch“, bekräftigt Sie. „Was du dazu sagst, das ist mir  
wirklich verdammt egal. Für mich wäre es falsch und ich bin es leid, Dinge zu  
tun, die ich nicht vertreten kann.“  
„Wie Menschen zu heilen?“, frage ich. „Obwohl du es wolltest?“  
Sie presst ihre Lippen zu einer einzigen, weißen Linie zusammen. „Das ist es  
nicht.“  
„Sondern?“  
„Hör auf damit.“  
„Sonst wirst du wütend“, sage ich. „Sonst verfluchst du mich.“  
„Ich verfluche dich jede wache Sekunde.“  
„Warum also aufhören?“  
Sies Körper bebt, als müsse Sie einem tosenden Sturm standhalten. Langsam  
gibt sie nach. Langsam knickt sie ein.  
163  
Ich löse mich von diesem trostlosen Flecken und wandere zum Nächsten. Ein  
Glas fülle ich mir mit Wasser und es ist braun. Der metallische Gestank beißt  
mir in die Nase.  
„Warum diese Erinnerung?“, fragt Sie mich schließlich. „Sie verrät mir nicht  
mehr über dich.“  
„Lüge und Wahrheit liegen nah beieinander.“  
„Trotzdem belügst du mich.“  
„Tue ich das?“  
„Ja.“  
„Eine alternative Wahrheit ist keine Lüge.“  
„Du erzählst nur Unsinn“, sagt Sie. „Nur Unsinn! Hörst du das selbst noch?“  
„Von Zeit zu Zeit.“  
Sie schnauft. „Klar. Von Zeit zu Zeit. Was frage ich überhaupt.“  
„Du bist nicht besser als ich und ich nicht schlechter als du.“  
„Ganz sicher nicht.“  
„Was hast du getan, um dich über mich erheben zu können?“, frage ich.  
Sie leckt sich nervös über die Lippen. „Ich bin gestorben. Ich habe  
Verantwortung getragen.“  
„Du bist geflohen.“  
„Ich habe Verantwortung getragen!“  
„Vielleicht in den Augen einer anderen Person. Einer schwachen Person.“  
„Degradier nicht, was ich getan habe.“  
„Natürlich.“ Ich räuspere mich. „Wenn du einmal mutig genug wärst, dich zu  
stellen, würdest du spielen.“  
„Spiel doch selbst“, faucht Sie.  
„Ich übe mich darin“, sage ich, „aber hat man einmal gegen Leben und Tod  
gewonnen, fordert man das Glück nicht mehr zu sehr heraus.“  
„Ich dachte das Schicksal.“  
„Gegen das gedenke ich zu gewinnen.“  
„Durch mich“, sagt Sie.  
„Ja.“  
„Genau da liegt das Problem.“ Langsam löst sie ihre Arme von ihrem Körper.  
„Mach es selbst. Gewinn selbst. Lass mich da raus.“  
„Setz mein Leben“, wiederhole ich. „Das sollte Genugtuung genug sein.“  
164  
Ihre Lippen zittern. „Du weißt ganz genau“, zischt Sie gepresst, „dass ich das  
nicht einmal könnte, wenn ich es wirklich wollte. Du weißt das ganz genau!“  
„Warum?“  
„Weil ich nicht du bin!“, ruft Sie aus. „Weil ich mehr bin als das da.“ Vage  
gestikuliert sie auf mich.  
„Das da?“  
„Du! Ich bin mehr als Du!“  
„Ich bin nur, was du verdient hast“, sage ich. „Das war nie ein  
Machtanspruch.“  
Sie bebt am ganzen Körper. Mein Flügel zuckt. Ich stürze das rostige Wasser  
hinunter wie Djano seinen Schnaps.  
„Du bist nicht das, was ich verdient habe“, wispert Sie. „Du warst nie das, was  
ich verdient habe.“  
„Was macht dich so sicher?“  
„Weil ich das schon selbst bin.“ Ihre Augen zucken. „Jeder Mensch verdient  
sich selbst.“  
„Bis zu einem gewissen Punkt.“  
„Du“, sagt Sie und deutet mit bebendem Finger auf mich, „bist ein  
überflüssiges Gespenst.“  
„Wäre ich überflüssig“, erwidere ich, „könntest du dich von mir abwenden.  
Wäre ich überflüssig, wäre ich längst nicht mehr da.“  
Ich höre Sie atmen. Laut. Rasselnd. Das dunkle Haar umrahmt ihr bleiches  
Gesicht. Sie massiert mit Daumen und Zeigefinger ihre Nasenwurzel, die  
Augen fest zusammengekniffen. „Du kannst mir zeigen, was du willst“, sagt  
Sie schließlich, „ich bleibe bei meinem Entschluss.“  
„Es ist der falsche Entschluss.“  
„Ist es nicht.“  
„In diesem Fall werde ich den ersten Zug tun müssen.“  
Sie hebt den Blick. „Jetzt plötzlich kannst du spielen?“  
„Ja.“ Ich räuspere mich. „Gegen dich.“  
„Gegen mich?“, spottet Sie. „Damit, was? Damit du weißt, wer von uns  
beiden eher überleben und gewinnen kann?“  
„Nein“, sage ich. „Weil du um dieses Duell gebettelt hast, seitdem du das  
erste Mal in meinen Schädel gesehen hast.“ Der Groschen trotz der  
165  
Schwerkraft. Ich fülle das Glas erneut auf. Rostig. Stinkend. Wasser, das das  
Leben raubt. „Der Sieger lebt“, sage ich. „Wir hätten beide leben können.“  
Sie ballt die Hand zur Faust. Das Gesicht verzerrt schlägt sie gegen die Wand.  
Kein Putz bröckelt, kein Riss in der Tapete. Nie war Sie unbedeutender.  
Ich setze mich und warte. Warte, bis der Groschen fällt. Heiße Tränen rinnen  
Sie über die Wangen. Sie wischt sie sich fort. Schniefend wendet sie mir den  
Rücken zu und dieser eine, dieser einzige Flügel reckt sich dürr der Decke  
entgegen.  
Ihre Bewegungen sind schnell, sie sind präzise. Eine Klinge gezückt,  
durchtrennt sie Knorpel, Haut und Fleisch. Dumpf landet der Flügel auf dem  
Boden. Blut fließt.  
Es tränkt den Raum, es tränkt jeden Millimeter meiner Wahrnehmung. Wir  
halten den Blick des jeweils anderen. Die Stille zerfrisst uns und lässt unsere  
Hülsen als leere Andenken zurück.  
„Ich spiele nicht gegen dich“, sagt Sie schließlich. „Ich trete gegen das Leben  
an und wenn ich gewinne, wird es dir dein dummes Privileg nehmen.“  
„Du verhöhnst mich“, sage ich.  
„Nein.“ Sie wischt sich mit dem Handrücken über die laufende Nase. „Ich bin  
dich nur furchtbar, furchtbar leid.“  
Sie sitzt nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ein Stück mehr und unsere  
Fingerspitzen würden einander streifen. Unter dem Sporenregen sind wir  
gefährlich allein. Stumme Tränen laufen Sie über die Wangen und ich  
verstehe diese Regung nicht. Ihr Körper bebt, als hätte ich ihn unter Strom  
gesetzt, und ihre Unterlippe zittert unkontrolliert.  
„Du bist feige“, wirft Sie mir unvermittelt vor. „Du bist so furchtbar feige, du  
schaffst es nicht einmal, mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Du sagst nie  
etwas direkt! Es gibt nur Ja oder Nein, Ja oder Nein oder alles, was noch  
weniger Sinn ergibt.“  
„Alles, was ich tue, verfolgt einen Zweck.“  
„Spreng die Liste doch selbst in die Luft.“ Sie hält meinen Blick. „Du hast die  
Macht. Tu es! Wenn du es so dringend willst, zerstör sie doch einfach.“  
„Das Besondere an Verhandlungen bleibt, dass sie binden.“  
„Dann schließ keine mehr ab. Tu einfach, worauf du Lust hast. Setz mir doch  
166  
einfach vor, was du für mich geplant hast, und hör auf, mit mir zu spielen.“  
„Kein Körper, kein Verbrechen.“  
Sie schnauft unwillig. „Und?“  
„Du bist hier.“  
Ein bitteres Lächeln umspielt ihre roten Lippen. „Also ist es ein Verbrechen,  
wenn du mir Leid zufügst, während ich hier bin? Aber sobald du mich  
verschwinden lässt, wird das völlig in Ordnung sein.“  
„Ja.“  
„Fahr zur Hölle!“  
„Ich betrete sie von Zeit zu Zeit.“  
„Dann bleib da unten.“  
Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück. „Kenntnis sollte dich besänftigen.“  
„Mein Wunsch, dich einfach umzubringen, wächst.“  
„Tu es.“ Ich hebe einen Mundwinkel. „Spiel gegen mich.“  
„Wenn du wirklich“, Sie stockt, „das Schicksal bist, dann hat jeder, der dich  
mitgeschaffen hat, einen riesigen Fehler begangen.“  
„Die Hexe wollte mich so.“  
„Sagst du.“  
„Weiß ich.“  
„Dann muss sie deutlich verrückter sein, als ich dachte“, sagt Sie.  
„Nicht von der Hand zu weisen.“  
„Warum?“, fragt Sie. „Warum hat sie das alles getan? Warum bist du hier?“  
„Ich lebe.“  
„Du lebst nicht“, schnauft Sie. „Mit allem, was du tust, saugst du Menschen  
das Leben aus. Das macht dich noch lange nicht lebendig.“  
„Ich bin realer als ihr alle zusammen.“  
„Leck mich.“  
Nachdenklich betrachte ich Sie. Hektische rote Flecken ziehen sich über ihre  
bleiche Haut, die Schatten unter ihren Augen werden von Stunde zu Stunde  
tiefer und ihre Muskeln zucken gelegentlich unkontrolliert. Sie ist eine  
Marionette an ihren eigenen Fäden, die sich versucht, aus fremden Händen  
zu befreien. Mit einem Zucken, mit einem Rucken.  
„Jeder hat die gleiche Chance“, sage ich.  
167  
„Also kein?“  
„Spiel gegen mich.“  
„Du bist nicht das Schicksal.“  
„Leugnung macht die Wahrheit nicht ungeschehen.“  
„Du hast selbst gesagt, dass es keine Wahrheit gibt.“  
„Ja.“  
„Warum dir also jetzt diesen Unsinn glauben?“  
Das Gerät in meiner Hosentasche vibriert. Wenn ich es hervorziehe, wird es  
keine neuen Nachrichten anzeigen.  
„Hast du Alternativen?“  
„Dir nicht zu glauben?“ Sie reißt die Hände in die Höhe. „Du wurdest als  
Mensch geboren.“ Als ich nicht antworte, springt Sie auf. „Du wurdest doch  
als Mensch geboren, oder?“  
„Ich wurde geboren.“  
„Und?“  
„Ich war zu Tode verurteilt.“  
„Wann?“  
„Als Kind.“  
„Warum bist du nicht einfach gestorben?“, faucht Sie. „Warum hast du es uns  
allen nicht so verdammt viel leichter gemacht?“  
„Man gab mir Halt.“  
„Wer?“, ruft Sie aus. „Wer war schon wahnsinnig genug, dir irgendwas zu  
geben?“  
„Die Hexe.“  
„Was hat sie dir gegeben?“  
„Eine Ahnung.“ Sacht rolle ich den Kopf. Die Wirbel knacken leise. „Ich habe  
dir den Moment unserer ersten Begegnung gezeigt.“  
„Ich glaube ihn dir erst, wenn ich ihn selbst gesehen habe.“  
„Das hast du.“  
„In deiner Erinnerung.“ Sie rollt die Augen. „Ja. Aber als wäre ich wahnsinnig  
genug, deinen Erinnerungen zu glauben!“  
„Es wäre weise.“  
„Das wäre nicht weise, sondern fahrlässig.“  
168  
„Inwiefern?“  
„Wer dir glaubt“, sagt Sie, „ist selbst schuld.“  
„Derjenige gehört zu den Glücklichsten.“  
Sie leckt sich über die Unterlippe. „Du willst mich auf diese Weise nur aus  
dem Weg schaffen“, sagt Sie. „Für immer. Du willst die Sache nachhaltig  
beenden und sichergehen, dass niemand mich mehr zurückholen kann. Nicht  
einmal du selbst.“  
„Ich bin nicht meine Sorge.“  
„Solltest du aber vielleicht sein“, sagt Sie. „Du bist das berechnendste  
Ungeheuer, das mir je begegnet ist.“  
„Ich bedauere das nicht.“  
„Alles andere hätte mich auch stark gewundert.“ Die dunklen Strähnen fallen  
Sie in die Stirn und sie macht keine Anstalten, sie fortzustreichen. „Erzähl mir  
von der Hexe“, sagt Sie unvermittelt.  
„Sie existiert.“  
Sie reibt sich mit dem kleinen Finger über die Nase. „Du lebst, sie existiert, ich  
bin lebendig. So war es doch, oder?“  
Ungefähr. „Ja.“  
„Warum hat die Hexe mich zurückgeholt? Was hast du gegen sie in der  
Hand?“  
„Einen Gefallen.“  
„Einen Gefallen?“ Sie lacht harsch auf. „Dafür setzt sie alle Gesetze außer  
Kraft? Wegen eines lächerlichen Gefallens?“  
„Nein.“  
„Sag einmal die Wahrheit!“  
„Tue ich.“  
„Was dann?“  
„Der Gefallen ist nicht lächerlich.“  
Sie legt den Kopf in den Nacken und starrt an die Decke. Das dunkle Haar  
umrahmt ihr helles Gesicht, die aufgesprungenen Lippen dehnen sich in  
einem lautlosen Lachen. „Nichts, was du tust, sollte man auf eine Weise  
unterschätzen.“  
„Spiel gegen mich.“  
„Du wirst mich besiegen.“  
169  
„Ja.“  
„Warum die Sache nicht abkürzen?“  
„Ich bin nicht dein Richter“, sage ich. „Ich bin dein Fingerzeig.“  
„Und der geht direkt in die Hölle?“  
„So leicht das Gewissen, so hoch steigt die Seele.“  
„Du kannst mich mal.“  
„Mit sich selbst konfrontiert“, sage ich, „werden Menschen sprunghaft.“  
„Ich bin nicht sprunghaft“, sagt Sie. „Ich weiß nur ganz genau, was ich nicht  
verdient habe.“  
„Was hast du verdient?“  
„Nichts von dem, was du mir gibst.“  
„Ich zeig dir dich und du spielst mich aus.“  
Sie blinzelt. „Was?“  
„Das ist das Spiel“, sage ich. „Du bist mächtiger als ich, du gewinnst. Du bist  
schwächer als du selbst, du verlierst. Gegen mich und gegen dich im gleichen  
Atemzug.“ Der stechende Konflikt zerfrisst sie. „Gegen die eigene  
Vergangenheit anzutreten, ist das fairste Angebot, das ich dir unterbreiten  
kann.“  
„Du weißt selbst, dass das nicht wahr ist.“  
„Nein.“  
„Doch.“ Sie räuspert sich. „Du weißt, dass das Schwachsinn ist. Die  
Vergangenheit hat uns doch erst kaputt gemacht.“  
„Getötet?“  
„Darin besteht ein Unterschied“, sagt Sie.  
„Kein Körper, kein Verbrechen.“  
„Wie kommst du darauf?“  
„Deinen Körper hat niemand verschwinden lassen.“  
Sie presst die Lippen fest aufeinander. „Ich war das Opfer eines  
Verbrechens.“  
„Eines Tages musstest du dem ins Auge blicken.“  
„Das habe ich“, faucht Sie. „Ich habe mich jeder Sekunde meines Lebens  
gestellt. Ich habe jede Sekunde davon gelebt.“  
„Das erste Verbrechen wurde an dir begangen, die letzten verübtest du.“  
170  
„Und du bist so viel besser oder was?“  
„Du bist wie die Hexe“, sage ich. „Wer Böses tut, ist nicht böse. Ihm wurde  
Böses angetan.“  
„Man wird, was man immer war.“  
„Ein Opfer?“  
„Ich bin kein Opfer.“  
„Ja.“ Matt hebe ich meine Mundwinkel. „Du bist der Täter gewesen. Von  
Anbeginn an warst du verloren.“  
„Ich war auch nicht der Täter“, sagt Sie heftig. „Ich war nur immer zur  
falschen Zeit am falschen Ort.“  
„Nein.“ Ich hebe einen Mundwinkel. „Du warst genau dort, wo du sein  
wolltest.“  
Ruckartig verschränkt Sie die Arme vor der Brust. „Das denkst du also? Das  
denkst du wirklich? Du glaubst, ich wollte als kleines Kind Teil von kranken,  
satanischen Ritualen werden?“  
„Ja.“  
„Das ist Irrsinn!“  
„Du bist durch den Lethe geschwommen und hast es überlebt“, sage ich. „Dir  
wurde das Herz eines Kindes vorgesetzt und du hast es gegessen. Dir wurde  
Strom gegeben und du hast ihn durch fremde Körper gejagt. Du stehst auf  
der Liste.“  
„Die ich als gerecht empfinde und die du vernichten willst“, faucht Sie.  
