Zum Ersten


Katatonia – Zum Ersten  
Was wir hoffen  
Wenn wir alles gegeben haben.  
Wenn wir alles getan haben.  
Wenn wir alles verloren haben.  
Was bleibt?  
Sogar uns selbst.  
Mehr als wir wollten.  
Ohne es zu bemerken.  
Was bleibt uns, wenn wir nichts mehr  
sind.  
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Silberregen (Amelia)  
Wirbelnde Lichtreflektionen, unschuldig weiß, gekleidet in Wasser und Eis.  
Atemlos beobachte ich meinen dampfenden Atem, der sich in Reigen dem  
Himmel entgegenbewegt. Silbrige Schemen, die träge in Richtung Erlösung  
steigen. Vergängliche Perfektion, die ihre grauen Flügel über einen Bruchteil  
der Welt ausbreitet.  
Die Kälte greift mit Eisesfingern unter meine Kleidung. Ich gehe schneller. In  
der Ferne erklingen sanfte Weihnachtsmelodien.  
Sobald ich mein Haus erreiche, wird niemand auf mich warten. Keine Katze,  
kein Hund.  
Keine Menschenseele.  
Frohe Weihnachten. Fröstelnd beschleunige ich meinen Schritt. Der Abend  
dämmert und lockt das innige Glühen aus den Lichterketten. Rote, gelbe,  
blaue Reflektionen huschen über die frische Schneedecke, die langsam höher  
wird und mir bis über die Knöchel reicht.  
Knoten aus Flocken schmelzen an meiner Haut und durchnässen die Socken.  
Es ist kalt.  
Es ist gut so.  
Die Stimmen des Chors werden leiser, je weiter ich gehe. Jemand scheint das  
Radio auf stumm zu drehen, bis nichts mehr existiert. Nichts als Schweigen,  
als Stille, als rieselnder Schnee, der in Silberregenschlieren zu Boden taumelt,  
den Rock ausgebreitet, jubelnd glücklich in seinem Festtagstanz.  
Sobald ich über die Schwelle meines Heims gehe, wird niemand auf mich  
warten.  
Es ist gut so.  
Es ist gut so.  
Es war immer gut so.  
Ich verlasse die schmale Gasse, die vorbeiführt an geschlossenen Läden und  
geschmückten Laternen, und biege ein auf eine weite, graue Straße. Der  
frische Schnee klebt bereits als grau-brauner Schlamm am Bordstein. Selbst  
die Weihnacht weiß den Trubel und den Stress nicht zu ersticken.  
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Ich überquere sie einige Meter weiter, passe einen kurzen Augenblick der  
Atemlosigkeit ab, ehe die Motoren weitergrölen und Räder jeden Zentimeter  
des Asphalts einnehmen.  
Meine Muskeln zittern unkontrolliert, als ich mich durch das quietschende,  
schmiedeeiserne Gartentor dränge, das mühsam stimmungsvolle Licht der  
Weihnacht im Rücken, und die wenigen Meter durch den Vorgarten  
bewältige. Die Blumen befinden sich im Winterschlaf. Weiße Kronen thronen  
auf ihren ruhenden Köpfen und fangen das letzte Tageslicht auf. Bereichern  
es durch Grün und Rot und Blau und Gelb von Lichterketten.  
Mechanisch glüht dieses eine Eichhörnchen auf meinem Grundstück,  
aufgestellt von der stets strahlenden Gärtnerin, die der Weihnacht noch  
Besinnlichkeit anzudichten weiß.  
Ich schließe die Eingangstür auf. Im Inneren des Hauses ist es dunkel. Kein  
Schmuck, kein Weihrauch. Kein Baum, keine Geschenke.  
Es ist gut so.  
Es war immer gut so.  
Auf meinem Esstisch liegt nebst Gesteck eine charmante Aufmerksamkeit  
der Haushälterin ein verschlossener, cremefarbener Brief. Ich drehe das  
Radio auf und lausche verklärten Weihnachtsmelodien. Letztes Licht fällt  
durch die großen Fenster, selbst durch den Schnee verstärkt zu trist, um  
jeden Winkel des Raumes ausleuchten zu können. Ich betätige den Schalter.  
Steriles Flackern.  
Im Kühlschrank wartet ein gestürzter Pudding auf mich. Ich schneide gerade  
genug davon ab, um die kleine, weiße Dessertschüssel füllen zu können. Den  
Frost noch immer im Nacken, setze ich mich an den Tisch, die Socken nass  
und kalt. Kleine Pfützen bilden sich unter den nackten Sohlen meiner Schuhe,  
während ich achtlos den Brief ohne Absender öffne.  
Ein leeres Formular, das darum bittet, ausgefüllt zu werden. Ich streiche es  
glatt. Der Informationsbogen liegt bei. Ich überfliege ihn, lege ihn zurück auf  
den Tisch und gehe zum Ofen. Öffne ihn. Der Geruch des Bratens strömt mir  
entgegen. Eine Keule, Rotkohl, ein Kloß, ein kleines Schälchen mit Soße. Das  
Gericht ist für den morgigen Tag angedacht.  
Ich entnehme es. Letzte Hitze haftet noch unter der Gänsehaut. Mir fehlt die  
Ruhe, alles anzurichten. Stattdessen greife ich nach dem Blech. Es ist noch  
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warm. Das Gewicht auf einem Arm balancierend, ziehe ich Besteck aus der  
Schublade und setze mich zurück an den Tisch. Die Karaffe ist gefüllt mit  
frischem Wasser. Ich schenke es mir ein und nehme einen Schluck. Jede  
meiner Bewegungen hallt gespenstisch wider.  
Gurgelnd böllert die Heizung und die weinrote Tapete belächelt mich von der  
kalten Wand aus.  
Ich nehme den Informationsbogen wieder in die Hand und überfliege  
reißerische Zeilen von Abenteuern, Hauptgewinnen und einmaligen Chancen.  