„Du bist die Unschuldigste von uns allen“, räume ich ein. „Das macht dich  
schuldiger als jeden anderen Menschen.“  
„Ich möchte mit dir über die Hexe reden, nicht über mich.“ Sie rollt die  
Augen. „Mich kenne ich. Erspar uns das.“  
„Was stellt es mit einem Menschen an“, sage ich langsam, „wenn die leibliche  
Mutter ein noch warmes, noch pulsierendes Herz in die Kindeshände legt und  
befielt, es zu verzehren, den erkaltenden Körper keinen Meter entfernt. Was  
richtet das mit einem Menschen an?“  
„Es wird egal“, sagt Sie. „Was muss einem Jungen widerfahren sein, damit er  
sich an wirklich nichts erinnert und jede Erinnerung krampfhaft verdreht?“  
„Manche Glückliche sind mächtig geboren.“  
„Das ist nicht mächtig. Das ist rücksichtslos.“  
171  
„Ich bin, was du verdient hast. Kein Körper, kein Verbrechen. Du bist noch  
immer da.“  
„Weil du es wolltest.“  
„Ich habe dich nie begraben.“  
„Der Vorstand hat das übernommen.“  
„Als ich ging, warst du noch da.“  
„Aber ich war tot“, sagt Sie heftig.  
„Dein Körper war da.“  
„Ich war tot!“  
„Das Verbrechen lag auf dem Silbertablett.“  
„Ich bin nicht das Verbrechen.“  
„Nein.“  
Sies Brauen rücken dicht zusammen und sie presst die Lippen aufeinander,  
bis das Blut aus ihnen weicht und weißes, totes Fleisch zurücklässt.  
„Du warst das Verbrechen“, sage ich. „Dann bist du gestorben und nun bist  
du ein Schatten deiner Selbst. Wirst du spielen?“  
„Du kennst die Antwort.“  
„Die Zeit, den ersten Schritt tun zu dürfen, ist vorüber.“  
„Ist das eine Drohung?“, fragt Sie mich eisig. „Du kennst mich nicht. Ich  
komme in deinen Kopf, du nicht in meinen.“  
„Der Tod treibt wirre Spiele.“  
„Was willst du?“, fragt Sie mich harsch.  
„Du hast gesehen, was du sehen solltest.“  
„Weil ich in deinen Kopf geblickt habe, ja.“  
„Weil ich es wollte.“  
„Du kannst dich nicht vor mir verschließen“, sagt Sie. „Das konntest du noch  
nie und du wirst es nie können. Das einzige, was du kannst, ist vergessen. So  
vergessen, dass wirklich alles weg ist.“  
„Nein.“ Ich räuspere mich. „Es ist genau da, wo es hingehört.“ Meine Sicht  
verschwimmt, aber ich wechsle nicht den Ort. Ich bleibe im Hier und  
verschwinde ins Jetzt. Das Jetzt ist zersplittert, liegt in Scherben, und stiehlt  
sich ins Damals. Ich drehe die Teile um, bis sie passen, und setze sie Sie vor,  
bis Sie sie nicht länger ignorieren kann.  
172  
Ich bin ein Kind in seinem Garten, das Rätsel zu seinen Füßen und das  
wispernde Laub über sich. Sie ziehe ich mit mir und je mehr sie sich wehrt,  
desto tiefer sinkt sie in den Morast, bis sie bis zum Halse darin steckt und die  
Augen nicht mehr verschließen kann.  
Das Gemäuer der Heilanstalt ist dick und ich sitze allein unter meiner Liege.  
Ich blute, obwohl kein Blut fließen müsste, und schmecke bittere Galle, Eiter  
und altes Blut. Man hätte meine Wunden reinigen sollen, aber die Toten  
haben oberste Priorität. Erst wenn die Lebenden ihnen nachfolgen, gewinnen  
sie an Bedeutung.  
Sie wirkt schwach. Ausgelaugt und ausgesaugt, eine Zecke, die sich selbst  
verzehrt, weil ihr die Beute ausgeht. Die Sohlen ihrer Schuhe schlagen einen  
dumpfen, unregelmäßigen Takt und sind stumm, als Sie sich stöhnend gegen  
die Mauer lehnt.  
Wer nicht zu heilen weiß, zerstört sich selbst im bittersüßesten Glauben.  
„Ich weiß, dass du das bist“, sagt Sie schließlich und richtet sich auf. „Wir  
hatten beide einen langen Tag, was?“  
Ich antworte nicht. Mich fesselte mein eigener Körper, als wäre ich ein  
Mensch wie jeder hier, eine verlorene Seele, die nach Befreiung lechzt. Der  
süßliche und bittere Geruch hat sich in meine Nase gebrannt, kaum dass ich  
das Gebäude das erste Mal betrat. Inzwischen war er nichts mehr als eine  
Ahnung, die ich mit jedem Atemzug mehr vergaß.  
„Wo bist du, Alex?“ Ihre Augen glühen, als wäre sie besessen. Von Teufeln,  
Irrlichtern oder Dämonen hat nie eine Rolle gespielt. Das dumpfe Licht, das  
von ihnen ausgeht, kommt aus Sie. „Du musst keine Angst vor mir haben. Ich  
bin nicht mehr im Dienst und wir wollen beide nur dein Bestes.“  
Ich zog mich weiter in die Schatten zurück.  
„Hab keine Angst vor mir“, wiederholt Sie. „Wir sollten dich sauber machen  
und vielleicht ein bisschen frische Luft schnappen.“  
Die Fenster sind verriegelt.  
„Alex“, säuselte Sie, „komm zu mir. Komm zu mir. Du musst keine Angst vor  
mir haben. Komm zu mir.“  
Sie wollten immer, dass ich zu ihnen komme und dann, wenn ich bei ihnen  
stand, dass ich gehe. Schneller als ich kam. Endgültiger denn je. Die Hexe rief  
mich, Sie rief mich. Nun bekommen sie, was sie verdienen.  
173  
„Ich weiß nicht, wie viel du noch hörst oder spürst, aber ich bin hier, um dir  
zu helfen. Nur um dir zu helfen. Ich bin deine Freundin und ich habe nichts  
von alldem hier gewollt.“  
Während ich schwieg, kam sie näher. Der Mond schien, aber durch die  
schmalen Fenster kam kaum ein Schatten. Wir waren hier, es war finster und  
in ihren Augen stand das gleiche Feuer, das mich von Tag eins an verfolgte.  
Manchmal strafen Irrlichter, bevor man ihnen den Befehl dazu gab. Weil sie  
glaubten, irrtümlich vermuteten, sie täten das Richtige, und sich in diesen  
Momenten nur das Finsterste heranzogen.  
„Wir sind beide Fehl am Platz“, murmelte Sie. „Wir sollten beide nicht hier  
sein. Aber wir sind es doch. Wir sind hier und wir kommen hier beide nicht  
raus.“  
Sie hockte sich vor mich und sperrte die letzte Freiheit aus, die ich mir erlog.  
Ich war eingesperrt zwischen ihr und dieser Mauer, zwischen Bett und Boden,  
aber ich verspürte keine Angst. Ich fühlte nichts als Sie und ich wollte nichts,  
als sie zu verdammen.  
„Du bist schmutzig“, sagte Sie. „Ich hätte schwören können, deine Wunden  
können sich nicht entzünden.“ Sie bohrte ihren Daumen in meine Wange. In  
ein fleischiges Loch, aus dem das Wundwasser suppte, das ich nicht  
absondern müsste. „Aber sie sehen aus wie bei jedem Menschen. Du bist ein  
Mensch. Du bist wie ich.“ Ihre Augen glühten und ich erkannte weder mich  
darin noch sie. „Das sieht übel aus“, stellt Sie fest. „Wir sollten das säubern.“  
Ich antwortete nicht und Sie kroch zu mir unter die Liege. Hier fing sich der  
Gestank und er steigerte sich ins Unermessliche. Ich badete darin, Sie  
blendete ihn aus. Wir waren zwei Seelen zwischen Chaos und Sturm,  
während Flaute herrschte und wir verharrten. „Ich bin nicht mehr im Dienst“,  
wiederholte Sie. „Wir müssen dich nicht hier saubermachen. Du könntest mit  
zu mir kommen.“  
Beschloss ich menschlich zu bluten, absorbierte ich menschliche Schwäche.  
Selbst wenn ich auf die Beine hätte kommen wollen, wäre es mir nicht  
möglich gewesen. Nur weil ich Schmerz nicht spüre, macht es die Folgen  
nicht nonexistent. Will ich bluten wie ein Mensch, blute ich aus wie ein  
Mensch. Will ich eitern wie einer, verpeste ich meinen Körper selbst. Auf  
meinen Wunsch hin. Auf meinen Geheiß.  
174  
Sie stand daneben und ihre Augen glühten wie die bittersten Kohlen der  
tiefsten Geheimnisse.  
„Komm, Alex. Komm da raus. Da unten willst du nun wirklich nicht  
verrotten.“ Sie zog sanft an meinem Unterarm und ich fühlte es nicht.  
Deaktiviere ich den Schmerz, deaktiviere ich mich. In Situationen wie diesen.  
„Es war nur eine Behandlung“, sagt Sie. „Wir wollen dich doch beide heilen.  
Wir wollen beide“, Sie atmete rasselnd ein, „dass du und ich hier eines Tages  
rausgehen als Freunde. Dass wir beide wohlauf sind und beide gesund und  
beide glücklich. Das wollen wir doch beide. Dass wir uns um nichts mehr  
sorgen müssen. Das ist der Traum.“  
Ich schwieg und rührte mich nicht.  
„Für diesen Traum musst du da unten vorkommen“, sagte Sie und lehnte sich  
zu mir. Ihre Lippen streiften die blutverkrustete, stinkende Haut. „Du riechst  
gut“, flüsterte Sie. „Du riechst nach allem, was ich mir gewünscht habe. Du  
bist alles, was ich immer wollte. Du bist mein Traum.“  
In diesem Moment starb ich und Sie nahm es nicht wahr. Sie war gebannt  
von dieser Idee, die sie sich in den Kopf gesetzt hatte, lange bevor es Sinn  
ergeben hätte. Sie war überwältigt von dem, womit ihre verrottende  
Phantasie sie fütterte, während die Realität ihr die Kehle aufriss.  
„Komm vor“, sagte Sie. „Das wird langsam lächerlich.“ Als ich nicht reagierte,  
zwang sie mich, und jede Bewegung riss an den zuckenden Muskeln in  
meinem Körper. „Dir macht nie etwas aus, aber diese Heilung, die stört  
dich?“ Ich schwieg. „Das war nur der notwendige nächste Schritt“, sagte Sie.  
„Wenn du schreist, dann ist das gut. Das vertreibt die bösen Geister, deine  
Seele reinigt sich und wenn du wieder aufwachst, bist du wohlauf. Dir wird  
nichts mehr fehlen. Eines Tages hast du genug geschrien und dann wird es dir  
gut gehen.“  
„Wie dir?“ Zwei Silben, die meine gesamte Selbstbeherrschung abverlangten.  
Sie lächelte mich an und für einen Atemzug glaubte ich, einen wahren  
Menschen zu sehen. Ein Mädchen, das für das Sein lebt, nicht um der  
Existenz Willen. „Mir geht es gut“, pflichtete Sie mir schließlich bei. „Nicht  
richtig gut, aber gut genug. Weil ich die bösen Geister“, Sie breitete die Arme  
aus, „einfach hinter mir gelassen habe.“  
„Wie?“  
175  
Sie kicherte leise. „Indem ich sie nicht mehr wollte. Heute bin ich hier. Das ist  
der größte Fortschritt von allen.“  
Damals bewegte Sie sich anders. Entschiedener, konzentrierter. Fokussierter.  
Damals war Sie ein anderer Mensch. Heute ist sie ein Schatten ihrer Selbst  
und weiß es sicher wie ich.  
„Steh auf“, sagte Sie. „Wir müssen raus hier, wenn ich dich sauber  
bekommen soll.“ Als ich mich nicht rührte, presste Sie ihren Ellbogen gegen  
meine Hüfte und zog mich auf die Beine. „Mit den paar feuchten Tüchern  
kann man hier nichts mehr machen. Du siehst aus, als hätte man dich durch  
einen Schlachthof geschleift.“ Kichernd schlang sie den zweiten Arm um  
meine Taille. „Durch den schlechten Teil. Den, in dem man die Abfälle hortet  
und nicht entsorgt, weil die Ratten das doch tun sollen. Weil die Ratten das  
immer tun sollen.“  
Ich spürte meine Beine nicht und das war gut so. Mein linkes Auge tränte und  
es machte mir nichts aus. Ich befand mich in meiner eigenen Sphäre und sie  
war gut genug.  
„Wir haben hier einen Patienten“, sagte Sie, „der ist schlimmer als jede Ratte.  
Der ist furchtbarer als alles, was ich je gesehen habe. Der würde seine  
eigenen Arme fressen, wenn man ihn lassen würde.“ Sie kicherte leise. „Wir  
müssen ihn einschnüren, sonst tut er sich weh.“ Augenrollend schleifte sie  
mich vorwärts, ignorierte, dass ich meine eigenen Beine nicht bewegen  
konnte. „Man kann nicht glauben, wie viel die bösen Geister mit einem  
Menschen anrichten können. Mir kommt es ja vor, als würden sie ihn eher  
auffressen, als ihn je gehen zu lassen. Er ist ein armer Mann. Ein verdammt  
armer Mann. Wahrscheinlich sollten wir ihn versehentlich erschlagen oder  
fertigmachen.“  
Ich gab keinen Laut von mir. Ich folgte ihr nur und das Glühen ihrer Augen  
wies uns den Weg. Sie waren finster in der Finsternis. Dabei leuchteten sie  
greller als die matt knisternden Glühbirnen.  
Ich lasse von dem Scherbenhaufen ab und trete zurück. Der Morast gibt Sie  
frei und keuchend kämpft sie sich an die Oberfläche. Ich bin ihre Nemesis,  
doch anstatt mich selbst in die Knie zu zwingen, erinnere ich Sie an das, was  
sie verdient hat.  
176  
Sie ist kaltschweißig, als hätte sie versucht, sich auf jede Weise von mir  
loszumachen. Aus meiner psychischen Umklammerung zu befreien. Ihre  
Atmung ist schwer, ihr Blick flitzt.  
„Das ist nie geschehen“, wispert Sie hastig. „Das ist nie geschehen. Das haben  
wir beide nie erlebt. Daran würde ich mich erinnern.“  
„Der Lethe fließt“, sage ich. „Solange er fließt, siehst du das, was du sehen  
willst.“ Ich durchquere den Raum und fülle ein Glas mit Wasser. Es ist rostig  
braun.  
177  
Tag elf Das Spiel  
„Red mir keine Dinge ein, die nie geschehen sind!“, brüllt Sie mich an. „Tu  
nicht so, als wüsstest du mehr über mich als ich.“  
„Ich weiß alles über dich.“  
„Du bist eine Chimäre“, wispert Sie. „Warum du mich auch hast  
zurückbringen lassen, es war nicht um meinetwillen und nie um deinetwillen.  
Niemals.“  
„Um wessen Willen dann?“, fragte ich nüchtern. „Um den der Götter? Um  
den der Hölle? Um wessen Willen, wenn nicht um meinen?“  
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Sie. „Ich weiß es wirklich nicht. Aber was du hier  
auch tust, es ist furchtbar. Es ist grausam. Niemand hat verdient, was du tust,  
und ich bin nicht länger hier für dich.“  
„Du warst nie hier für mich.“ Die Finsternis umschmeichelt mich, umreißt  
uns, zerfetzt Sie, als ich erneut nach ihren Händen greife.  
„Ich werde mich nicht schuldig fühlen“, schwor Sie mir heiser. „Ich werde  
mich keine einzige Sekunde lang schuldig fühlen.“  
„Das wird nicht notwendig sein. Im Zweifel bist du die Schuld.“  
Wir kehren zurück in die dicken Gemäuer, die geschaffen wurden, um jeden  
Laut zu schlucken, jedes Wispern, jedes Wimmern. Steif steht Sie neben mir,  
kreidebleich. „Tu mir das nicht an“, wispert Sie. „Tu mir das nicht an. Das  
habe ich nicht verdient.“  
„Vor welchem Moment fürchtest du dich?“  
„Tu mir das nicht an.“  
„Welcher Augenblick verfolgt dich mehr als jeder andere?“  
„Tu mir das nicht an.“  
„Spiel gegen mich.“  
„Bitte.“ Sies Stimme bricht. „Bitte, Alex. Ich kenne dich. Ich kenne dich! Du  
möchtest nichts hiervon. Das bist nicht du. Das bist du nicht.“  
„Spiel gegen mich.“  
„Ich kann das nicht.“  
„Du wolltest es. Du wolltest es nicht. Tu, was du tun musst.“  
„Tu mir das nicht an“, wiederholt Sie gedämpft. „Wir wollen es beide nicht  
sehen. Wir wollen es beide nicht.“  
178  
„Mich kümmert nichts.“  
„Dich kümmert alles!“, ruft Sie aus. „Sonst würdest du das hier nicht tun. Dich  
kümmert alles!“  
Die Schatten kriechen näher und bringen den Gestank von verwesendem  
Fleisch mit sich. Vergessen an einem lebenden Körper.  
Sie ist angetrunken, eine stechende Alkoholfahne folgt ihr. Bei dem leisen  
Wimmern sieht sie auf, schüttelt den Kopf, geht weiter.  
Der Junge in seinem Blut zittert unkontrolliert. Die Lippen aufgerissen. Das  
Haar verkrustet, während ihm der eigene Körper von den eigenen Knochen  
fault. Er ruft nicht. Er rührt sich nicht.  
Sie verharrt. Das dunkle, dichte Haar fällt ihr in das Gesicht. Lauschen.  
Warten. Zittern. „Ist da jemand?“  
Ein dumpfes Flehen. Still streckte der Junge die kleinen Hände aus. Sie hatte  
ihn zugerichtet. Sie allein. Hatte ihn zurückgelassen, weil sie davon überzeugt  
war, sein Leben beendet haben. Empfand nichts, wollte nichts. Wie ich. Weil  
wir zwei Teile eines Ganzen sind. Unschuldiger als ich, schöner als ich,  
bewegter als ich. Aber wie ich.  
Sies Schritte verharren.  
„Lass uns gehen“, fleht Sie mich an. „Lass uns gehen!“  
„Ist da jemand?“, wiederholte sie. Die Zunge scheint ihr schwer zu sein. Ihre  
leeren Hände zittern, als suchten sie verzweifelt nach Halt. „Hallo?“  
Ein erneutes Wimmern. Wozu soll ein Kind auch fähig sein, dem die  
Sicherungen durchgebrannt sind, während man das Trauma aus ihm  
herausbrennen wollte.  
„Was hast du gefühlt?“, frage ich Sie gedehnt. „Als du ihn zugerichtet hast,  
was fühltest du?“  
„Lass uns gehen“, bettelt Sie. „Lass uns endlich gehen!“  
„Als das Licht aus seinen Augen verschwunden ist, warst du mächtig?“  
„Ich werde mich nicht schuldig fühlen“, wiederholt Sie. Leiser. „Ich weigere  
mich.“  
„Verweigerst dich dem klaren Bild vor Augen?“  
„Ich war nicht schuldig. Ich habe getan, was getan werden musst!“  
„Sagte der Führer.“  
„Ich habe getan, was von Bedeutung war!“  
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„Sagte der Feldherr.“  
„Ich habe das Richtige getan.“  
„Sagte der Kaiser.“ Ich räuspere mich. „Alle von ihnen sind untergangen und  
du bist bei mir. Die Liste oder ich. Wähl weise.“  
„Das ist keine Wahl“, spuckt Sie. „Du zwingst mich, Dinge zu sehen, die so  
nicht stimmen.“  
„Die du verleugnest bis in deinen zweiten Tod.“  
In dem dämmrigen Licht streckt das Kind flehend die Hand aus, die Haut  
schuppig und seltsam gefärbt, das Gesichtchen kreidebleich und die Lippen  
trocken blutig. Ein Schuppenhemd scheint jeden freien Zentimeters zu  
bedecken. In dem leeren Blick steht ein Funken von Hoffnung, zerbrechlich  
wie dünnes Glas. Wie das Häuschen einer Schnecke unter dem  
unbarmherzigen Schuh.  
Sie zuckt zurück, als sie die Finger entdeckt. „Warum bist du noch hier?“,  
faucht sie. „Man sollte dich dorthin bringen, wo du hingehörst.“  
Tränen sammeln sich in den erschöpften Augen und Worte werden gebildet,  
die keine Ähnlichkeit mit Sprache oder Ausdruck haben. „Verschwinde!“  
Das Kind weiß sich nicht zu rühren. Sie tritt seine Finger zur Seite, als es nicht  
verschwunden will, tritt sie ihm in den Bauch. Das Wimmern hallt von den  
dicken Wänden wider, die gebaut wurden, damit niemand etwas hört. Nicht  
sich, nicht den Nachbarn. Nicht den mordenden Heiligen mit den  
blütenweißen Verbänden.  
„Tu mir das nicht an“, wiederholt Sie und versucht verzweifelt, sich von mir  
loszumachen. „Das ist Ewigkeiten her. Das habe ich nicht verdient.“  
„Ein Mensch ist, was er tut.“  
„Was bist dann du?“, ruft Sie aus. „Was in Gottes Namen bist dann du?“  
„Kein Mensch.“  
Knochen brechen. Schreie hallen von den festen Steinmauern. Wahn hat  
niemals Gutes geboren, nie Gutes geschaffen, nie Gutes toleriert. Atemlos  
verschwindet Sie im nächsten Gang, dann im nächsten Raum.  
Aber ich war da. Ich bin es noch immer. Bin dort, wo ich sein muss, um zu  
sammeln, was erinnert. An den Kern der Sache.  
„Ich oder die Liste“, wiederhole ich.  
„Nein!“  
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Langsam verblasst das Gemäuer. Ich stütze meinen linken Ellbogen auf dem  
Tisch ab. „Was ich dir vor Augen führe, ist, was die Liste dir geben wird.“  
„Sie hat mich schon einmal geschlachtet. Nichts davon ist geschehen!“  
„Ich habe dich hingerichtet“, sage ich nüchtern. „Ich allein.“  
„Und? Die Liste hat mich bestraft.“  
„Nein.“ Ich räuspere mich. „Wir haben einen Handel abgeschlossen.“  
„Die Liste verhandelt nicht.“  
„Niemand verhandelt und wir haben es doch getan. Ein Abkommen kann  
mehr Wert sein als ein Prinzip.“  
„Du bist nicht das Schicksal.“  
„Ich wäge ab.“  
„Du bist nicht das Schicksal!“ Sie atmet rasseln ein. „Niemand ist mächtig  
genug, um mit der Liste zu verhandeln. Kein lebendes Ding hat etwas, was sie  
begehrt.“  
„Nicht?“  
„Nein! Niemand. Hörst du? Niemand.“  
„Die Rote Liste existiert, um zu strafen. Was, wenn ich ihr helfen könnte,  
diabolischer zu foltern als je zuvor? Wenn ich sie mit Informationen füttern  
könnte, die ihr Opfer setzen? Langsam wie eine sich in Säure auflösende  
Fliege.“  
„Wenn sie wirklich mit dir sprechen würde“, japst Sie, „dann würdest du  
nicht alles daran setzen, sie zu vernichten.“  
„Ich will sie in Scherben sehen, weil sie sich selbst verrät, um mir zu  
imponieren.“  
„Um dich selbst und deine dreckigen Machenschaften zu schätzen!“  
„Das schönste an mir ist die Lüge.“  
„Genau!“  
„Das waren deine Worte.“  
„Ich erinnere mich nicht.“  
„Der Lethe fließt“, murmle ich. „Er fließt und er fließt, bis er alles  
fortgeschwemmt hat, was du nicht erinnern willst.“  
„Du bist ein dreckiger, widerwärtiger Lügner.“ Ihre Finger krampfen sich  
kreidebleich um die Lehne des Stuhls.  
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„Lügner musst du nicht fürchten. Du stehst über ihnen.“  
„Aber du willst mich töten!“  
„Nein“, sage ich. „Nein. Ich will, dass du spielst. Für mich. Gegen die Rote  
Liste. Gegen das Schicksal. Gewinn. Für mich.“  
„Ich werde dich vernichten“, schwört Sie mir. „Ich werde alles, was du bist,  
und alles, was du liebst, vernichten.“  
„Ich bin nicht. Ich lebe. Ich liebe nicht. Ich toleriere.“  
„Hör mir endlich zu!“, brüllt Sie. „Hör mir auf die richtige Weise zu. Hör mir so  
zu, dass du verstehst, was ich sage.“  
„Ich verstehe mehr als du selbst.“  
„Ich sage es. Ich! Ich weiß am meisten.“  
„Wer geht als nächstes aus diesem Raum?“  
„Ich werde nicht enden wie Djano“, sagt Sie rau. „Ich werde mich nicht  
opfern.“  
„Warum auch? Du hast nie geglaubt, einen Fehler begangen zu haben.“  
„Sei still.“  
„Ich bestärke dich in deinem Tun.“  
„Sei still!“  
„Spiel.“  
„Nein!“  
„Stirb.“  
„Du bist wahnsinnig.“  
„Nein.“  
„Du bist völlig irre! Das ist das einzige Problem. Du bist niemand mehr, du  
lebst nicht. Du bist nur von allen guten Geistern verlassen. Du weißt nicht,  
was du willst.“  
„Dass du gegen das Schicksal spielst.“  
„Mach es selbst!“  
„Nein“, sage ich gelassen. „Der Weise bekämpft sich nicht selbst.“  
„Du bist nicht das Schicksal!“ Sies Pupillen haben sich zu schwarzen Teichen  
ausgedehnt. „Du bist niemand. Du existierst kaum. Wenn man die Menschen  
um dich herum fragt, dann hat es dich nie gegeben!“  
„Angst?“  
„Nein.“ Sie räuspert sich. „Ich fürchte mich nicht. Nicht vor dir.“  
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„Obwohl ich derjenige bin, der dich von den Toten auferstehen lassen kann,  
wann immer er es will.“  
„Du hast einen Gefallen eingelöst“, sagt Sie hastig. „Du hast getrickst.“  
„Ich möchte dich an meiner Seite wissen“, sage ich und suche Sies Blick.  
„Nicht um jeden Preis, aber im Endeffekt.“  
Harsch lacht Sie auf. „Wirklich? Ganz ehrlich? Warum schickst du mich dann  
durch diese Hölle?“  
„Beweis dich.“  
„Ich habe mich vor dir bewiesen!“, schreit sie mich an. „Ich stehe hier. Siehst  
du das nicht? Ich bin hier.“  
„Weil dir keine Wahl blieb.“  
„Ich bin für dich gestorben. Für dich!“  
„Ich bat dich um einen anderen Gefallen.“  
„Den konnte ich dir nur leider nicht geben.“  
„Weil du feige warst.“  
„Weil mich die Furien gejagt haben“, sagt Sie mit brechender Stimme. „Sie  
haben mir das Gesicht gestohlen. Sie haben mir alles genommen. Obwohl ich  
mich von dir habe töten lassen.“  
„Wenn du für mich gelebt hättest, würden wir heute auf der gleichen Seite  
stehen.“  
Ruckartig ist Sie still. „Tun wir das nicht?“  
„Ich bin unsicher.“  
„Das tun wir.“  
„Du spielst nicht für mich.“  
„Weil ich nicht wahnsinnig bin!“  
„Nicht?“  
„Alex.“ Ihre Knie beben. „Alex! Ich flehe dich an.“  
„Wozu?“  
„Tu mir das nicht an.“  
„Was?“  
„Zwing mich nicht zu Dingen, die ich nicht will.“  
„Einmal ging ich dir zur Hand, nun erweist du mir den gleichen Gefallen.“  
„Du willst aber nicht, dass ich dir helfe“, sagt Sie stockend. „Ich soll das  
Schicksal für dich bekämpfen. Niemand siegt über das Schicksal.“  
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„Wir befinden uns beide längst in dieser Partie. Verleugnest du sie, gehst du  
unter und brichst dein Versprechen ein zweites Mal.“  
„Dich kümmert nichts“, wiederholt Sie. „Das sagst du selbst und langsam,  
langsam glaube ich dir jedes gleichgültige Wort. Jemand wie du besitzt keine  
Seele.“  
„Ich bin durch die Hölle geschwommen. Zweimal.“  
„Keine Seele“, wiederholt Sie leise. „Ganz offensichtlich. Sonst wärst du nicht  
mehr hier. Du wärst endlich gegangen. Du hättest endlich eingestanden, dass  
es genügt.“  
„Sobald die Furien mir tot zu Füßen liegen, wird der Himmel sich erhellen und  
die Liste zerfallen.“  
„Tu das allein.“  
„Das Schicksal wird mich in seinem eisigen Griff halten.“  
„Ich habe dein Gehirn gesehen“, erinnert Sie mich mit brechender Stimme.  
„Schicksal oder nicht, du bleibst genau der gleiche, unvollkommene Mann.“  
„Ja.“  
„Kein Körper, kein Verbrechen.“ Hastig wischt sie sich über die Augen, aus  
denen keine Tränen fließen. „Wenn du es von mir verlangst, dann trage ich  
mich selbst zu Grabe. Ich werde mich selbst bestatten. Tu mir das nur nicht  
an.“  
„Die Liste wird dich mit dir selbst konfrontieren. Das Schicksal lässt dich  
lediglich gegen mich antreten.“  
„Du bist gefährlicher.“ Sies Stimme ist rau.  
„Ich bin dir wohlgesonnen. Dich zerfrisst Schuld.“  
„Ich fühle mich nicht schuldig!“ Ihr spitzer Aufschrei zerreißt die bittere  
Atmosphäre. Die Geräusche der Straße schwellen an, plärren uns entgegen,  
und machen uns gewöhnlich und bedeutungslos wie jedes  
menschengesprochene Wort.  
„Nein.“  
„Ich fühle mich nicht schuldig“, wiederholt Sie deutlich gefasster, tiefe Falten  
in der Stirn. „All das habe ich getan, weil ich es nicht besser wusste. Ich habe  
auf Erfahrungen vertraut und manchmal, da wurden sie geheilt.“  
„Du versprachst mir die Heilung.“  
„Als du an unsere Tür klopftest, wusstest du, dass es für dich kein helles  
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Morgen gibt.“  
„Ich ahnte es“, sage ich. „Du hast mich daran erinnert, dass ich lebe, um die  
Verdammung zu genießen.“  
„Tu nicht, als wäre das alles meine Schuld.“ Auf verwirrende Weise klingt Sie  
müde. „Ich habe dich nie dazu gezwungen, Djano in den Wahnsinn zu treiben  
oder die Furien zu dem Vorstand zu locken.“  
„Ich habe sie nie gelockt.“  
„Zumindest sein Haus hast du ihnen gezeigt.“ Sie räuspert sich. „Ich habe dich  
nie dazu gezwungen, die Hexe zu verdammen und ich habe dir nicht gesagt,  
dass du dort bleiben musst.“  
„Wo?“  
„In dieser Heilanstalt.“ Sie schüttelt leicht den Kopf. „Wir alle haben sie  
verlassen, tot oder lebendig, aber du bist noch genau dort.“ Eine steile Falte  
gräbt sich in Sies Stirn. „Du bist noch da?“  
„Ich bin, wo ich sein sollte. Eine Partie gegen das Schicksal genügt und es wird  
derjenige fallen, den du in den Knien sehen willst.“  
„Alex“, flüstert Sie und setzt sich an den Tisch, ihre Hände zittern  
unkontrolliert, „du fühlst dich irrealer an als je zuvor. Als wärst du ein  
Schatten deines Selbst.“  
„Das Schicksal wartet auf dich.“  
„Nachdem du mich getötet hast, wohin bist du gegangen?“  
Behutsam nimmt Sie meine Hände in ihre. Ich verkrampfe mich. Leise rauscht  
ihr einer Flügel. „Wohin bist du gegangen?“  
Regen prasselt gegen eine dicke Scheibe und ich beobachte die Schatten der  
Vergangenheit. Die Frau ohne Gesicht.  