Sobald Sender für ihren erniedrigenden Wahnsinn werben müssen, ist er tief  
genug, damit keine Agentur sich mit ihm in Verbindung bringen lassen will. In  
einem Zeitalter voll Skandalen und Freizügigkeiten auf dem Bildschirm? Ein  
Warnsignal.  
Jemand sollte dieses Unterfangen prüfen. Auf das Genaueste. Sobald Sender  
sich genötigt fühlen, für ihre Formate willkürliche Briefe zu verteilen, sind sie  
mehr als nur lästig. Sie werden gefährlich.  
Austauschbare Bilder plärren mir in bunten Farben entgegen. Ich verschließe  
den Umschlag, schiebe ihn zurück neben das Gesteck und tunke in Stück des  
Kloßes in die Soße.  
Ein besinnliches Fest.  
Aus dem Radio spielen überdrehte Melodien, die sich in Festlichkeit  
versuchen, und auf der Straße rast das Leben. Kein Anlass der Welt wäre  
dazu in der Lage, ihren Trubel anzuhalten. Schnee fällt. Schnee stiebt.  
Langsam senkt sich die Nacht über die Stadt. Ich esse. Ich dusche. Ich schlafe.  
Ich sollte essen. Ich sollte duschen. Ich sollte schlafen.  
Wie gebannt greife ich erneut nach dem Umschlag und ziehe die Dokumente  
ein zweites Mal hervor. Es ist einsam heute Nacht. So war es immer. Es ist gut  
so. Das Handy vibriert nicht. Tausend Menschen, die sich zu mir gesellen  
könnten, keiner, der die Zeit dazu findet. Familien finden sich zusammen,  
speisen, scherzen, spielen. Ich werde den morgigen Tag in der Kanzlei  
verbringen. Jeden Tag des Jahres. Die Arbeit ruht nie.  
Tausend Menschen, die mir eine einzige Nachricht schreiben könnten. Eine  
Zeile oder zwei. Einen Gruß, einen Wunsch. Man könnte mir ein Päckchen  
zukommen lassen oder einen Brief.  
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Die einzige Aufmerksamkeit schenkt mir ein dubioser Sender mit einem  
dubiosen Schreiben.  
Es ist Heiligabend. Man bittet mich nicht um meine Gesellschaft.  
Man verlangt einen beachtlichen Teil meiner Würde und während die  
Weihnachtslieder auf und ab spielen, während der Duft des Essens sich  
langsam verflüchtigt und der Schnee zu fallen aufhört, halte ich diesen  
Bogen, starre auf die gedruckten Zeilen und suche nach allem, was ich  
verlieren könnte.  
Meine Karriere.  
Mein Ansehen.  
Mein Haus.  
Mein geordnetes Leben.  
Auf der Straße ertönen Rufe. Ich richte mich auf und werfe einen kurzen Blick  
nach draußen. Sie bewegen sich nicht in Richtung meines Grundstücks. Sie  
gehen weiter und klingeln an der nächsten Tür. Eine strahlende Familie, drei  
kleine Kinder, die Eltern. Sie balancieren Geschenke auf den Armen und  
Aufmerksamkeiten.  
Fröstelnd schlinge ich die Arme um mich und trete mir die Schuhe von den  
Füßen. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, wenn ich eine Entscheidung  
anders fällen würde, womöglich wäre das Radio nicht meine einzige  
Gesellschaft.  
Sie werden eingelassen.  
Ich beobachte, wie sie im Nachbarshaus verschwinden. Man könnte mir ein  
Lächeln zuwerfen. Den geputzten Fenstern nur des sauberen, sterilen Hauses.  
Ich befinde mich in einer Blase des Vergessens. Als ich mein Handy  
überprüfe, zeigt es noch immer keine Nachrichten an. Keine verpassten  
Anrufe. Niemand kümmert sich, niemand schert sich. Mein Finger schwebt  
über der Kontaktliste und ich kann mich nicht dazu überwinden, sie zu  
öffnen.  
Frohes Fest.  
Frohes Fest.  
Ich öffne das Sms-Postfach. Keine ungelesenen Nachrichten.  
Keine Nachrichten. Im Gesamten. Außer meinen Klienten schreibt mir  
niemand. Je.  
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Und was bleibt? Bin ich. An diesem Tisch. Das Eichhörnchen leuchtet einsam  
in meinem Vorgarten. Nicht ich habe es gekauft, nicht ich habe es aufgestellt.  
Vor mir liegen die abgenagten Knochen der Gänsekeule und die  
leergeputzten Teller. Das Gesteck, das langsam Staub fängt und seine Nadeln  
verliert.  
Dieser Brief.  
Ich ziehe mir die klammen Socken von den Füßen. Das Abenteuer Ihres  
Lebens. Eine einzigartige Chance.  
Ich sollte duschen gehen. Ich sollte schlafen.  
Das gleiche Lied spielt zum fünften Mal. Ich stelle es auf stumm. Deswegen  
nutzt niemand mehr sein Radio. Seit Jahren schon hat es nichts Neues zu  
sagen.  
Ich könnte den Kamin entfachen. Seufzend öffne ich meine Jacke und hänge  
sie über die Lehne des Stuhls. Steril weiß strahlt das Licht auf mich hinab. Ich  
betätige den Schalter und warte auf die wohlige Dunkelheit. Schweigend  
schlingt sie ihre Arme um mich. Ich atme tief durch. Starre auf die weinrote,  
nunmehr dunkelgraue Tapete vor mir. Das Gesteck hebt sich als müder  
Schatten gegen den Schemen des Tisches ab.  
Niemand ruft mich an. Niemand schreibt mir.  
Die Digitaluhr zählt die Minuten.  
Ich stehe auf, werfe die Knochen in den Müll und verlasse den Raum. Das  
Abenteuer Ihres Lebens.  
Ihre einmalige Chance.  