„Ich spiele“, sagt Sie unvermittelt. „Aber nicht hier. Ich will da spielen, wo  
alles, was mich für die Rote Liste qualifiziert, begonnen hat.“  
Langsam presse ich meine Finger auf den Tisch. Die Rillen sitzen tief. Dunkle  
Schnitte. Einmal zugesetzt, bleiben sie dort. Bis ans bittere Ende. Sie bleiben,  
sie verblassen, sie bleiben.  
Schniefend wischt Sie sich mit dem Handrücken über die Nase. „Du erinnerst  
mich an einen ruhelosen Geist“, flüstert Sie. „Als hätte man dich in Zwei  
geteilt und würde einen Teil von dir durch die Welt schicken.“  
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„Ich bin, wo ich sein sollte.“  
„Das bist du“, wispert Sie. „Das bist du.“ Ihr Blick flackert. „Das warst du  
immer.“ Mit schweißkalten Händen umfasst sie meine. „Bringst du mich  
dorthin, wo ich gegen dich spielen soll, Alex?“  
Nüchtern hebe ich eine Schulter und umfasse ihre zarten Finger. Schön.  
Weich. Unschuldig.  
Mörderisch.  
Die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen und klärt sich.  
Das Gemäuer ist dick, als wolle es jeden Laut schlucken, jedes Flüstern, jedes  
Wimmern, jeden Schrei. Damit, schlussendlich, jeder mit sich allein ist. Regen  
prasselt gegen die Fensterscheibe. Moos hat sich in das Gemäuer gefressen  
und entzieht ihm träge alle Kraft. Die eingetiefte Rinne ist braun von altem,  
stehendem Wasser, dem der Willen fehlt, weiterzuwandern. Das Krankenbett  
wurde von den unsteten Füßen geworfen und das Waschbecken  
abgebrochen. Hinter uns die Tür ist verschlossen. Durch das winzige  
Gitterfenster fallen dunkle Schemen, die von Leid und Qualen flüstern.  
Sies Nägel krallen sich in meinen Arm. Ich sehe mir selbst in die Augen. Träge  
starre ich vor mich hin, die Haut faulig, das Haar ungepflegt, die Lippen  
zersprungen, dazu verdammt niemals dem Tod in die Arme zu gleiten. Fällt  
die Rote Liste, gehen alle Regeln dahin. Zerbricht die Rote Liste, zerbröselt die  
Hölle und der Himmel dehnt sich aus. Verstreut sich der Himmel und die  
Hölle kriecht auf die Straßen.  
Sie lässt meine Hand los und fällt vor mir in die Knie. Trage ich diesen Mantel,  
bin ich doch nackt. Stehe ich aufrecht, lungere ich doch verdurstet,  
verhungert und vergessen in dem letzten Winkel einer Anstalt, die mir die  
Heilung versprach.  
„Oh, Alex“, wispert Sie. „Warum bist du nicht gegangen? Warum bist du nie  
gegangen?“  
„Ich pochte auf Heilung“, erinnere ich Sie. Mein abgelegter Körper zittert  
unkontrolliert. „Solange ich sie nicht bekam, wird ein Teil von mir bleiben, wo  
er auf die Lösung hofft.“  
Zittrig dreht Sie sich zu mir um und schlingt beide Arme um ihren eigenen,  
schmalen Körper. „Wer von euch beiden ist real?“  
„Dein Spiel gegen das Schicksal“, sage ich und lehne mich mit dem Rücken  
186  
gegen die verriegelte Tür. Wenn jeder verschwindet, werden die Schlösser  
verriegelt und die Schlüssel fortgeworfen. Wer nicht sterben kann, bleibt.  
Spaltet sich auf, geht barfuß durch die Kohlen die Hölle, kehrt zurück.  
Mächtiger denn je. Schicksalshafter als zuvor. Ewiger.  
Sie hält sich selbst fester. „Du willst, dass ich mich selbst zum Schicksal  
erhebe“, sagt Sie rau. „Ich soll Schicksal spielen!“  
„Eine bekannte Aufgabe für dich.“  
„Nein.“ Wie paralysiert steht Sie da. „Nein, das ist nicht wahr.“  
„Wie viel Strom kann ein einzelner Körper ertragen.“ Sies Finger zucken.  
„Öffne den Schädel, wenn dir danach ist. Er wird leben.“  
„Bis in alle Ewigkeit“, wispert Sie. „Du hast dich nie vor der Liste gefürchtet.  
Du stehst nicht auf ihr und du wirst niemals auf ihr stehen.“  
„Ja.“  
„Beziehungsweise.“ Hektisch schüttelt Sie den Kopf. „Du stehst schon auf ihr,  
aber sie holt und bestraft dich auf eine andere Weise.“ Ein verzerrter Laut  
entweicht Sies Kehle. „Sie lässt dich nicht sterben. Wahrscheinlich“, Sie stockt  
erneut, „weißt du nicht einmal, was Real ist und was nicht. Deswegen  
fürchtest du dich nicht. Deswegen kannst du dich nüchtern jeder noch so  
brenzligen Situation stellen, ohne Angst zu verspüren. Du befindest dich in  
deinem eigenen, losgelösten Fiebertraum. Wenn du sterben solltest, dann  
kehrst du hierher zurück, spaltest dich erneut ab und gehst deiner Wege.“  
„Ich lebe“, erinnere ich Sie.  
„Du lebst.“ Sie räuspert sich. „Bis in alle Ewigkeit. Genau hier.“  
„Bis zur Heilung.“ Ich suche ihren Blick, sie hat nur Augen für meinen  
zerbrochenen, stinkenden Körper. „Das Schicksal schreibe ich.“  
„Aber du bist nicht das Schicksal. Sonst würde das nicht existieren.“  
Behutsam berührt sie das schmierige, trockene, zerrissene Gesicht mit ihrer  
Hand. „Keine Furie hat dich je geholt, weil sie dich nicht töten können. Sie  
wissen es.“ Langsam lässt sie sich auf die Fersen zurücksinken. „Ein neuer  
Prometheus.“  
„Spiel gegen das Schicksal“, sage ich. „Wähle weise.“  
Nervös leckt Sie sich über die Lippen. „Ich will deinen Schädel öffnen.“  
187  
„Die Klingen sind stumpf und die Türen verschlossen.“  
„Bring mich und deinen Körper in einen der Therapieräume“, bittet Sie mich.  
„Ich mache, dass es besser wird.“  
Kreischende Sägen. Knirschende Knochen. Zuckende Muskeln, glühendes  
Blut.  
„Der Körper ist, wo er sein sollte. Er wartet auf Heilung.“  
„Bring mich zu den Schlüsseln.“  
„Du spielst“, sage ich. „Nicht ich.“  
„Aber ohne Hilfsmittel kann ich ihn nicht unterstützen!“ Sie dreht sich zu mir  
um. Das dichte, dunkle Haar klebt ihr an den Wangen. Tränen hat Sie  
vergossen, ohne dass ich die Regung der Verzweiflung gespürt oder bemerkt  
hätte. „Du warst immer hier“, flüstert Sie. „Was auch geschehen ist, ein Teil  
von dir hat diesen Ort nie verlassen. All die Jahrzehnte. Das Jahrhundert. Du  
bist genau hier geblieben.“  
„Spiel“, fordere ich sie auf.  
„Geh mir zur Hand.“  
„Ich habe mich unlängst für eine andere Partie entschieden.“  
„Bitte“, flüstert Sie. „Ich bitte dich darum.“  
„Ich schulde dir keinen Gefallen.“  
„Aber dir selbst?“  
„Ich bin ich selbst.“ Langsam breite ich die Arme aus. „Der Wahnsinn hat mir  
die beste Version meines Daseins geschenkt.“  
„Das ist nicht wahr“, flüstert Sie, „und du weißt es. Die beste Version ist die,  
die sterben kann.“  
„So begrab mich noch heute und wir werden sehen, ob der Tod fähig ist, mich  
zu holen.“  
„Ist er nicht“, sagt Sie als wäre es das natürlichste der Welt. „Du würdest  
nichts davon zulassen.“  
„Der Tod bittet nicht.“  
„Du bist kein Mensch“, erinnert Sie mich leise. „Du hast die Hölle zweimal  
durchschwommen. Wenn der Tod jemanden bittet, mit ihm zu kommen,  
dann dich.“  
188  
Schweigend beobachte ich Sie. Langsam senkt sich die Finsternis über die  
Welt und zieht den Mond an Fäden ans Himmelszelt. „In zwei Stunden laufen  
die Nachrichten.“  
Erschöpft seufzend schließt sie die Augen. „Wirst du mich dann einfach hier  
zurücklassen?“  
„Ja.“  
„Warum?“ Sie räuspert sich. „Kümmere ich dich nicht?“  
„Ja.“  
Sie wirkt nicht überrascht. „Was suchst du, Alex? Du hast mich um jeden  
Preis zurück ins Leben bringen wollen, aber was suchst du? Nicht nur mich,  
sondern etwas anderes. Ein Heilmittel? Eine Klinge gegen die Rote Liste? Du  
kannst sie nicht einfach so ermorden, nur weil ich heute eine Entscheidung  
fälle.“  
„Siegst du, fällt sie.“  
„Wie soll ich hier gewinnen?“, fragt Sie mich, die Stimme weich. „Hier bist du  
und hier bist du. Ihr seid beide ein und die gleiche Person.“  
Ausdruckslos betrachte ich den starren, stierenden Körper, von dem ein  
stechender Geruch ausgeht. „Nein.“  
„Doch, Alex. Nur, weil du dich von ihm losgemacht hast, bedeutet das nicht,  
dass du ihn hinter dir lassen konntest. Ihr gehört zusammen. Sobald du in  
diesen Körper zurückgehst, könnte ich versuchen, dich zu therapieren.“  
„Ich bin seelenlos“, erinnere ich Sie. Was sie auch benötigt, um einen  
Scheintoten zurück ins Leben zu holen, es wohnt ihm inne.  
„Ohne dich geht es trotzdem nicht“, beharrt Sie. „Du gehörst dazu.“  
Zurückkehren in einen brechenden, leidenden Körper?  
„Seit ich dich kenne“, flüstert Sie, „hast du mich darum angefleht, dich zu  
heilen. Gut möglich, dass ich klüger geworden bin. Vielleicht kommen mir  
Mittel und Wege in den Sinn, die ich vorher nicht kannte.“  
„Welche?“  
„Die Richtigen.“  
„Den Schädel zu öffnen.“  
„So könnte ich mir ansehen, was in dir vor sich geht“, bestätigt Sie leise. „Ich  
werde dein Gehirn nicht anrühren. Ich will es mir nur ansehen.“  
Der Tod hat sie konserviert, verdummt und wieder ausgespuckt.  
189  
Schweigend trete ich von der skurrilen Szenerie zurück. Die Umgebung  
verschwimmt vor meinen Augen. Halb erwarte ich Rosen zu riechen und Blut,  
Pech und Schwefel.  
Der Duft von frischer Luft und ein Hauch von Angst. Ich setze mich auf den  
Boden in meiner Küche. Das Handy vibriert in meiner Gesäßtasche. Wenn ich  
es hervorziehe, wird es keine neuen Nachrichten anzeigen. Das weiße Licht  
verödet meine Haut und ich lausche dem leisen Summen des Stroms, der sich  
durch die Leitungen kämpft. Sie bleibt zurück. Sie verharrt im Spiel.  
Dieses eine Mal bin nicht ich das letzte Überbleibsel.  
Ein Zwicken stiehlt sich in mein Bewusstsein, als die Musik der  
Nachrichtensendung verklingt. Ich löse mich von der Wand, lehne mich nach  
vorn, betätige den Knopf, gehe siebzehn Schritte gen Osten und verharre  
mitten im Korridor. Ein Brennen. Ich lecke mir über die Lippen. Die  
Umgebung vor meinen Augen verschwimmt. Wortlos greife ich nach einem  
Glas und fülle es mit Nährpulver. Mit Wasser. Rühre um. Trinke. Glühende  
Drähte scheinen sich in meinen Schädel zu bohren.  
Ich spüle das benutzte Geschirr ab, reibe mit dem Tuch darüber, bis es  
trocken ist, und platziere es in dem Schrank. Weißes Licht blendet mich.  
Blinzelnd fokussiere ich mich auf meine nähere Umgebung. Sie zerreißt sich  
vor meinen Augen.  
Fluchend löse ich mich von dem Hier, bleibe im Jetzt, und wechsle zum Dort.  
Kreischende Helligkeit strömt mir entgegen. Zusammengekrampft zuckt mein  
Körper an Ort und Stelle, vor Sorge stinkend. Langsam rolle ich den Kopf.  
Knackend lösen sich spitze Verspannungen in meinem Schultergürtel.  
„Öffne den Mund“, flüstert Sie konzentriert. „Mach ihn nur auf.“  
Dieser Körper könnte selbst dann keinen Finger mehr rühren, wenn man ihm  
ein Bad im frischen, wohlduftenden Wasser anbietet. Wenn er nur zucken  
müsste, um sich von jedem Leid zu befreien, täte er es nicht. Zu leben,  
bedeutete nie, lebendig zu sein. Sein Schmerz droht zu meinem zu werden,  
während das gleißende Licht die Netzhäute penetriert.  
„Bitte. Ich muss sehen, ob du deine Zunge noch besitzt.“  
Ich kämpfe gegen den Impuls an, die Lampe zu zerschlagen. Schweigend  
lehne ich mich mit der Schulter gegen den Türrahmen der aufgebrochenen,  
190  
morschen Tür. Ein seltsamer, alter Geruch strömt zu mir, frisch und  
vermodert zugleich. Sie bemerkt meine Gegenwart nicht.  
„Alex, ich kann dir nur helfen, wenn du mich lässt.“ Unsanft presst sie ihren  
Daumen und ihren Zeigefinger hinter die Backenzähne und zwingt den Mund,  
sich zu öffnen. Verweste Zähne. Eine vergessene Zunge. „Das sieht übel aus“,  
flüstert Sie. „Das sieht richtig übel aus.“ Mit der zweiten Hand tastet sie  
gegen den vorderen Gaumen. „Der ist weich.“ Sie zuckt zurück. Wie lange  
wird es sie brauchen, um zu begreifen, dass sie eine Leiche betastet? Eine  
lebende Leiche, deren Verwesungsprozess längst einsetzte und nur von dem  
gurgelnden Schicksal in Schach gehalten wird?  
Als Sie mit dem Daumen hinter den Ohren entlangtastet, verrutschen sie.  
„Das ist übel“, murmelt Sie. „Das ist richtig übel.“ Behutsam streichelt sie  
über das Gesicht. „Wofür soll ich meinen Segen geben, Alex? Wie soll ich das  
heilen? Ich kann das nicht. Ich kann das nicht mehr reparieren.“  
Sie spricht zu dem Körper, der nichts mit mir zu tun hat, als dass er einst zu  
mir gehörte.  
„Wie groß müssen die Schmerzen gewesen sein, damit du dich aus dir selbst  
befreit hast? Das sollte nicht möglich sein.“ Der Körper gibt Sie keine Antwort  
und zu mir dreht sie sich nicht um. Die Zeit scheint rückwärts zu laufen,  
während wir uns gemeinsam in diesem Raum aufhalten, darauf wartend,  
dass ein Wunder geschieht. Wunder wurden zermalmt, als die Realität Einzug  
hielt und die Träume gewissenlos zertrampelte, davon überzeugt, dass  
niemand sie jemals benötigen würde. „Du bist zersplittert“, flüstert Sie.  
„Wann? Wie oft habe ich nicht mit dir gesprochen, sondern mit ihm?“ Ihr  
sanftes Streicheln mag ihrer Seele die Schuld von den Schultern nehmen. Es  
heilt keine Wunden. „Wärst du kein Teil der Roten Liste, hättest du längst  
sterben dürfen“, stellt sie nüchtern fest. „Ich könnte dich retten. Davon war  
ich immer überzeugt. Es ist nur so viel Zeit vergangen und“, stockend stützt  
sie sich mit dem Oberarm an der Wand neben dem Körper ab, „mir war nicht  
einmal klar, dass du hier weiterexistierst. Jeder ist gegangen, als sich die Tore  
öffneten. Sie müssen in alle Himmelrichtungen davongelaufen sein. Warum  
bist du geblieben?“ Sie erhält keine Antwort. Selbst wenn ich wollte, könnte  
ich sie ihr nicht geben. „Gebäude heilen keine Menschen“, flüstert Sie. „Du  
wärst da draußen gut zurechtgekommen.“  
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Leer stiert der Körper vor sich hin. Atemzüge schütteln ihn, der Puls donnert  
schwach unter der schmierigen, trockenen, rissigen Haut. „Du bist immer hier  
geblieben“, wispert Sie. „Du bist nie gegangen.“  
Die Finger wandern über die Risse in dem dunklen Holz der Bank, auf dem  
der Körper kauert. Einmal zugefügt, verflüchtigt er sich nicht mehr. Wird  
überdeckt, aber die Narbe bleibt. Ob in Fleisch, in Sand, in Stein, in Holz. Der  
Riss bleibt.  
„Warum bist du nie gegangen?“, murmelt Sie. „Warum bist du  
hiergeblieben? Du hast gesehen, dass wir dir nicht helfen können. Du musst  
doch selbst gespürt haben, dass es nur schlimmer wurde. Warum also bist du  
geblieben?“  
Die Hand verharrt. Nägel sind eingewachsen und haben das Fleisch  
verdorben. Eiter quillt aus rotgeschwollenen Gliedern.  
„Er kann nicht sprechen“, beende ich das Trauerspiel.  
Sie fährt zusammen. „Doch. Kann er.“  
„Die Zunge ist müde. Der Körper tot.“  
„Er kann sprechen.“ Sie dreht sich nicht zu mir um. „Warum bist du  
zurückgekommen?“  
„Mich blendete das Licht.“  
Sie streckt den Arm aus und drückt es fort. „Besser?“  
„Ja.“  
„Geh einfach wieder.“ Sanft betasten ihre Finger das Gesicht, streicheln  
durch die Überreste des Haars. „Lass uns allein.“  
„Nein.“  
Schwer seufzend hockt Sie sich auf ihre Fersen. „Glaub mir, es bringt  
niemanden weiter, wenn du bleibst.“  
„Nein.“  
„Das ist lächerlich!“ Wutschnaubend steht Sie auf und wirft die Hände in die  
Luft. „Du willst von mir, dass ich spiele. Ich tue genau das, was du von mir  
verlangst, und dann stehst du hinter mir und passt auf, dass ich es auch ja so  
mache, wie du es von mir erwartest?“  
„Nein.“  
„Was tust du dann hier?“  
192  
„Warten.“  
„Worauf?“  
Ich weiß diese Frage nicht zu beantworten. Stumm betrachte ich den  
Schatten des Körpers. Die Augen wandern nicht mehr. In unregelmäßigen,  
ewigen Abständen schließen sich die Lider langsam und öffnen sich träge auf  
die gleiche apathische Weise. Hin und wieder wandern Finger über Holz,  
fahren die immer gleichen Maserungen nach, nur um zu verharren, als wäre  
alle Kraft aus dem Leib gewichen.  
„Worauf, Alex?“  
„Wie gedenkst du das Spiel zu beenden?“  
„Es ist kein Spiel“, spuckt Sie. „Ich weiß schon, was du von mir erwartest. Du  
willst, dass ich mich entscheide zwischen ihm und dir. Du willst, dass ich dir  
dabei helfe, diesen Körper verschwinden zu lassen, damit du endlich frei bist  
von diesem Ort. Aber, sobald das geschehen ist, was tust du dann?“ Sie  
verschränkt die Arme vor der Brust. „Schon jetzt bist du gnadenlos. Du lässt  
dich mit jedem ein, der dir nicht nah sein sollte. Du spielst mit den Düstersten  
von allen, du tötest die Unverzichtbarsten. Was soll kommen, wenn ich dich  
hiervon losmache? Der Wahnsinn wird nicht verschwinden. Ganz sicher.“  
Schwer atmend schüttelt sie den Kopf. „Wenn ich könnte, würde ich dich  
töten. Nicht diesen Körper, sondern dich, um diese unkalkulierbare Gefahr  
zumindest bis zu einem gewissen Punkt zu bannen.“  
„Ich bin nicht unkalkulierbar.“  
„Du bist wahnsinnig! Was du auch wahrnimmst, es ist verzerrt. Du schaffst dir  
darauf eine eigene Welt und handelst, als könntest du es dir erlauben, zu tun,  
was du tust. Als würde es niemanden kümmern.“  
„Ich bin bei Verstand.“  
„Du bist der Überrest dieses Körpers!“ Anklagend deutet sie auf das  
verwesende Fleisch. „Nichts, was darin wohnt, könnte jemals bei Verstand  
sein. Als du zu uns gekommen warst, da warst du wahnsinnig und  
mörderisch. Aber heute? Jetzt? Du kennst keine Grenzen.“  
„Ich bin meine Grenze.“  
„Das ist nicht genug! Deinetwegen sind Menschen gestorben. Djano! Du hast  
die einzige Person, die für dich je ein Freund war, vernichtet. Einfach so.“  
193  
„Ich habe nicht den Abzug betätigt.“  
„Du hättest es genauso gut tun können.“  
„Nein.“  
„Doch!“, ruft Sie unkontrolliert aus. „Doch. Weißt du auch warum?“  
„Nein.“  
„Weil er deinetwegen dorthin gelaufen ist. Weil er sich deinetwegen vor  
diese Waffe gestürzt hat, deinetwegen sein Gesicht verloren hat und es wirkt,  
als würdest du es nicht zurückbekommen!“  
„Weil du es besitzt.“  
„Was?“  
„Du besitzt es.“  
„Das ist Schwachsinn.“  
„Die Hexe betritt die Hölle nicht. Der Vorstand ist tot, Djano ihm nachgefolgt.  
Wir sind die letzten beiden und ich besitze es nicht.“  
„Wahnsinnig“, betont Sie. „Du bist völlig wahnsinnig.“  
„Für den Moment.“  
„Für immer!“, ruft Sie aus. „Das wird sich nicht bessern, nur wenn ich diesen  
Körper töte. Wenn du wirklich glauben würdest, dass der Mord an diesem  
Häuflein Elend etwas bringen würde, dann hättest du es längst selbst getan.  
Niemandem bin ich begegnet, der mehr um seinen Tod gebettelt hat mit  
allem, was er hingenommen hat. Alex, du lebst nicht! Du vegetierst. Du  
kennst weder Freude noch Genuss. Du bist nur noch da und es wird sich erst  
bessern, wenn du fort bist.“  
„Ich lebe“, antworte ich schlicht.  
„Mach deinen Handel mit dem Leben rückgängig“, beschwört Sie mich.  
„Akzeptier den Tod.“  
„Nein.“  
„Aber das ist kein Leben!“  
„Es ist an dir, mich zu heilen“, erinnere ich Sie. „Du leistetest einen Schwur.“  
„Das ist doch lächerlich“, flüstert Sie. „Das ist das Lächerlichste, was ich je  
gehört habe!“  
„Nein.“  
„Doch! Weil ich dir versprochen habe, dich von deinem Wahnsinn zu heilen.  
Das ist nicht möglich gewesen, weil ich es nicht besser wusste und ich  
194  
bedauere es.“  
„Fühl dich schuldig.“  
„Das kann ich nicht“, beharrt Sie. „Ich wusste es nicht besser!“  
„Fühl dich schuldig.“  
„Das kann ich nicht. Mich trifft keine Schuld, verstehst du nicht? Ich habe nur  
genau das getan, was man von mir erwartet hat.“  
„Die Liste wird dich verschlingen.“  
„Das hat sie damals nicht getan, sie wird es heute nicht wagen.“  
„Sie wird dich verzehren.“  
„Das führt doch nirgendwohin! Dieser Körper braucht Hilfe. Er muss  
behandelt werden.“  
„Nein.“  
„Natürlich!“  
„Er ist tot.“  
„Er atmet. Er lebt. Er lebt, Alex. Er lebt wie du, weil du er bist. Ihr seid ein und  
dieselbe Person. Dich hat er nur in seinem Wahnsinn abgestoßen und das,  
was wir hier sehen, ist von dir geblieben. Verstehst du das nicht? Man könnte  
sogar darüber streiten, ob du überhaupt existierst. Alles, was dich ausmacht,  
hängt an diesem Körper. Stirbt er, stirbst auch du.“  
„Nein.“  
„Ich werde ihn nicht töten“, sagt Sie. „Wenn ich dann dein schwachsinniges  
Spiel verliere, dann ist das so. Dann leide ich wohl ewig. Das erwartet mich  
doch ohnehin.“  
„Du wirst ihn töten“, stelle ich fest.  
„Werde ich nicht.“ Sie setzt sich vor den Körper. „Wenn ich dich dafür bis auf  
das Blut bekämpfen musss, dann ist das so, Alex. Dann mache ich das. Dann  
tue ich das alles. Ich nehme das hin.“  
„Nenn mich bei meinem Namen.“  
„Das tue ich.“  
„Nein.“  
Tiefe Falten graben sich in Sies Stirn. „Natürlich tue ich das. Alexander.“  
„Nein.“  
Sie atmet tief ein. „Da sind wir also wieder. Du verleugnest dich bis zu dem  
195  
Punkt, an dem du keinen Namen mehr hast. In deiner Erinnerung, da hast du  
ihn mir gezeigt, erinnerst du dich?“  
„Den Namen, den die Hexe mir gab.“  
„Sie hat nur deinen echten wiederholt.“  
„Ich bin hier.“  
„Und?“  
„Wenn das mein aufrichtiger Name wäre, kannten die Furien ihn längst. Sie  
hätten mich nicht getötet, sie hätten mich mit sich genommen und bei sich  
behalten.“  
Sie öffnet den Mund, als wolle sie widersprechen. Die Worte sind verworren,  
verschlungen, verdammt. Schweigend wendet sie sich erneut dem Körper zu.  
Er hat keine dieser Liebkosungen verdient, sitzt er doch dort, seit ewig,  
bewegungslos, und nutzte die Beine nicht, um zu laufen.  
„Warum bist du geblieben?“, beschwört Sie das stinkende Fleisch. „Warum  
nur? Du hättest überallhin gehen können. Aber du bist noch immer hier.  
Warum? Warum.“  
Stoisch verharre ich, die Arme vor der Brust verschränkt. Vor Jahren hat der  
Körper das Sprechen verlernt. Hätte man ihm die Zunge herausgeschnitten,  
gäbe er mehr Laute von sich.  
„Sag du es mir. Warum ist er noch hier?“  
„Weil er hier ist.“  
„Aber warum?“  
„Aus seiner eigenen, freien Entscheidung heraus.“  
Langsam schließt Sie die Augen und atmet tief ein. „Du machst auf mich den  
gleichen Eindruck wie damals“, stellt Sie schließlich fest. „Es ist fast, als  
wolltest du gar keine Hilfe haben. Als würdest du mich einfach nur quälen  
wollen und jede dieser furchtbaren Sekunden genießen.“  
„Minuten. Stunden.“  
„Also liege ich richtig?“  
„Nein.“  
„Was soll das?“  
„Was?“  
„Das alles hier“, flüstert Sie. „Worauf möchtest du hinaus? Was soll das  
werden?“  
196  
„Mach dein Versprechen wahr.“  
„Wie?“  
„Dieses Wissen obliegt nicht mir“, sage ich glatt. „Ich kam als Hilfesuchender,  
nicht als Hilfegebender.“  
„Bis in alle Ewigkeit wirst du mir das vorhalten.“  
„Falls die Ewigkeit ein Ende kennen sollte“, antworte ich, „noch weit darüber  
hinaus.“  
„Das macht dich zu einem fühlenden Menschen. Jemand, der grollt, ist nicht  
emotionslos.“  
„Jemand, der hadert, ist nicht vom Fach.“  
„Ich suche nach einer Lösung.“  
„Seit Jahrzehnten.“  
„Ich war tot!“  
„Viel Zeit, um nachzudenken.“  
Sie presst die Lippen fest aufeinander, kurz nur, aber nachdrücklich genug,  
um das Blut aus ihnen zu vertreiben. „Das ist deine ganz persönliche,  
grausame Strafe an mich. Du gibst mir eine unlösbare Aufgabe und erinnerst  
mich regelmäßig daran, dass ich die letzte nicht lösen konnte. Das ist es, was  
du tust. Das ist es, was du bist! Ein verbitterter, widerwärtiger, alter Mann.“  
„Nein.“ Ich lasse die Arme sinken. „Ich lebe.“  
„Was daran“, Sie deutet auf den Körper, „lebt?“  
„Ich.“  
Für einen flüchtigen Moment schließt Sie die Augen, dann schiebt sie sich  
erneut schützend vor den Körper. „Gib mir die Möglichkeit, ihn zu heilen.  
Wenn er gesund wird, dann gilt das auch für dich.“  
„Der Flügel ist Hohn“, erinnere ich Sie.  
„Das weiß ich.“  
„Er hat einen.“  
„Natürlich! Du hast doch auch einen. Du bist dein eigenes Ebenbild, nur  
lebendiger. Du bist hier, Alex. Wie er. Nur bist du lediglich die Kopie und  
genau deswegen, muss ich ihm helfen.“  
„Der Flügel des Körpers sitzt auf der anderen Seite.“  
197  
„Du bist sein Spiegelbild.“  
„Nein.“ Langsam verschränke ich die Arme vor der Brust. „Ich komplettiere  
ihn.“  
„Natürlich“, sagt Sie sanft und sucht meinen Blick. „Natürlich tust du das. Ihr  
beide seid eine Person. Du hast dich selbst abgestoßen, um nicht völlig  
wahnsinnig zu werden.“  
„Nein.“ Ich warte darauf, dass der Groschen fällt. „Ich komplettiere ihn.“  
„Das weiß ich“, flüstert Sie. In einer fließenden Bewegung dreht sie mir den  
Rücken zu und nimmt behutsam das Gesicht des Körpers in ihre Hände.  
Liebkost ihn, wie sie es zu keinem Zeitpunkt tat, als er um Hilfe bat. „Das weiß  
ich, Alex. Du musst dich nicht fürchten. Sobald er heil ist, wirst du zu dir  
zurückkehren wollen.“  
„Du hast mich nie in ihm gesehen.“  
„Natürlich habe ich das. Ich habe dich therapiert.“  
„Nein.“  
„Ich habe es versucht“, verbessert Sie sich unwirsch.  
„Als er hier ankam, war er die Hölle bereits durchschwommen.“  
„Deswegen warst du wie vom Teufel besessen.“ Leise gluckst Sie und fährt  
dem Körper durch die wenigen, verbliebenen Haare. „Deswegen wirktest du  
wahnsinnig.“  
„Die Hölle schneidet selbst die Engel noch in zwei.“  
„Erstaunlich, dass du überlebt hast“, flüstert Sie. „Alles. Die ganze Zeit über.  
Ich werde dich heilen.“  
Angespannt lauere ich darauf, dass Sie die Bedeutung meiner Worte begreift.  
Ihre gesammelte Aufmerksamkeit gehört dem verwesenden Fleisch vor sich.  
„Die Hölle teilt selbst Engel in zwei“, erinnere ich Sie. Als ihre Reaktion  
ausbleibt, greife ich in die Tasche meines Mantels, streife ihn ab, die kühle  
Klinge in der Hand, und schneide mich frei. Rauschend breitet der eine,  
einsame Flügel sich aus, klebrig, übelriechend, eine Feder nach der anderen  
sich langsam befreiend. „Sein Flügel sitzt nicht auf der gleichen Seite wie  
meiner.“  
„Weil du sein Spiegelbild bist“, erinnert Sie mich.  
„Dein Flügel sitzt nicht auf der gleichen Seite wie ihrer.“  
198  
„Wie wessen Flügel?“ Sie wirft mir einen matten Blick über ihre Schulter zu.  
Das gesammelte, ungerechtfertigte Desinteresse strahlt mir entgegen. „Ich  
möchte diesen Körper heilen“, flüstert Sie. „Ich möchte, dass alles wieder  
einen Sinn ergibt, verstehst du nicht? Meine Fehler kann ich nicht  
ungeschehen machen, aber alles, was nun kommt, sollte ich neu schreiben.“  
„Dein Flügel“, bringe ich hervor, „sitzt nicht auf der gleichen Seite wie ihrer.  
Mein Flügel sitzt nicht auf der gleichen Seite wie der des Körpers. Ich habe  
dich aufgesucht. Dich allein. Ich habe dich aufgesucht, um mich zu heilen,  
nachdem ich durch die Fluten der Hölle geschwommen bin. Ich habe dich  
bekniet, mich zu kurieren, nachdem die Hölle mich zerrissen hat. Nur die  
Toten begreifen ihre Macht besser als ich.“ Langsam atme ich ein, langsam  
aus. „Kein Körper, kein Verbrechen.“  
„Was versuchst du mir zu sagen?“, fragt Sie mich gedämpft. „Sprich es ein  
einziges Mal aus. Sag es mir einfach.“  
„Dein Flügel“, meine Stimmbänder brennen vor Anstrengung, „sitzt nicht auf  
der gleichen Seite wie ihrer.“  
„Das vor mir ist ein Mann“, sagt Sie sanft.  