Ich streife mir die Kleidung vom Körper, dusche, wickle mich in ein Handtuch,  
steige die Stufen hinauf in mein Schlafzimmer. Das Bett wurde gemacht. Ein  
blumiger, frischer, sauberer Duft geht von den frischen Laken aus. Meine  
Mundwinkel heben sich unwillkürlich. Im matten Licht der Straßenlaternen,  
das durch die Fenster fällt, schimmert die Folie eines kleinen  
Weihnachtsmanns.  
Ich nehme ihn in beide Hände und lasse die matte Kühle auf mich wirken.  
Einen heiligen Abend wünsche ich mir.  
Ein frohes Fest.  
Die kleine Aufmerksamkeit aus Schokolade schläft neben mir.  
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Ein besinnliches Fest (Ladislav)  
Der Kaffee schmeckt bitter. „Ich halte das für keine gute Idee.“  
„Es ist die Chance deines Lebens!“ Aufgeregt deutet meine Agentin auf den  
laienhaft bedruckten Bogen. „Geld, Ruhm, Liebe.“  
„Du glaubst ein Wort davon?“ Knapp hebe ich eine Braue. „Dieser Brief wird  
im Briefkasten jedes Einwohners dieser Stadt liegen.“  
„Eine Chance!“, wiederholt meine Agentin. „Das ist eine einzigartige Chance.“  
„Sagt der Sender.“  
„Manchmal sollte man Sendern Glauben schenken.“  
„Hast du je von ihm gehört?“  
„Hin und wieder ist es der Auftakt, der einen Anbieter populär macht“, ruft  
meine Agentin aus.  
„Also nicht.“ Ich trinke. Der Kaffee schmeckt metallisch.  
„Es ist eine Chance“, wiederholt meine Agentin fest und streicht sich das  
wasserstoffblond gefärbte Haar über die Schulter. „Wir sollten diese Chance  
ergreifen.“  
„Ich habe dich angeheuert, um einen Fuß in die Modewelt zu bekommen“,  
erinnere ich meine Agentin. „Ich bin nicht hier, damit du meine Seele an den  
Niedrigstbietenden verscherbelst.“  
„Es ist der Höchstbietende“, sagt meine Agentin steif. „Ich habe dein  
Portfolio eingereicht. Nicht nur bei zwei Labels, sondern bei hunderten!  
Niemand hat Interesse an dir.“  
„Dann versuchen wir es weiter“, beharre ich. „Das ist doch Unsinn, dass ich in  
ein Format gehe, bei dem nichts für mich rumkommt.“  
„Eine größere Reichweite“, gibt sie zu bedenken.“  
„Wow.“ Ich rolle die Augen. „Aber auch nur, wenn jemand den Scheiß guckt.  
Ich kenne den Sender nicht! Niemand schaut sich was an, von dem er nicht  
einmal weiß.“  
„Diese Einladungsschreiben sind doch eine gute Werbung“, sagt meine  
Agentin. „Stell dir vor, dass jeder in dieser Stadt und in der nächsten und in  
der übernächsten so ein Schreiben erhalten hat. Sie werden aufmerksam auf  
das Format. Wenn sie sich nicht bewerben, werden sie zumindest neugierig  
sein und sich die Sendung ansehen.“  
„Ich bin Model“, erinnere ich meine Agentin. „Model! Kein notgeiler Kerl, der  
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halbnackt Cocktails schlurft und dabei schlüpfrige Gespräche führt.“  
„Niemand zwingt dich dazu, dich auszuziehen.“  
„Da habe ich schon ganz andere Sachen gehört.“  
Meine Agentin lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust,  
unregelmäßig mit dem metallisch-grünen Kugelschreiber wippend. „Du bist  
pleite“, sagt sie schließlich schlicht. „Du bezahlst mich seit Monaten nicht.“  
„Du hast mir auch keinen einzigen Job an Land geholt.“  
„Das ist deine Chance“, sagt sie und deutet nachdrücklich mit der Mine des  
Stifts auf den Bogen. „Du könntest relevant werden in der Szene. Die Kunden  
könnten nicht in Aktion erleben. Du könntest dich verkaufen.“  
„In erster Linie“, sage ich, „werde ich mich erniedrigen. Wenn ich Pech habe  
vor hunderttausenden Zuschauern.“  
„Das wäre das Beste, was dir passieren kann!“  
„Ich bin professionell“, beharre ich. „Glaubst du, ich habe dich angeheuert,  
damit du mir das letzte Bisschen nimmst, was ich noch habe?“  
„Du hast kein Geld und kein Dach über dem Kopf“, fasst meine Agentin eisig  
zusammen. „Ich verstehe nicht, worüber wir hier diskutieren.“  
„Da suche ich mir lieber einen Job, als da hinzugehen. Die schreiben nicht  
einmal, was auf einen zukommt. Was soll das sein?“  
„Für mich sieht es aus, wie eine Mischung aus einer Survival- und einer  
Datingshow.“  
„Toll! Ohne mich.“  
„Wenn sie ein Erfolg werden sollte, wird es beim nächsten Mal deutlich  
schwieriger für dich werden, Teil des Casts zu werden.“  
Der Kaffee schmeckt beschissen.  
„Schätzchen“, sage ich und stelle nachdrücklich die Tasse ab, „ich arbeite  
lieber bis ans Ende meiner Tage in einer Fastfoodabsteige, als diesen Körper  
und dieses Gesicht für eine neue, unterirdische Realityshow zu verkaufen.“  
„Dann solltest du die Bewerbungen rausgehen lassen.“ Klickend fährt sie die  
Mine des Kugelschreibers ein. „Ich habe nicht genug Zeit, um mich mit  
Klienten wie dir zu befassen.“  
„Mach dich nicht lächerlich. Du hast keine Klienten!“ Ich schlage mit der  
flachen Hand auf den Tisch. „Du hast keine Klienten, weil du jedem nur das  
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Geld aus der Tasche ziehst. Wie viele Jobs hatten deine Kunden schon? Zwei?  