„Wir beide sind zwei Teile eines Ganzen. Die Hölle straft auf ihre Weise. Der  
Lethe liebt den Kykotos. Was auch geschieht, geschieht gemeinsam.“  
„Ich bin nicht durch den Fluss Lethe geschwommen.“  
„Du trägst einen einzigen Flügel auf deinem Rücken.“ Meine Kehle schnürt  
sich zu, als würden die Götter versuchen, mir das Leben aus dem Leib zu  
dreschen. „Du bist durch den Lethe geschwommen.“  
„Alex“, Sie sucht meinen Blick und hält ihn, „das bin ich nicht. Ich weiß nicht,  
woher diese Obsession kommt, aber das bin ich nicht.“  
Mehrfach erörtert, mehrfach erklärt. Worte, verloren in stoischer Finsternis.  
„Du trägst einen einzigen Flügel auf deinem Rücken“, wiederhole ich  
langsam. „Sie trägt ihn auf der anderen Seite. Selbst Engel werden in der  
Hölle in zwei gerissen. Als ich auf dich traf, hatte nicht nur ich die Hölle  
durchquert.“  
Sie stemmt die Hände in die Hüften. „Ich bin kein Engel und von mir gibt es  
kein Überbleibsel dieser Art.“  
„Nein?“  
„Nein“, sagt Sie entschieden. „Daran würde ich mich erinnern. Ich habe  
199  
niemals dieses groteske Bedürfnis verspürt, einen Teil von mir in einem  
finsteren Loch verwesen zu lassen. Ich bin nicht wie du. Ich habe ein Herz.  
Vielleicht kein allzu großes, aber ich habe eines.“  
„Was man wohl sieht, wenn man deinen Schädel öffnet?“  
„Ein Gehirn“, stellt Sie sachlich fest. „Ein einfaches, gutes Gehirn.“  
„Nein.“  
„Ich kenne meinen Körper wohl besser als du.“  
„Nein.“  
„Natürlich! Das ist die Diskussion nicht wert.“  
Ein heftiger, glühender Impuls treibt sich durch meinen Körper. Ruckartig  
greife ich nach Sies Oberarm, die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen  
und das kleine, vergitterte Fenster verschwindet. In dem dunkelsten Loch der  
Heilanstalt verharren wir, den Gestank von Eiter und Sterben in der Nase.  
Matte Ideen von Lichtmomenten schimmern durch die Risse der Tür über  
unseren Köpfen.  
„Stoß es in ein Loch und wirf den Schlüssel weg.“ Ich greife in meine  
Gesäßtasche und ziehe das Mobiltelephon hervor. Keine neuen Nachrichten.  
Das bleiche Licht frisst sich mit mörderischer Gier durch die Dunkelheit,  
zerfetzt sie in der Luft, und deutet auf eine zusammengekrümmte, winzige  
Gestalt, liegend in dem eigenen Verderben, das schwarze Haar in Flocken um  
sich herum verteilt, die Arme an Stein gefesselt, der niemals nachgeben wird.  
Der Körper rührt sich nicht. Aus welchem Grund heraus, sollte er sich zeigen?  
„Ihr Flügel“, sage ich sacht, „sitzt nicht auf der gleichen Seite wie deiner.“  
Neben mir beginnt Sie unkontrolliert zu zucken. „Wir haben beide die Hölle  
durchquert, bevor wir an diesem Ort nach Heilung lechzten.“  
Sie wirkt wie gebannt. Langsam bewegt sie sich auf ihren verwesten Anblick  
zu und berührt seine Schulter.  
„Spiel für mich“, bitte ich Sie erneut. „Spiel gegen das Schicksal. Machst du es  
richtig, wird es real.“  
Sies Knie knicken ein. Bebend kauert sie vor dem stillen Körper. Atemzüge  
durchlaufen ihn, hindern die Muskeln am Sterben und das Herz am  
Verharren. Das dunkle Haar fließt ihr über die Schultern. „Was zeigst du mir  
hier?“, flüstert Sie. „Was soll das?“  
„Spiel für mich. Spiel für dich. Spiel.“  
200  
„Warum?“, flüstert Sie. „Warum geschieht das hier alles?“  
„Es birgt die einzige Wahrheit.“  
„Welche Wahrheit? Alex!“  
„Selbst Engel würden in der Hölle in zwei gerissen.“ Mein Flügel prickelt,  
während er sich von Mal zu Mal weiter entfaltet. „Die Rote Liste giert. Sie  
will, was uns gehört.“  
„Ich fürchte mich“, sagt Sie mit belegter Stimme. „Ich fürchte mich so sehr.“  
„Wovor?“  
„Wovor?“ Ihr schriller Aufschrei kriecht mir durch das Mark. „Wenn das mein  
Körper ist, wer bin dann ich? Warum wurde ich getötet, wenn das meine  
sterblichen Überreste sind? Ich habe diesen Körper nie hierher verbannt. Wer  
war es, wenn nicht ich?“  
„Du.“  
„Ich war das nicht! Hörst du mir denn nicht zu?“  
„Kein Körper, kein Verbrechen.“  
„Was tust du mir an?“, flüstert Sie. „Was tust du mir hier an?“  
„Sie wollten dein Gesicht, um zu triumphieren. Sie bekamen es und trieben  
ein Laienspiel.“  
„Was willst du von mir?“ Sies flache Hand liegt Millimeter von dem  
stinkenden, schmierigen Körper entfernt. „Was willst du hiermit  
bezwecken?“  
„Die Rote Liste muss fallen.“  
„Du musst fallen“, flüstert Sie heiser. „Du bist der einzige, der in die Knie  
gezwungen werden muss. Du allein!“  
„Sobald ich sterbe“, sage ich nüchtern, „was bleibt von dir?“  
„Alles!“  
„Nichts.“  
„Alles“, insistiert Sie. „Einfach alles. Weil nichts hiervon geschieht. Du schaffst  
diese Situation. Du machst sie!“  
„Das liegt nicht in meiner Macht. Es liegt in deiner.“  
„Nichts hiervon ist real“, wispert Sie heiser. „Nichts hiervon ist real.“  
„Im Wahn wird der Sinnigste irrsinnig.“  
„Ich war nie verrückt!“  
201  
„Den Wahnsinn hast du fortgesperrt und vergessen. Die Fluten spielen bis ans  
Ende der Nacht, bis in den Tag hinein.“  
„Das hier ist Unsinn“, sagt Sie im Brustton der Überzeugung. Das hier ist nicht  
dein Körper.“  
„Wenn er nicht dir gehört, wem gehört er dann?“  
„Nicht mir!“  
„Wir sollten ihn niederbrennen.“  
„Was?“ Die Panik steht Sie glasklar ins Gesicht geschrieben. „Nein! Du kannst  
nicht einfach Menschen töten. Du kannst das nicht einfach tun.“  
„Aber foltern?“  
„Ich wollte sie heilen.“  
„Schmerz verkrüppelt.“  
„Schmerz“, presst Sie zwischen ihren Zähnen hervor, „macht frei.“  
„Im Hinterhalt.“  
„Gehört dir der Körper nicht, sollten wir ihn von seinem Leid befreien“, sage  
ich. „Er soll brennen.“  
„Du verbrennst hier nichts und niemanden“, sagt Sie heiser. „Nichts und  
niemanden, hörst du? Nichts und niemanden!“  
„Er gehört dir nicht.“  
„Falls doch, was dann? Sterbe ich dann?“  
„Du hättest nie existiert. Die Liste würde dich verzehren.“  
„Sei still“, flüstert Sie mit belegter Stimme. „Sei einfach still. Ich kann dich  
nicht mehr hören.“  
„Die Wahrheit hat scharfe Zähne. Sie raubt dir das Wasser und peitscht dich  
aus.“  
„Aber du bist nicht die Wahrheit! Du machst Dinge nicht wahr. Du verdrehst  
sie.“  
„Lass den Körper brennen, wenn er nicht dir gehört.“  
„Nein! Er atmet. Er lebt.“  
„Nein.“  
„Natürlich! Sieh ihn dir an.“  
„Was willst du von mir hören?“, frage ich Sie.  
„Dass er atmet.“  
„Er atmet.  
202  
„Also lebt er.  
„Im Zweifel.“  
„Was soll das? Was soll das alles, Alex? Was soll das?“  
„Die Hölle reißt selbst Engel in zwei. Was sie verlässt, ist nicht länger heiligen.  
Was sie verlässt, kennt weder Gewissen noch Liebe noch Hass. Was sie  
verlässt, lebt.“  
„Ich verstehe dich nicht“, sagt Sie mit belegter Stimme. „Ich verstehe einfach  
nicht, was du versuchst, mir zu sagen. Ich kann es nicht sehen.“  
„Der Lethe plätschert. Er plätschert, bis die Zeit abläuft.“  
„Nichts hiervon ist wahr.“  
„Wahrheit reißt dir die Kleidung vom Leib und lässt dich frierend zurück.“  
Kopfschüttelnd schließt Sie die Augen und atmet tief durch. „Kein Körper,  
kein Verbrechen“, flüstert Sie schließlich. „Das ist dein Motto.“  
„Ich habe es von dir.“  
„Das ist nicht möglich.“  
„Warum?“, fragt ich Sie.  
„Es würde bedeuten, dass ich diesen Körper hätte verschwinden lassen, um  
mein eigenes Verbrechen zu vertuschen.“  
„Ja.“  
„Aber das habe ich nie getan!“  
„Nein.“  
„Alex, bitte. Bitte!“  
„Worum bittest du mich?“  
„Ich weiß es nicht“, sagt Sie mit belegter Stimme. „Mach, dass es aufhört.“  
„Das kann ich nicht.“  
„Warum, verdammt? Warum? Das heute, das hast du angefangen. Genau wie  
alles gestern. Warum?“  
„Ich bin nicht Gott.“  
Zusammengekauert wiegt Sie sich hin und her. Das Licht steckt in meiner  
Hosentasche und wartet darauf, erneut zum Leben erweckt zu werden. Der  
Gestank schließt uns unbarmherzig ein. Klauen, die bis in den Magen graben,  
um ihn von innen nach außen zu kehren.  
203  
„Zeig mir, wen ich vergeuden muss, um meine Seele zu verkaufen“, breche  
ich schließlich das Schweigen.  
„Menetekel“, murmelt Sie. „Menetekel.“  
„Nein.“  
„Aber das ist es.“ Langsam hebt sie den Blick. Ein dämmriges Glühen wohnt  
ihren Augen inne. „Das ist alles, was noch bleibt.“  
„Der Mensch stellt diese Frage dem Teufel.“  
„Nur bist du kein Teufel und ich bin es auch nicht. Was bleibt also?“  
„Ein Anhaltspunkt.“  
Sie lacht heiser auf. „Die ganze Zeit über hast du dich durch den Abschaum  
jeder Welt gequält und das nur, um eine Antwort auf diese jämmerliche  
Frage zu bekommen?“  
„Ich besitze keine Seele“, erinnere ich Sie.  
„Na und?“  
„Sie wurde verkauft.“  
„Bereust du es?“, fragt Sie mich prompt.  
„Ich habe keine Seele. Reue ist mir fremd.“  
„Du solltest sie lernen. Das macht die ganze Sache viel spannender.“  
„Ja.“  
„Ich kann dir deine Frage nicht beantworten“, flüstert Sie. „Obwohl ich mich  
wie einer fühle, bin ich kein Teufel.“  
„Ja.“  
„Ich habe diese Frage auch nie gestellt.“  
„Nein.“  
Schweigend schüttelt Sie den Kopf und vergräbt das Gesicht in den zittrigen  
Händen. „Manchmal können ein Ja und ein Nein verwirrender sein als jedes  
andere, klare Wort.“  
„Für den Tauben.“  
„Ich bin nicht taub. Ich stelle mich auch nicht taub. Alles, was geschieht, wirkt  
unwirklich. Alles, womit ich mich konfrontiert sehe, seitdem ich zurück bin,  
ist verrückt. Es ist irrsinnig, verstehst du? Nichts davon ergibt einen Sinn.“  
„Nein.“  
„Ich verstehe dich nicht mehr. Ich sehe dich nicht einmal mehr! Ich weiß nicht  
mehr, wer du bist, Alex. Ich habe Angst vor dir. Ich dachte immer, ich könnte  
204  
dich einschätzen. Ich dachte immer, ich wüsste wer du bist und wüsste, was  
du als nächstes tust. Aber nichts an dir, nichts an dir ist mehr Du!“  
„Du bist mir selten begegnet. Die Kurz heilt den Körper, nicht den Geist.“  
„Und den Geist. Und den Geist! Du bist nicht nur der Geist. Du bist du. Du bist  
die Person, die ich einmal, die ich einst mit allem, was ich in mir hatte, die ich  
geliebt habe, verstehst du? Aber ich erkenne von diesem Mann nichts mehr  
in dir. Gar nichts mehr. Du bist nicht mehr da. Als würdest du mit diesem  
Körper sterben.“  
„Lösungen kosten.“  
„Alles?“  
„Sag du es mir.“  
„Ich kenne dich nicht mehr und ich verstehe diese Situation nicht.“  
„Alles“, erwidere ich schlicht. „Im Zweifel.“  
„Wer bist du?“  
„Ein Verhandlungspartner.“  
„Welche Verhandlungen? Wo willst du hin? Was willst du erreichen?“  
„Ich lebe.“  
„Ja. Ja, das habe ich gesehen. Kaum, aber du lebst.“  
„Du lebst.“  
„Offensichtlich“, flüstert Sie mit heiserer Stimme. „Falls das mein Körper sein  
sollte, offensichtlich.“  
„Gemeinsam haben wir noch immer nichts, wofür es sich zu leben lohnt.“  
„Was meinst du?“  
„Eine Seele.“  
„Ich habe meine Seele!“, ruft Sie aus. „Du kannst mich von vielem  
überzeugen, aber nicht davon. Ich fühle den Schmerz, ich fühle die  
Enttäuschung. Alles davon ist real. Ich bin real!“  
„Erinnerungen.“  
„Es sind mehr als Erinnerungen.“  
„In den Erinnerungen fühlst du auf die gleiche Weise wie jetzt.“  
„Lüge.“ Sie räuspert sich. „Du lügst.“  
„Ich fühle“, gestehe ich Sie. „In meinen Erinnerungen. Erinnere ich mich,  
empfinde ich. Gleicht die Situation einer anderen, empfinde ich. Erinnere ich  
mich. Aber zu fühlen, habe ich verlernt.“  
205  
„Schwachsinn.“  
„Wen siehst du im Spiegel?“  
„In letzter Zeit hatte ich keine Zeit, das zu überprüfen“, faucht Sie. „In letzter  
Zeit hatte ich nicht allzu viel Zeit für irgendwas. Ich habe einen Freund  
begraben!“  
„Er war nicht dein Freund.“  
„Ich habe ihn liebgewonnen in der kurzen Zeit, die du uns gegeben hast. Ich  
habe ihn verdammt lieb gewonnen und ich hätte noch so viele Jahre mehr  
mit ihm verbringen wollen.“  
„Gut.“  
„Deinetwegen musste ich ihn unter die Erde bringen!“  
„Ich habe den Abzug nicht betätigt.“  
„Du hättest es ebenso gut tun können.“  
„Diese Diskussion ist überholt.“  
„Nur für denjenigen, der der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen kann“,  
schnauft Sie. „Also für dich.“  
„Nein.“  
„Warum verleugnest du deine Schuld?“, ruft Sie aus. „Warum tust du so, als  
würde alles einfach so geschehen. Gestern deutest du an, du wärst das  
Schicksal, und heute zeigst du mir das? Du bist wahnsinnig. Du bist voll und  
ganz und absolut in jeder Hinsicht bis ans Ende deiner irrsinnigen Tage  
wahrsinnig.“  
„Es steckt im Irrsinn.“  
„Du weißt, was ich meine!“  
„Schlechte Worte einer schlechten Therapeutin.“  
„Ich habe es nie so gelernt, wie ich es vermutlich hätte lernen müssen.“  
„Also hast du dich begraben“, sage ich. „Ein Leichtes, sich zu vergessen ,wenn  
man das Loch zuschließt und den Schlüssel verliert.“  
„Ich habe nichts hiervon getan!“  
„Kein Engel bleibt ein Engel, wenn er die Hölle durchquert.“  
„Ich war nie ein Engel.“  
„Du warst einer.“  
„Wie kannst du es wagen, für mich zu sprechen? Schlussendlich bist du nichts  
weiter als mein Mörder. Du hast mich nie gekannt.“  
206  
„Kein Körper, kein Verbrechen.“  
„Ich werde mir nicht einreden lassen, dass du das von mir hast.“  
„Von wem sonst?“  
„Von deiner kranken Phantasie vielleicht? Ich weiß nicht, was du alles  
wahrnimmst, Alex. Ich weiß nicht, was dir alles durch den Kopf geht, aber,  
was es auch sein mag, es ist gemeingefährlich.“  
„Es ist das, was es sein muss.“  
„Sein muss?“ Sie lacht gellend auf. „Du machst Andeutungen, dass du ein  
Engel bist. Du tust so, als wüsstest du die Antwort auf alles, als könntest du  
alles verschwinden und wieder auftauchen lassen. Weißt du, was dabei  
rauskommt? Nichts. Rein gar nichts.“  
„Nein.“  
„Wie weit bist du denn gekommen? Was hat dir alles, was du getan hast, he  
gebracht.“  
„Du bist hier.“  
„Ich spiele für dich.“ Sie rollt die Augen. „Ein lächerlicher Trostpreis für die  
letzten Jahrzehnte, denkst du nicht auch? Das hat ein paar Tage gekostet. Nur  
ein paar Tage!“  
„Erst die Furien, dann der Rest.“  
„Ich gehöre zum Rest?“  
„Du gehörst zu niemandem.“  
„Das ist Unsinn.“  
„Ein Flügel“, sage ich. „Ein einziger Flügel.“  
„Dir geht es wie mir. Wir sind beide auf die gleiche Art und Weise  
vollkommen unvollkommen.“  
„Nein.“  
„Natürlich! Du hast es selbst gesagt. Blick den Tatsachen ins Gesicht.“  
„Nein.“ „Ich räuspere mich. „Ich weiß, wer ich bin.“  
„Und ich nicht?“  
„Gehört dieser Körper zu dir?“  
„Ich weiß es nicht.“  
„Wie ist er hierhergekommen?“  
„Worauf willst du hinaus?“  
„Das Ergebnis wurde im Vorhinein genannt.“  
207  
„Warum“, flüstert Sie gepresst, „zwingst du mich zu dem hier. Was soll das  
alles?“  
„Spiel für mich.“  
„Ich soll nicht nur deinen Körper heilen, sondern auch meinen? Was haben  
wir davon? Was bleibt uns? Ich kann nicht sehen, wohin das führen soll!“  
„Der Wahnsinn regiert. Die Liste frisst Moral und Glück.“  
„Tu nicht so, als würdest du sie nur aus diesem einen Grund vernichten  
wollen.“  
„Wer gibt, nimmt.“  
„Du bist nicht Gott.“  
„Ich habe einiges in Erfahrung gebracht.“  
„Du sagst selbst, dass du nicht Gott bist!“  
„Ja.“  
„Was soll das also?“  
„Hör zu“, beschwöre ich Sie. „hör mir zu.“  
„Damit du weitere Lügen in mich pflanzt? Damit du mich weiter um den  
Finger wickelst, mich weiter zum Clown vor mir selbst machst“ Harsch lacht  
sie auf. „Mich vorführst?“  
„Wirst du den Körper retten?“  
„ich wüsste nicht, wie. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, aber  
ich wüsste nicht wie.“  
„Konntest du je geilen?“  
„Ich habe getan, was mir beigebracht wurde“, flüstert Sie. „Ich dachte, sie  
wissen es besser.“  
„Als wer?“  
„Als ich.“ Die folgende Stille flirrt, sie sirrt, sie zerreißt und der Körper gibt ein  
gurgelndes Geräusch von sich. Sie vergräbt das Gesicht in den Händen. „Mir  
wurde ein Weg gezeigt. Ein guter Weg, wie ich dachte. Einen, den ich  
vertreten kann. Problemlos. Einen, der einen Sinn ergibt.“  
„Folter.“  
„Für uns war es keine Folter!“  
„Heilende Qualen.“  
Sie presst die Lippen fest aufeinander, dann schluckt sie schwer. „Das  
Notwendigste.“  
208  
„Was hat es dir gebracht?“  
„Nichts“, erwidert sie nach einigen stillen Sekunden. „Weniger als nichts. Wir  
sind beide wieder hier und wir sind betroffener denn je.“  
Die Worte verätzen mir die Zunge, noch ehe ich sie ausspreche.“  
„Heil mich.“  
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, wispert Sie.  
„Tu es auf deine Weise.“ Ich halte ihren Blick. „Spiel das Spiel und heil dich.  
Heil mich. Ein Flügel allein wird schwer mit der Zeit, erdolcht den schwachen  
Geist.“  
„Den Körper auch“, sagt Sie nüchtern. „Wir wissen nie, wo der Flügel  
entlangsticht wenn er sich das nächste Mal entfaltet.“  
Ich gebe einen zustimmenden Laut von mir. Sie ist winzig wie der Körper, hat  
die Arme um ihre Beine geschlungen und badet in summender Finsternis.  
„Das war das erste Mal seit Langem, dass du geklungen hast wie du“, wispert  
Sie.  
„Es war die gleiche Bitte wie zu jeder Zeit.“  
„Ich weiß. Trotzdem hat es sich bedeutungsvoller angefühlt.“  
„Bedeutung ist leer. Der Sachverhalt wird mit Luft gefüllt.“  
Schwer seufzend richtet Sie sich auf und sucht durch die Finsternis hindurch  
meinen Blick. Die winzigen Reflektionen in ihrem Blick bleiben zurück.  
Irrlichter sind nichts weiter als Erinnerungen an die Engel, die sie einst sein  
wollten.  
„Wie soll ich dir helfen?“, wispert Sie. „Indem ich zulasse, dass wir die Körper  
verbrennen? Ich kann dir nichts zusichern. Was ist ein Geist ohne seinen  
Leib? All das, es ist völlig irrsinnig. Niemand sollte sich darüber den Kopf  
zerbrechen müssen.“  
„Aber?“  
„Nichts aber. Ich muss“, Sie stockt, „darüber nachdenken. Wir können die  
Körper nicht einfach verbrennen.“  
„Warum?“  
„Du hast selbst gesagt, dass ein Flügel mit der Zeit zu schwer wird. Denkst du,  
wir verlieren ihn, wenn wir die Körper verbrennen?“ Sie schlägt die Hände  
vor das Gesicht. „Ich kann nicht glauben, das wirklich gesagt zu haben.“  
„Kein Körper, kein Verbrechen.“  
209  
„Einen Körper verschwinden zu lassen, ist Verbrechen genug. Gleichgültig, ob  
es jemand erfährt.“ Sie atmet schwer. „Ich möchte, dass wir sie dorthin  
bringen, wo sie geheilt werden können.“  
„Durch dich.“  
„Nein.“ Sie scheint von Moment zu Moment weiter in sich  
zusammenzusinken. „Ich bin nicht gut darin, Dinge oder Körper  
zusammenzufügen.“  
„Ja.“  
„Aber in jedem Jahrhundert gibt es Menschen, die genau dafür geboren  
wurden. Dafür!“  
„Wofür?“  
„Zum Heilen. Um Menschen wieder ganz zu machen.“  
„Ja.“  
„Hilf mir, die Körper dorthin zu bringen.“  
„Nein.“  
„Warum?“  
Weil die Furien lauern, wo Menschen sind. „Nein.“  
„Warum?“ Sies Stimme bebt. Zorn macht jeden Laut kantig. „Warum? Gib mir  
einen guten Grund. Sag mir Warum!“  
„Nein.“  
Sie schreit unkontrolliert auf. Dumpf trommeln Gliedmaßen auf Stein. Ich  
bleibe stumm, warte, dass der Körper reagiert. Seine Stille webt uns in einen  
erstickenden Kokon, schnürt die Luft aus unseren Leibern und lässt uns  
erdrosselt und einsam zurück. „Was habe ich dir je getan, damit du mich vor  
eine unlösbare Aufgabe wie diese stellst?“  
„Du hast sie dir selbst auferlegt.“  
„Das habe ich nie! Ich habe gesagt, ich heile Menschen. Viele sind gestorben.  
Viel zu viele! Aber im Tod waren sie von ihrem Wahn befreit.“  
„Sagt wer?“  
„Ich!“ Sie atmet rasselnd ein. „Lass mir diese eine, letzte Wahrheit. Lass sie  
mir.“  
„Nein.“  
„Wozu? Was erlaubt es dir, was erlaubst du dir, so zu handeln?“  
210  
„Lass uns die Körper zu Grabe tragen.“  
„Nein“, sagt Sie entschieden. Ich meine, ihren entschlossenen Blick erkennen  
zu können, während sie das Gesicht in den Händen vergräbt. „Nein. Niemals.“  
„Warum?“  
„Weil er zu dir gehört. Und der andere? Es ist verrückt, ich will nicht daran  
glauben, aber womöglich ist es genau das, was ich von mir vermisst habe.“  
„Spiel für mich“, bitte ich Sie erneut. Ein ewiges Mantra, das an Bedeutung  
gewinnt, an Bedeutung verliert, gewinnt, verliert, bis sie fadenscheinig  
zwischen uns schwebt, zu einem Mantra geworden, das niemand recht zu  
greifen weiß.  
„Ich spiele!“, jammert Sie. „Ich spiele doch. Siehst du nicht, wie ich spiele? Ich  
sitze hier vor diesem Körper und versuche herauszufinden, wer ich überhaupt  
noch bin, wenn das alles ist, was mir bleibt.“  
„Du.“  
„Ich wäre nicht mehr ich“, sagt Sie heftig und dreht sich zu mir um. Der  
leichte Schimmer hat ihre Iriden nicht verlassen. „Ich wäre jemand, der sich  
nicht einmal daran erinnern kann, dass er einen Teil von sich fortgeworfen  
hat. Eingeschlossen. Eingeschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Was für  
ein Mensch“, sie gibt einen hilflosen Laut von sich, „muss man sein, um sich  
selbst das anzutun. Und sich nicht einmal zu erinnern? Ich erinnere mich  
nicht einmal!“  
„Der Lethe fließt.“  
„Das sollte keine Entschuldigung sein“, sagt Sie rau. „Das sollt gar nichts sein.  
Ich will es nicht mehr hören.“  
„Was wirst du tun?“  
„Wenn ich sie nicht zu jemandem bringen darf, der sie wirklich heilen kann?“  
Träge hebt Sie die Schultern. „Waschen. Hydrieren. Nähren.“  
„Wo?“  
„Du lässt sie nicht fort von hier“, sagt Sie rau. „Vielleicht hast du Recht.  
Vielleicht ist das hier der einzige Ort, an dem Körper verschwunden bleiben.  
An dem das größte Verbrechen fast vertretbar wirkt.“  
„Hier wurden Verbrechen geboren.“  
„So alt ist es nicht“, flüstert Sie.  
„Sondern?“  
211  
„Das Verbrechen hat mit dem ersten Menschen begonnen. Das hier ist eine  
andere Liga.“  
„Ja.“  
„Eine kleinere.“  
„Nein.“  
„Doch“, beharrt Sie. „Wir haben hier nicht töten wollen. Wir wollten helfen  
und wenn das hier das ist, was davon übrigbleibt“, ich sehe sie schlucken,  
„wäre es wohl ganz gut, wenn ich mich der Sache annehme.“  
„Ja.“  
„Ich habe Angst“, gesteht Sie mir, die Stimme hoch und Tränen in den  
ausdrucksstarken Augen. „Was, wenn ich sie umbringe? Werden wir einfach  
verschwinden? Was dann?“  
„Niemand geht je wirklich.“  
„Natürlich geht jemand wirklich. Menschen verschwinden. Sie kommen nicht  
wieder. Sie verrotten. Niemand zieht ihnen das Gesicht ab und zwingt sie  
zurück auf den alten Posten.“  
„Ich bin kein Mensch,“  
„Ich auch nicht“, sagt Sie rau. „Je länger ich darüber nachdenke, desto  
unmenschlicher werde ich.“  
„Ha,“  
„Und nun?“ Sie wimmert leise auf. „Was kommt als nächstes?“  
„Heil die Körper. Spiel für mich.“  
„Ja.“ Schniefend kämpft Sie sich auf die Beine. „Uns bleibt wohl nichts  
anderes übrig.“ Als sie nach meiner Hand greift, um mich näher zu dem  
Körper zu fühlen, lasse ich es zu. Vor meinen Augen verschwimmt die  
Umgebung. Mattes Nachtlicht scheint durch breite Gitter. Eine Ahnung von  
Mondschein drängt sich bis auf den dunklen Boden. Das Bett liegt umgestürzt  
da, das Waschbecken wurde zerbrochen. Eine leblose Hülle jagt die nächste.  
Die Körper sind einander nah und waren sich nie ferner. Leere Blicke treffen  
sich nicht, ausdrucksloser Atemzüge erwecken nichts zum Leben.  
„Ich will über nichts nachdenken“, sagt Sie heftig, als ich den Mund öffne.  
„Ich brauche Wasser, Alex. Viel.“  
„Ja.“  
„Bring es mir.“  
212  
Langsam lege ich den Kopf schief. „Ich brauche Wasser, um die Wunden  
auszuwaschen. Ich brauche Medikamente. Wenn du sie nirgendwohin gehen  
lässt, dann lass zumindest zu, dass sie die besten Voraussetzungen haben.“  
„Wofür?“  
„Um zu überleben“, haucht Sie fassungslos. „Hier geht es immer nur um das  
Überleben. Hast du dir darüber keine Gedanken gemacht?“  
„Nein.“  
„Warum nicht?“  
„Weil es schwachsinnig ist.“  
„Das Überleben ist der Kern …“  
„… eines jeden Irrsinns“, vervollständige ich Sies Satz.  
„Nein.“  
„Beweis mir das Gegenteil“, sage ich.  
Sie schweigt. „Bring mir das, was ich brauche, um sie heilen zu können“,  
bittet Sie mich leise. „Du möchtest, dass ich spiele? Dann gib mir die Mittel.“  
„Kein Zweck würde sie heiligen.“  
„Dieser Zweck.“ Sie zittert am gesamten Körper. „Ich will, dass, falls das hier  
mein Körper ist, er nicht irgendwo apathisch in der Ecke setzt und sich selbst  
vergisst. Falls das wirklich mein Körper sein sollte, dann brauche ich ihn.“  
„Mit Flügeln oder ohne?“  
„Wenn ich die Wahl habe?“ Sie atmet tief ein. „Immer mit Flügeln.“  
„Nein.“  
„Doch.“ Sie schüttelt den Kopf. „Vielleicht hast du wirklich Recht. Gut  
möglich, dass ich mich an nichts erinnere und gut möglich, dass ich genau aus  
diesem Grund heute stehe, wo ich stehe, und dir in jeder Hinsicht unterlegen  
bin. Falls ich mit Flügeln geboren wurde und sie mehr sind als nur Hohn. Will  
ich beide zurückgewonnen.“  
„Um welchen Preis?“  
„Um jedem Preis.“  
„Warum?“  
„Weil ich nicht dein Spiegel bin und du nicht meiner. Das dort, das ist alles,  
was von uns übriggeblieben ist.“  
Ich betrachte die Körper, die nur von der Grausamkeit des Todes am Leben  
gehalten werden. „Hol du die Mittel, die den Zweck heiligen“, sage ich  
213  
schließlich. „Ich bin kein Laufbursche und kein Heiler.“  
„Alex, bitte!“ Sie schnieft. „Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich von hier aus in  
die nächste Stadt komme. Mir ist nicht klar, ob der nächste Ort der Richtige  
ist. Ich weiß nichts davon!“  
„Lern es.“  
„Alex!“  
„Wozu?“  
„Was?“  
„Wozu bettelst du?“  
„Ich hoffe auf dich“, wispert Sie. „Ich stecke Vertrauen in dich. Wie damals.  