In all den Jahren?“  
„Ich biete dir den attraktivsten von allen an“, sagt meine Agentin, ohne mit  
der Wimper zu zucken. „Alles ist ausgefüllt. Du musst nur noch  
unterschreiben.“  
„Ich bin zu gut für die!“, rufe ich aus. „Sieh mich an. Ich bin ein geborenes  
Model. Ich bin der, nach dem sich die Mädels auf der Straße die Finger  
lecken. Mich will jeder!“  
„Nur möchte dich niemand buchen.“ Meine Agentin deutet auf die  
Unterlagen. „Diese Menschen hier aber, sie haben Interesse an dir. Zum  
aktuellen Zeitpunkt solltest du nicht einmal daran denken, dieses Angebot  
auszuschlagen.“  
„Lieber sauf ich Bratenfett.“  
„Gut.“ Sie schlägt meine Akte zu und stellt sie zurück zu den übrigen,  
schmalen Papiermappen. „Ich wünsche dir ein angenehmes Weihnachtsfest.“  
„Angenehmes Weihnachtsfest.“ Ich schnaufe. „Ich penne im Keller von einer  
abgewrackten Crackoma und du wünschst mir ein angenehmes  
Weihnachtsfest?“  
„Heute hättest du mehr aus deinem Leben machen können“, sagt meine  
Agentin spitz und steht auf.  
„Ich werde nicht das letzte bisschen Stolz, das mir noch geblieben ist, einfach  
das Klo runterspülen.“  
„Warum nicht?“ Durch die dicken Brillengläser sieht meine Agentin mich  
stechend an. „Was hast du schon zu verlieren, Ladislav? Wenn du da  
mitmachst, wirst du bezahlt.“  
„Wo steht das?“  
„Man wird immer bezahlt!“  
„Ich will den Vertrag, in dem steht, dass ich da mit einer vierstelligen Summe  
rausgehe. Mindestens! Ich will diesen Vertrag, der mir garantiert, dass ich  
nächstes Jahr um diese Zeit in meiner eigenen, kleinen, versifften Wohnung  
pennen darf. Gib mir den und ich bin dabei.“  
„Sobald du unterschrieben hast.“ Meine Agentin zieht meine Akte noch  
einmal hervor und öffnet sie. „Diese Sache könnte langfristig extrem lukrativ  
werden.“  
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„Die könnte auch alles zerstören, was ich mir aufgebaut habe.“  
„Du hattest keinen einzigen Job“, ruft meine Agentin mir in Erinnerung.  
Immer draufhauen. Immer zeigen, wie wenig ich wert bin. Das kann sie richtig  
gut. Auf mir rumtrampeln, obwohl sie selbst keinen Deut besser ist.  
„Mir einen Job zu holen, ist deine Aufgabe!“  
„Für die du mich nicht bezahlst.“  
„Ich will keinen beschissenen Flyer unterschreiben.“  
„Es ist eine Anmeldung“, sagt sie. „Kannst du ein Geschäftsmann sein oder  
kannst du es nicht?“  
Die Galle treibt mir den beschissenen Kaffee wieder hoch. „Ich schwöre dir“,  
flüstere ich heiser, „wenn mir das irgendwas versaut, steche ich dich ab.“  
„Davon bin ich überzeugt“, sagt meine Agentin trocken. „Ich in fest davon  
überzeugt.“  
„Dann mach ich dich alle.“ Ich greife nach einem Kugelschreiber und setze  
meine Unterschrift darunter. „Unglaublich, dass ich meine letzte Kohle in dich  
gesteckt habe. Dass ich dir überhaupt jemals vertraut habe!“  
Meine Agentin schweigt und schlägt meine Akte zu. Die Unterschrift klebt auf  
einer Seite, die zwischen Pappe und altem Zeug eingeklemmt wurde. „Ich  
werde nun nach Hause fahren“, sagt meine Agentin fest.  
„Klar. Erzähl deiner Familie ruhig, dass du mich endgültig fertiggemacht  
hast.“  
„Ich gebe dir die Chance deines Lebens“, sagt meine Agentin gedehnt. „Du  
solltest sie nutzen.“  
Schnaufend verschränke ich die Arme vor der Brust und starre aus dem  
Fenster. Die Chance meines Lebens. Nur weil ein Grafikdesigner im ersten  
Ausbildungsjahr diesen Satz quietschrot auf bunten Untergrund druckt,  
macht es diese These noch lange nicht wahr. Das ist keine Chance. Ich weiß,  
wie sowas abläuft. Man fühlt sich für einen Moment furchtbar fame, wird von  
jedem Klatschblatt auf die fünfte oder sechste Seite gezerrt, darf seine  
dreckigen Statements zu den Schlammschlachten anderer Z-Promis abgeben.  
Dann wird man begraben und nur wieder rausgeholt, wenn der Arbeitgeber  
eine Begründung sucht, einen nicht einzustellen.  
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Ich fühle mich beschissen. Ich fühle mich, als hätte das Universum mir ein  
großes Päckchen geschenkt mit Elefantenscheiße. Sieht von außen gut aus.  
Macht man es auf, stinkt es zum Himmel.  
„Verlass bitte mein Büro, Ladislav“, sagt meine Agentin. „Ich möchte  
abschließen.“  
„Kannst du überhaupt noch ruhig schlafen?“  
„Natürlich kann ich das.“ Sie wirft mir ein schmales Lächeln zu. „Ich gebe dir  
die besten Möglichkeiten, die ich finden kann.“  
„Da musst du schlechter graben als ein gehbehinderter Maulwurf.“  
„Verlass bitte mein Büro.“  
Penetrant langsam stehe ich auf und greife nach meiner Jacke. Sie hat die  
besten Zeiten hinter sich. Der Stoff ist dünn und stinkt nach Rauch und Urin.  
Ich sehe aus wie der letzte Penner. Meine Modelmappe ist das einzig Gute an  
mir und meine Agentin lässt sie in diesem Hinterweltlerbüro vergammeln.  