Wie jemals. Nichts hat sich verändert, oder? Wenn wir wieder hier sitzen, uns  
wieder dem stellen müssen, was wir am meisten fürchten, dann hat sich  
nichts verändert.“  
„Alles ist anders.“  
„Warum?“  
„Ich kenne den Ausweg und du versperrst ihn mir.“  
„Was?“  
„Niemand kann seinen eigenen Körper vernichten, um sich selbst zu  
befreien“, sage ich. „Gib dem Geist das Privileg, atemlos zu schweben, sich  
über alles und jeden zu erheben, und du wirst glücklich sein.“  
„Wir beide“, Sie stockt, „falls du wirklich Recht haben solltest, haben wir  
beide keine Seele. Das sind nicht unbedingt die besten Voraussetzungen.“  
„Für was?“  
„Für alles.“  
„Nur weil der Mensch die Seele mit krankhafter Obsession sucht, macht es  
sie nicht wertvoll.“  
„Natürlich“, wispert Sie. „Sie macht uns alle einzigartig.“  
„Wenn dem so ist“, sage ich, „warum rauben die Furien das Gesicht und nicht  
die Seele?“  
Sies Schweigen ist blechern. „Gib mir Ers Gesicht und ich werde dir  
beschaffen, was du benötigst.“  
„Ich habe es nicht.“  
„Doch.“  
„Nein!“  
214  
„Du musst es haben.“  
„Ich habe es aber nicht“, beharrt Sie mit der Starrsinnigkeit eines sterbenden  
Verstandes. „Ich habe nichts von dem, was du brauchst.“  
„Dann wirst du beschaffen, was du benötigst. Ich kann dir nichts geben. Nicht  
die Erinnerung an dich, nicht dich. Am wenigsten ein Mittel, das jemandes  
Wunden heilt.“  
„Wir sprechen nur von Wasser und Alkohol. Antibiotika. Mehr brauche ich  
nicht.“  
„Ich habe es nicht“, sage ich nüchtern.  
„Bitte“, flüstert Sie heiser. „Bitte! Falls das hier mein Körper ist, wer  
garantiert mir, dass ich mich an ihn erinnere, sobald ich das Gebäude  
verlassen habe? Ich habe ihn schon einmal vergessen. Was hindert mich  
daran, es wieder geschehen zu lassen?“  
„Du.“  
„Ich will ihn vergessen.“  
„Dann wirst du es tun. Erinnere mich.“  
Sies Blick schweift zu der zweiten zusammengesunkenen Gestalt. Zuckende  
Finger zeichnen die Maserung von dunklem Holz nach.  
„Ich habe eine einzige Frage an dich“, wispert Sie, „und es würde mir alles  
bedeuten, wenn du sie wahrheitsgemäß beantworten würdest.“  
„Ja.“  
„Weißt du, was du tust?“  
„Ja.“  
„Weißt du es wirklich? Rational? Oder verlierst du dich hier in irrsinnigen  
Ideen, die dir irgendwer irgendwann einmal gegeben hat?“  
„Ich weiß, was ich tue. Der Tod hat nicht meine Zeit gefressen.“  
„Vielleicht aber alles andere, was du hattest. Weil du nicht gestorben bist.  
Verstehst du, was ich dir sagen will?“  
„Ja.“ Ich räuspere mich. „Es ist irrelevant.“  
Sie atmet tief ein, erneut. Das Mondlicht zeichnet silberne Schatten auf ihre  
Wangen, die ihr langsam das Gesicht hinabfließen und sie zu einer  
vergänglichen Wachsfigur verwandeln.  
„Ich habe Angst“, gesteht Sie mir leise.  
215  
„Ja.“  
„Fürchtest du dich auch?“  
„Ich erinnere mich nicht an Furcht.“  
„Du erinnerst dich an Furcht“, sagt Sie gepresst. „Davon bin ich fest  
überzeugt. Du willst sie nur nie wieder sehen.“  
„Ja.“  
„Ich habe Angst“, wiederholt Sie. „Es ist das Beste, was ich habe.“  
„Nein.“  
„Es ist das beste, was ich habe“, wiederholt Sie entschieden. „Es hält mich am  
Leben und es wird mich dieses Spiel gewinnen lassen.“  
„Nein.“  
Kopfschüttelnd verschränkt Sie die Arme vor der Brust. Die Frau, die diesen  
Ort verlassen hat, ist nicht die gleiche, die hierher zurückgekehrt ist. „Wenn  
Engel real sein sollten wie die Hölle“, sagt Sie, „dann nehme ich alles hin, was  
von heute an kommt.“  
„Warum?“  
„Weil ich dann einer von ihnen bin.“ Sie betrachtet nachdenklich den einen  
Flügel, der dürr und zerrissen aus meinem Rücken ragt. „Genau wie du.“  
„Engel sind tot.“  
„Nur, wenn wir es zulassen.“ Sie schüttelt sacht den Kopf. „Ich hole, was sie  
brauchen. Bleib du hier.“  
„Ja.“  
„Pass auf sie auf“, bittet Sie mich heiser. „Sie waren viel zu lang allein. Ich  
könnte es nicht ertragen, wissen zu müssen, dass sie nie wieder zu sich selbst  
zurückkehren dürfen.“  
„Zu dir?“  
„Und zu dir“, bestätigt Sie leise. Ihre Schritte klingen unstet, während sie den  
Raum verlässt, mehrfach über ihre Schulter blickend. In der Ferne schläft eine  
Uhr Mitternacht. Schweigend betrachte ich die Schemen, die unförmig dort  
kauern, stinkende Substanzen absondernd, die jede Ratte von ihnen fernhält.  
Es braucht keine Medizin, um diese Gebrechen zu heilen, sondern ein  
Wunder. Sie könnte den See Genezareth in diese verfluchte Ruine umleiten,  
und niemandem wäre geholfen. Gott selbst müsste existieren und  
hinabsteigen, um das Leid zu tilgen.  
216  
Die Liste existiert und raubt allem, was Vernunft besaß, den Atem. Ich greife  
nach dem löchrigen Betttuch, ziehe es von der fadenscheinigen Matratze,  
und schlinge es um den weiblichen Körper. Der Hunger hat Brust und Po flach  
werden lassen, die Wangen tief. Langsam rühren sich Augen. Sie bekommen  
mich nicht zu fassen.  
Die Umgebung verschwimmt. Qualm zieht durch die Nacht, eine schwarze  
Mahnung, die alles im nächsten Umfeld erstickt. Menetekel.  
Menetekel.  
217  
Tag zwölf Die Tötung  
Vor mir baut sich das schwarze Krematorium auf, leer im Inneren bis auf den  
Durchbruch des Höllenflusses, der mich hinab in das finsterste Reich führen  
will, gesponnen aus Licht, um den Blinden zu verführen. Die Wiese liegt flach  
und braun da, ein Abklatsch des Lebens, während der Tod sich aus dem  
Schornstein quält. In der Ferne rauschen Räder, rufen Menschen, klirren  
Dosen. Ich inhaliere den Abschaum dieser Welt, mache ihn zu meinem  
eigenen Herz und lebe in Abtrünnigkeit.  
Niemand kreuzt meinen Weg, niemand wirft einen Blick auf das  
Knochenbündel in meinen Armen, zusammengehalten on Muskeln, die träge  
Reißen und die Knochen durch die schmierige Haut stechen lassen. Die  
Überreste geben winzige, unruhige Laute von sich. Sie wird die Furcht in jeder  
ihrer Fasern spüren. Was von ihrer Seele geblieben ist, wartet in diesen  
Überresten. Was ihre Seele noch darstellt, baumelt zwischen zerrissenen  
Tüchern und unter zuckender Muskulatur, zusammengehalten von  
spindeldürren Sehnen.  
Der Wind leckt durch die rauen Federn. Ich durchquere die Tür und nähere  
mich der Hitze. Sie lockt, sie ruft, immer auf der Suche nach dem nächsten  
Opfer, dem ersten Ende.  
Der Leib beginnt sich in meinen Armen zu wenden. Im Todeskampf bringt  
selbst verwesendes Fleisch einen Hauch seiner Kraft zurück. Lider flattern,  
winzige Laute werden ausgestoßen. Kein Ubiyts erwartet mich. Ich lasse es in  
die Fluten sinken, ehe ein Gewissen sich spinnt oder jemand erscheint, der  
bereit ist, mich an dem Richtigen zu hindern.  
Es geht leise von statten. Kein Schrei, kein Flehen, kein Bitten. Der Fluss  
verzehrt Haut und Knochen, wie die Furien es mir prophezeiten. Wie sie mich  
spüren ließen, um mir den rechten Weg zu weisen. Ascheflocken stieben in  
Richtung des Schlots und segeln in die Nacht hinaus. Wer zu fressen gibt, will  
geehrt werden. Der Höllenfluss zieht sich zusammen, eine dürre Spindel, die  
langsam den Weg hinabweist.  
Ich folge ihm nicht. Die Umgebung verschwimmt erneut und ich lasse mich  
neben dem Körper nieder. Keine Sorge geht von ihm aus, keine Furcht. Jeder  
218  
Versuch, ihn zu vernichten, wäre haltlos. Schweigend lehne ich mich gegen  
die Mauern und warte. Lausche dem Rauschen des Regens, der keine Ruhe  
findet, und auf das Heulen des Windes, der durch die Korridore jagt. Metall  
ist angelaufen, Wasser fängt sich in dem schmalen Graben und zwängt sich in  
den nächsten Raum, stets bemüht, die finstersten Geheimnisse mit sich  
davonzutragen, die Stufe hinab, die Tür hinaus bis in einen Tümpel, der das  
Grauen verbirgt.  
„Zwei Wege“, sage ich leise. Der Körper reagiert nicht. „Geh den ein oder den  
anderen, wir werden nicht dazu gezwungen sein, uns auf das einzulassen,  
was wir fürchten.“  
Die tödliche Stille umgibt ihn mit einem verräterischen Versprechen.  
Langsam kehrt der Tag ein und bringt Sie mit. Kreidebleich steht Sie in der  
aufgebrochenen Tür, die Lippen rissig, das Haar schimmernder denn je.  
„Ein Dank wäre angebracht.“  
Heiser lacht Sie auf. Ihre Hände zittern unkontrolliert. „Wofür?“, wispert Sie.  
„Dafür, dass du mich umgebracht oder dafür, dass du mich ausgespielt hast?“  
„Für beides.“  
Schweigend legt sie ab, was sie glaubt, der Heilung wegen zu benötigen.  
„Sollten die Höllentore sich jemals öffnen“, wispert Sie, „werde ich die erste  
sein, die dich hinabstößt, sie verriegelt und dir dabei zusieht, wie du ewig  
leidest.“  
„Nein.“  
Trocken lacht sie auf. „Warum? Was macht dich da so verdammt sicher.“  
„Deine tiefe, mir ergebene Dankbarkeit.“ Knapp nicke ich ihr zu. „Willst du  
die Liste sterben sehen, nimm ihr die Druckmittel.“  
„Ich war keines dieser Druckmittel.“  
Still nähere ich mich ihr und lege beide Hände auf ihre Schultern. Die gleiche  
Energie fließt durch Sie, die ich erinnere. „Du bist, wozu ich dich mache.“  
„Falsch“, sagt Sie heftig. „Du bist, zu wem ich dich mache. Gerade jetzt? Bist  
du der nächste, der in Flammen aufgehen wird.“  
„Der Engelsturz jährt sich.“  
Abfällig schnaubt Sie. „Tu nicht so überrascht. Gib nicht vor, es würde dich  
kümmern. Du hast ihn begonnen. Niemand außer dir hat das zu  
verantworten. Komm darauf klar oder lass es.“  
219  
„Ja.“  
„Sag nicht ja.“  
„Warum nicht?“  
Sie betrachtet mich lange. Das Licht bündelt sich in ihren Iriden und wächst  
zu einem tobenden Hurricane heran, in dessen Brust ein brennendes Herz  
schlägt. „Weil es keine Bedeutung mehr hat, sobald der Wahn beginnt.“ Ihre  
Mundwinkel heben sich. Das Lächeln erreicht ihre Augen nicht. „Ich habe mir  
überlegt, dass ich dich heilen kann“, sagt Sie und setzt sich dorthin, wo ihr  
Körper kauerte. Die Furcht muss sie zerfressen haben, während sie ihrer  
Wege ging. Dann der Schmerz. Am Ende die bittersüße Erleichterung. „Ich  
werde dich heilen, Alex. Ich werde diesen Körper dazu bringen, dich wieder  
aufzunehmen. Und weißt du, was ich danach tun werde?“  
„Nein.“  
„Ich sperre dich in ihm ein“, flüstert Sie, „stoße dich in ein Loch und werfe  
den Schlüssel weg. Das passiert mit Menschen, die keine Versprechen  
halten.“  
„Ich bin kein Mensch.“  
„Du wirst einer sein“, sagt Sie. „Du wirst einer sein und du wirst jede Sekunde  
dieser Nacht bereuen. Ich wollte leben!“  
„Du lebst.“  
„Nein“, flüstert Sie heiser. „Ich existiere. Weißt du auch, warum?“  
„Ja.“  
„Mein Körper ist in der Hölle verbrannt und alles, was er besaß, hat er  
mitgenommen.“  
„Eine milde Gabe.“  
„Du wirst leiden wie ich“, schwört Sie mir. „Du wirst mehr leiden. Weil ich  
alles tun werde, was du von mir verlangst. Alles und noch mehr. Und dann  
sorge ich dafür, dass du zusehen darfst, wie jeder dein krankes Paradies  
genießt außer dir selbst. Ich will, dass du qualvoll zu Grunde gehst.“  
„Momente wiederholen sich.“ Schweigend biete ich Sie meine Hand an. Sie  
schlägt sie aus. „Hättest du lang genug auf die leeren Seiten geblickt“, sage  
ich, „wüsstest du, wer welches Versprechen gebrochen und wer welches  
gehalten hat.“  
„In deine seelenfressende Kladde?“ Harsch lacht Sie auf. „Lieber sterbe ich  
220  
einsam, allein, ungeliebt und unwissend.“  
„Dein Wille geschehe.“  
„Mein Wille geschehe“, bestätigt Sie eisig. „Ich schwöre dir, diese Sache, sie  
wird erst vorbei sein, wenn du tot bist.“  
„Ja.“  
„Auf die letzte Weise, die du je wolltest.“  
„Ja.“  
„Weil du ein Verräter bist, Alex.“ Sie räuspert sich. „Du hast mich verraten.  
Als ich gegangen bin, wusstest du, was du tun würdest.“  
„Ja.“  
„Was hat es dir gebracht?“ Sies Stimme bricht. „Was hat es dir gebracht,  
mich zu verbrennen?“  
„Gewissheit.“  
„Welche?“, wispert Sie. „Dass es sich gut anfühlt, mich bis in den letzten  
Winkel auszurauben?“  
„Nein.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Dass der Tod die Feigheit  
besitzt, uns zu vergessen.“ Matt hebe ich einen Mundwinkel. „Lass uns  
anstoßen.“  
„Oh, ich wüsste nicht worauf“, spottet Sie.  
„Auf das Leben. Es war dem Tod nie ebenbürtiger.“  
„Wenn das mein Körper war, den du verbrannt hast, und ich noch hier bin,  
war das Leben nie unwichtiger.“  
„Ja.“  
„Warum also darum kämpfen?“ Ihr Blick schweift zu dem Körper. „Ich sollte  
dich sofort dort einsperren. Ich sollte dich spüren lassen, wie die Fäulnis an  
dir nagt.“  
„Ich befreie mich.“  
„Nein.“ Ihr glühender Blick spricht von einem Zorn, der nicht von dieser Welt  
ist. „Dieses Mal wird ein Wächter vor dir sein. Ein Wächter, der darauf achtet,  
dass du keinen Fuß aus dem Körper tust.“  
„Du“, stelle ich nüchtern fest.  
„Du“, bestätigt Sie mir eisig.  
„Gut.“  
„Gut?“  
221  
„Gut.“ Ich nicke knapp. „Dein Wille geschehe.“  
„Ist das auch Teil deines verrückten Plans?“  
„Ja.“  
Sie lacht schallend auf. „Du weißt doch selbst nicht, wohin das führen soll.“  
„Nein.“  
„Dann sag es mir“, verlangt Sie harsch. „Sag es mir hier und jetzt.“  
Der Flügel auf meinem Rücken spreizt sich unwillkürlich. „In die Freiheit, die  
wir bereit sind, uns um unseretwillen zu leisten.“ Ich nicke Sie zu. „Die Rote  
Liste tut, was sie eben tut. Uns zu verdauen, wird ihr schwerer fallen, als  
erwartet.“  
Sie schweigt. Ich warte auf den Ausbruch, der mich in faulendes Fleisch  
sperrt.  
Im schwachen Morgensonnenschein wendet sie den Blick ab und greift nach  
einem Tuch und einer Flüssigkeit, die ich nicht zu benennen weiß. „Mach mir  
Platz“, flüstert Sie heiser. „Ich kann so nicht arbeiten.“  
Ich trete einen Schritt zur Seite. Mit der Behutsamkeit eines Engels  
befeuchtet Sie das Tuch und reibt über die Wange des Körpers. Klebrige  
Substanzen lösen sich. Langsam hebt sich der zuckende Blick. Schwach  
lächelnd sieht Sie dem Körper in die Augen.  
Ich warte auf dem Knall.  
Er bleibt aus.  
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