„Ich bin abgehauen, um es ihnen zu zeigen“, sage ich, während meine  
Agentin die Türen verschließt. „Ich wollte ihnen allen zeigen, dass ich dieses  
eine Malemodel sein kann, das es schafft. Dieser eine Typ, den du auf jeder  
Werbeanzeige siehst. Du lässt mein Potential verrotten.“  
„Alle Männer, die zu mir kommen, haben diesen Traum“, sagt meine Agentin  
nüchtern.  
„Keiner von ihnen kämpft dafür so hart wie ich. Warum lässt du mich hier  
also einfach stehen?“  
„Ich habe dir eine großartige Chance eingeräumt“, wiederholt meine Agentin.  
„Wenn du dich gut anstellst, wirst du der nächste Stern am Realityhimmel.“  
„Dann kann ich mir wenigstens Botox in die Stirn spritzen lassen oder was.“  
„Versuch Dankbarkeit zu zeigen, Ladislav. Das ist wichtig.“  
„Ein Scheiß ist das.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen bleibe ich mit  
dem Rücken an die Tür gelehnt stehen. „Wenn ich irgendwann in einem  
Straßengraben vor mich hinsieche, dann ist das deine Schuld“, erinnere ich  
meine Agentin. „Ganz allein deine. Weil ich alle Hoffnungen und alle  
Ersparnisse nur in dich gesetzt habe.“  
„Das nehme ich zur Kenntnis“, sagt meine Agentin, „aber damit bist du nicht  
der Einzige.“  
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„Dass du überhaupt noch ruhig schlafen kannst.“  
„Das ist eine Chance.“  
„Klar.“ Ich rolle die Augen. „Wenn ich mich nackt ausziehe und auf  
Bahnschienen tanze, dann ist das auch eine Chance, berühmt zu werden. Ist  
halt immer die Frage, womit man den Ruhm löffelt und was schlussendlich  
daraus werden soll.“  
„Kein Star ist je vom Himmel gefallen.“ Die immer gleichen Phrasen, die auf  
übelkeitserregende Weise alt werden. „Es gibt immer dieses Auf und Ab.“  
„Leck mich.“  
Meine Agentin übergeht diesen Kommentar. „Wir sollten dieses Gebäude  
gemeinsam verlassen“, sagt sie. „Es ist Weihnachten. Heute ist es für  
Besucher nicht geöffnet.“  
„Ich bin kein Besucher.“  
„Du bezahlst mich seit Monaten nicht mehr“, erinnert mich meine Agentin.  
„Du bist ein Besucher.“  
Ich will ihr vor die Füße spucken. Steif gehe ich an ihr vorbei, die Schultern  
gestrafft und die Lippen fest aufeinandergepresst.  
„Mach das Beste aus dieser Chance“, sagt meine Agentin, sobald wir an der  
viel befahrenen Straße angekommen sind. „All deine Träume könnten sich  
mit einem Schlag erfüllen.“  
Klar. Genauso wie ich ihnen nähergekommen bin, als ich ihr meine Seele  
verkauft habe.  
Meine Agentin steigt in ihr scheißteures Auto und fährt weg. In dieser  
löchrigen Jacke, die ihre besten Zeiten längst hinter sich hat, stehe ich an der  
grauen Straße voll Schneematsch und streiche mir die schwarzen Haare aus  
den Augen. Wahrscheinlich sollte ich auf Knien in die nächste Fastfoodbude  
rutschen und um einen Billigjob betteln, von dem kein Schwein leben kann.  
Wahrscheinlich sollte ich diesen gesamten Modelscheiß an den Haken  
hängen und den Vertrag für diese beschissene Show verbrennen, sobald er  
ankommt. Dazu bin ich doch verdammt. Allein an so einer Straße zu stehen,  
den Dreck zu inhalieren und mich zu fragen, wie ich meine nächste Rechnung  
bezahlen soll.  
Gar nicht.  
Weil Typen wie ich eh nie irgendwas bezahlen können.  
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Ich laufe an den dekadenten Stadtvillen vorbei, eine gruseliger geschmückt  
als die nächste. Wenn man mit Geld beworfen wird, kann man es für diesen  
Kram ausgeben. Macht sich gut.  
Am Rande der Siedlung steht diese Bilderbuchvilla mit den drei Geschossen  
und dem langweiligen Leuchteeichhörnchen im Vorgarten. Ich würde es am  
liebsten anzünden. Wer auch immer hinter diesem schmiedeeisernen Zaun  
lebt, muss der glücklichste Mensch auf der Welt sein. Der wird sich nicht  
fragen, wovon er sein Essen bezahlen soll. Wahrscheinlich hat der mehr  
Freunde als ich zerbrochene Hoffnungen. Der Typ, der da wohnt, der würde  
einen Fastfoodladen nicht einmal betreten, um da zu essen. Der kauft den  
höchstens und zieht die Mitarbeiter wie grenzdebile Clowns an.  
Ich hasse jeden einzelnen, gut betuchten Penner in dieser Straße. Ich will sie  
alle in die Luft gehen lassen. Dieser Leute wegen haben Menschen wie ich  
keine Chance. Weil sie Menschen wie mich nicht buchen!  
Als ich wutentbrannt gegen den beschissenen, sauteuren Marmorpfosten des  
Briefkastens trete, öffnet sich die dunkle Holztür. Eine junge Frau verlässt das  
Haus. Sie kommt geradewegs auf mich zu. Herausfordernd sehe ich sie an.  
Eine rote Strähne flattert unter ihrer Kapuze hervor. Das Modelabel steht in  
goldenen Lettern auf ihrer Brust.  
Wenn man in einen Geldtopf wie sie geworfen wurde, dann hat man keine  
Sorgen mehr.  
„Erschieß dich!“, ruf ich ihr zu.  
Die junge Frau sieht auf. Zarte Falten graben sich in ihre Stirn. „Habe ich Sie je  
verteidigt?“, fragt sie mich nüchtern.  
„Sehe ich so aus?“ Ruckartig breite ich die Arme aus. Der tiefe Riss im Futter  
an der linken Seite kommt zum Vorschein. Mit der Jacke bin ich abgehauen,  
da war sie ranzig. Jetzt sollte niemand sie mehr tragen müssen. Ich habe mir  
geschworen, nach spätestens zwei Wochen ist sie ersetzt. Dann hatte ich  
meinen ersten, gut bezahlten Job. Gut ein Jahr später? Steh ich vor einer  
dekadenten Stadtvilla und brüll die Tochter von irgendeinem betrügerischen  
Idioten an, der sich seinen scheiß Reichtum erschlichen hat.  
„Nein“, sagt sie. Ohne ein weiteres Wort geht sie an mir vorbei, den Kopf  
leicht gesenkt.  
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„Wo gehen Sie hin?“, rufe ich ihr nach. „Bin ich keine zwei Minuten wert?“  
Sie reagiert nicht. Fluchend trete ich erneut gegen den Marmorpfosten dieses  
beschissenen Briefkastens. Er hat nicht einmal den Anstand zu wackeln. Der  
Schnee setzt wieder ein und ich wünschte, er würde sich genauso aus  
meinem Leben verziehen wie alles andere auch. „Frohe Weihnachten!“,  
brülle ich. Meine Stimme hallt gespenstisch durch die vielbefahrene,  
stinkende Straße. „Mögest du an deinem Scheißgeld ersticken.“  
Die junge Frau verschwindet in dieser kleinen Gasse, die in Richtung teurer  
Läden und wichtiger Kanzleien führt. Ich gehe nach rechts, die breite Straße  
hinab, bis sie in das widerlichste Viertel abbiegt, das die Welt je gesehen hat.  
Mir ist kalt und der Schnee schmilzt im Futter meiner Jacke. Wahrscheinlich  
sollte ich mich einfach vor das nächste Auto stürzen.  
Ich öffne die Tür zu dem widerlichen Keller, in dem ich im Winter penne.  
Wahrscheinlich würde es niemanden jucken, wenn mein Gesicht nirgendwo  
mehr auftaucht.  
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Chancengleichheit (Kyra)  
„Das ist der Wahnsinn.“ Ich wedle mit dem Flyer vor der Nase meiner kleinen  
Schwester herum. „Siehst du das? Das ist der absolute Hammer!“  
„Die haben das garantiert in jeden Briefkasten geworfen“, merkt sie  
kaugummikauend an, die Nase in ihrem Chemiebuch vergraben.  
„Aber auch in meinem! Das muss ein Zeichen sein. Die Sterne stehen gut für  
uns.“ Aufgeregt wippe ich auf und ab. „Kannst du dir das vorstellen? Ich? Im  
Fernsehen? Und alle sehen mir dabei zu?“  
Kurz sieht Lyra auf. „Nein.“  
Seufzend lehne ich mich gegen ihren verspiegelten Schrank. „Das ist ein  
Weihnachtswunder!“  
Sie gibt einen zustimmenden Laut von sich.  
„Lyra, ich verspreche dir, das wird der Wahnsinn. Abenteuer und Liebe? Das  
klingt nach mir. Das klingt so dermaßen nach mir, dass es mir Angst macht,  
wie sehr das nach mir klingt. Als hätten sie mich gegoogelt und ein Konzept  
erstellt, in dem ich nicht fehlen darf. Weil ich die Beste dafür bin. Verstehst  
du?“ Ich fächle mir mit dem Flyer Luft zu. „Erkennst du diese irrsinnige  
Chance?“  
Langsam sieht Lyra auf und blickt mir direkt in die Augen. „Ich schreibe meine  
Examensarbeit“, sagt sie knapp. „Bald.“  
„Sobald ich das hier abgeschickt habe, siehst du mich im Fernsehen!“,  
quietsche ich erneut. „Im Fernsehen, hörst du? Da wo sie nur berühmte  
Menschen zeigen. Ich werde da rausgehen und berühmt sein. Berühmter als  
alle Realitystars vor mir, weil ich einfach die beste Show bieten werde. Das ist  
die Chance. Das ist der absolute Wahnsinn!“  
Lyra lässt das Buch sinken und schnappt kurz nach Luft. „Ich dachte, du  
machst deinen Bachelor fertig.“  
„Dann mach ich den halt danach fertig!“  
„Wenn du noch einmal durch deine Prüfung fällst, ist das gesamte Studium  
hinfällig.“  
„Ich fall da schon nicht durch“, sage ich. „Nicht, wenn ich das hier gewinne.“  
„Aha.“ Lyra betrachtet skeptisch den farbenfrohen Flyer. „Sieht für mich aus  
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wie eine schlechte Fälschung.“  
„Das ist keine Fälschung. Das ist meine Zukunft. Das ist einfach der  
Wahnsinn!“  
„Ich trinke jedes Mal einen, wenn du ‚der Wahnsinn‘ sagst“, murmelt Lyra.  
„Die Chance meines Lebens“, sage ich und deute auf den roten Schriftzug.  
„Und sie lag zu Weihnachten in meinem Briefkasten!“  
„Als früher in den Zeitschriften stand, dass das Handy gratis ist“, sagt Lyra  
gedehnt, „da dachtest du auch immer, dass sie dir das via Mail schicken,  
oder?“  
Ich rolle die Augen. Freude an den kleinen Dingen? Für Lyra ein absolutes No-  
Go. „Kannst du mal einmal aufhören so eine Spielverderberin zu sein und  
dich für mich freuen.“  
„Wohoo“, sagt Lyra emotionslos. „Ich bin ja so aufgeregt. Ich kann es gar  
nicht erwarten.“  
„Danke!“  
Augenrollend vertieft sie sich erneut in ihr Buch. „Pass nur auf, dass du dich  
nicht lächerlich machst.“  
„Würde ich nie tun!“  
„Ich sehe aus wie du“, murmelt Lyra. „Wenn du im Fernsehen so tust, als  
wärst du das neueste Callgirl, bekomme ich den Spott genauso ab wie du.“  
„Ach, die werden uns schon nicht verwechseln“, sage ich spitz. „Ich bin der  
neue Star am Realityhimmel und du gehst in eine teure Praxis und schneidest  
Warzen aus den Rücken alter Männer.“  
„Wir sprechen uns in einem Jahr wieder.“  
„Klar wirst du damit mehr Geld machen als ich!“, rufe ich aus. „Aber meinen  
Namen wirst du in jedem Klatschmagazin finden, das dir über den Weg läuft.“  
„Magazine laufen nicht.“  
Ich lasse resigniert den Flyer sinken. „Du kannst mich mal.“  
„Keine Ursache.“  
„Das ist eine Chance!“ Matt rolle ich den Kopf. „Eine einzigartige Chance.“  
„Steht ja rot auf grün da drauf“, murmelt Lyra.  
Schnaufend schließe ich die Augen und atme tief durch. „Warum gelingt es  
dir nie, dich für mich zu freuen?“  
„Ich freue mich für dich“, sagt Lyra. „Ich halte das hier nur für einen großen  
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Fehler.“  
„Es ist eine Chance“, beharre ich. „Das ist eine einmalige Möglichkeit aus all  
dem auszusprechen. Hier rauszukommen und nicht für immer in diesem  
steifen Alltag zu hängen. Ich will nicht mit dreißig aufwachen und feststellen,  
dass ich genau dieses langweilige Leben führe, vor dem ich mich immer  
gefürchtet habe.“  
„Lieber besäufst du dich vor laufender Kamera.“  
„Ich verspreche dir, dass ich nichts Anstößiges tun werde.“ Augenrollend  
verschränke ich die Arme vor der Brust. „Ich werde mich nicht besaufen,  
nicht mit fremden Typen rumknutschen oder sonstwas machen.“  
„Dann fliegst du, bevor du dein dämliches Freudentänzchen vorführen  
konntest“, sagt Lyra trocken.  
„Bestimmt nicht. Nur, weil ich dir verspreche, brav zu sein, werde ich ja nicht  
langweilig.“  
Mit gehobenen Brauen sieht Lyra von ihrem Buch auf. „Doch.“  
„Du unterschätzt mich“, sage ich spitz.  
Seufzend schließt sie ihre „Lebensversicherung für die nächsten erfolgreichen  
fünfzig Jahre“ und stützt sich mit den Ellbogen darauf. „Hast du den Bogen  
schon ausgefüllt?“  
Ich zucke die Achseln. „Klar. Ich will das.“  
„Was, wenn sie dich nicht nehmen?“  
„Dann mache ich wohl nächstes Jahr noch meinen Bachelor.“ Augenrollend  
betrachte ich mein Spiegelbild in Lyras Schrank. Die dunklen Haare  
umrahmen mein symmetrisches Gesicht und bringen den warmen Ton  
meiner Haut besser zum Vorschein. „Es ist ja nicht so, als würde von diesem  
Format alles für mich abhängen. Ich würde mich nur hassen, wenn ich es  
nicht versuchen würde.“  
„Darauf wirst nicht nur du dich bewerben“, stellt Lyra nüchtern fest. „Es  
werde Castings folgen.“  
„Klar.“  
„Wahrscheinlich wird man dich darum bitten, irgendwelche Fragebögen  
auszufüllen.“  
„Klar.“ Ich hebe eine Schulter. „Die brauchen bestimmte Persönlichkeiten,  
also suchen sie sich die.“  
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„Gut möglich, dass man von dir verlangt, im Bikini vor den Produzenten zu  
tanzen.“  
„Wäre nicht das erste Mal.“  
Seufzend schüttelt Lyra den Kopf. „Mach, was du für richtig erachtest. Du bist  
alt genug.“  
„Das klingt nicht, als würdest du dich auch nur ein winziges bisschen für mich  
freuen“, sage ich spitz.  
„Ich bin skeptisch.“ Unruhig fahren Lyras Finger den Buchrücken entlang.  
„Mir ist der Sender nicht bekannt. Was, wenn dort gegen irgendwelche  
Gesetze verstoßen wird und du das einfach so unterzeichnet hast?“  
„Das könnte meine Chance sein, in die Schlagzeilen zu kommen“, sage ich  
aufgeregt. „Das könnte meine Chance für alles sein! Stell es dir vor. Nur für  
einen Moment.“ Flehend setze ich mich neben Lyra auf den Boden. Der Turm  
aus Kissen fängt mich auf, der sich in dieser Zimmerecke befindet. „Stell dir  
vor, dass ich diese Sache gewinne und hunderttausend Dollar mit nach Hause  
nehme. Davon könnte ich mir ein Grundstück kaufen.“  
„Ein kleines“, pflichtet Lyra mir bei.  
„Wenn ich gewinne“, flüstere ich, „dann kennt man mich. Man wird mir bei  
den Dingen, die ich tue, zusehen wollen.“  
„Was würde es dir bringen?“ Tiefe Falten haben sich in Lyras Stirn gegraben.  
„Wohin würde es dich führen?“  
„Nach ganz oben!“, rufe ich aus. „Vielleicht castet man mich als  
Schauspielerin.“  
„Du wärst die, die Antifaltencremes auf den sozialen Medien bewirbt“, sagt  
Lyra trocken.  
„Wahrscheinlich könnte ich aber gut davon leben. Ich müsste nicht in diesen  
langweiligen Arbeitsalltag. Ich müsste mir nicht mehr ansehen, wie die  
wirklich schönen, wirklich begehrenswerten Frauen sich am Strand räkeln. Ich  
könnte eine von ihnen sein.“  
„Und dann?“ Die Falten auf Lyras Stirn vertiefen sich. „Was dann?“  
„Dann habe ich es geschafft“, sage ich schlicht. „Man erkennt mich auf der  
Straße. Ich könnte von der Anerkennung leben. Ich könnte alles sein, was ich  
je wollte!“  
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„Du wolltest Tierärztin werden“, erinnert Lyra mich leise. „Erinnerst du dich?  
Nachdem unser Hund eingeschläfert werden musste? Du hast gesagt, du  
würdest alles dafür tun, dass die Tiere künftig besser behandelt werden.“  
Ich seufze schwer. „Meine Noten waren nicht gut genug“, rufe ich Lyra ins  
Gedächtnis. „Es war nicht so, dass ich mich freiwillig dagegen entschieden  
hätte.“  
„Du hättest Ausbildungen und freiwillige Jahre machen können. Das alles  
hätte man dir angerechnet. Wenn du es wirklich gewollt hättest, wärst du in  
diesen Studiengang reingekommen. Dir haben nur zwei Notenpunkte  
gefehlt.“  
„Es waren zwei zu viel“, sage ich eisig. „Ich habe mich überall beworben.  
Niemand wollte mich haben.“  
„Versuch es noch einmal“, bittet Lyra mich leise. „Was soll das hier? Du  
bewirbst dich für das, worüber du dich früher schlapp gelacht hast. Du hast  
diese Leute belächelt, die sich für die Kamera ausgezogen haben.“  
„Ich werde mich doch nicht ausziehen!“, rufe ich aus. „Weißt du was, ich  
werde die erste wirklich gute Realityshowteilnehmerin sein.“  
„Das will aber niemand sehen“, beharrt sie leise und betrachtet mich  
nachdenklich aus den dunklen Augen. „Jeder möchte irgendeinen Skandal.  
Die Leute wollen lästern, während sie sich besaufen. Sie wollen, dass du ihre  
dreckigsten Fantasien auslebst. Wenn du Pech hast, dann wirst du zu ihren  
schlimmsten Sehnsüchten. Willst du das wirklich?“  
„Ich werde keine Tierärztin werden“, erinnere ich Lyra. „Ich sitze in einem  
beschissenen Wirtschaftsstudium fest, habe jedes Modul hammermäßig  
bestanden und weiß trotzdem nicht, worüber ich meine Arbeit schreiben  
soll.“  
„Nimm einfach irgendwas. Du warst nie so.“  
„Genau das ist das Problem!“, rufe ich aus. „Ich bin dieses langweilige  
Mädchen, das sich alles von außen ansieht. Ich will mehr sein, verstehst du  
das? Ich will da vor der Kamera stehen und ich will, dass man sich an mich  
erinnert.“  
Rau lacht Lyra auf. „Dafür wirst du schon jemanden umbringen müssen. Alles  
andere wurde schon ausgestrahlt.“  
„Ich schaffe das“, beharre ich. „Schau, manchmal schließt sich eine Tür, aber  
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dann öffnet sich die nächste.“  
„Das Leben ist kein Hydrauliksystem.“  
„Ach, komm schon!“ Ich wedle mit dem Flyer. „Komm schon. Versuch einmal  
zu verstehen, was ich sage.“  
„Ich verstehe dich“, beharrt Lyra. „Ich verstehe dich wirklich. „Die Frage ist  
nur, ob du das wirklich möchtest. Wenn die Menschen dich erkennen, dann  
haben wir beide keine Ruhe mehr.“  
„Zieh dich einfach weiter so langweilig an“, sage ich spitz. „Ich fang mit dem  
coolen Zeug an und schon besteht keine Verwechslungsgefahr mehr.“  
„Das coole Zeug ist meistens freizügig.“  
„Dann ist das halt so!“ Ich reiße die Arme in die Luft. „Vielleicht finde ich da  
meine Liebe fürs Leben.“  
„Wie willst du deinen Kindern von eurem Kennenlernen erzählen?“, spottet  
Lyra. „Willst du ihnen zeigen, wie ihr vor laufender Kamera rumgeknutscht  
habt, nachdem ihr alle anderen Kandidaten durch hattet?“  
„Nur, weil ich bei so etwas mitmachen möchte, werde ich nicht automatisch  
zu einer Prostituierten.“  
„Sicher?“  
„Das ist unfair!“ Ich lege den Flyer auf ihr Buch. „Das ist so unglaublich unfair.  
Warum kannst du mir nicht einfach mal vertrauen?“  
„Weil ich nicht sehe, dass du das gut machen wirst.“  
„Nicht?“ Ich will aufspringen und den Raum verlassen, die Tür hinter mir  
knallend wie ein trotziges Kind. „Warum nicht?“  
„Weil du für diese Welt nicht gemacht bist.“ Lyra schüttelt den Kopf. „Mach  
deinen Abschluss. Wenn du danach experimentieren möchtest“, sie hebt eine  
Schulter, „dann tu es! Aber du brauchst für alles, was danach kommt, deinen  
Abschluss und einen festen Job. Niemand kennt diesen Sender. Gut möglich,  
dass sich niemand das ansieht. Ich meine“, Lyra streicht sich eine dunkle  
Strähne aus dem Gesicht, „sie werfen die Bewerbungsmöglichkeiten in  
Briefkästen ein.“  
„Bestimmt denken die meisten wie du. Aber dann wollen sie es doch sehen!“  
„Es gibt mehr skandalöse Formate, als wir zählen können“, beharrt Lyra leise.  
„Ich verstehe nicht, warum du dir das antun möchtest. Die Leute werden dich  
danach in der Luft zerreißen. Egal, wie du dich angestellt hast.“  
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Ich kaue nachdenklich auf der Innenseite meiner Wange herum. „Immerhin  
wüssten sie, dass ich existiere“, flüstere ich. „Klar, Geld ist wichtig und so.  
Aber ich will wirklich nicht in zehn Jahren aufwachen und mich fragen  
müssen, was ich alles in meinem Leben verpasst habe.“  
„Wäre das nicht das geringere Übel? Was ist die Alternative?“  
„Geliebt zu werden“, sage ich prompt.  
„Von wem?“ Lyra lacht rau. „Wir lieben dich. Wir alle. Wen interessiert es,  
was fremde Menschen denken?“  
„Mich“, gestehe ich leise. „Ich will, dass sie mich ansehen und nur mich  
sehen. Nicht mich und dich. Nur mich. Ergibt das einen Sinn für dich?“  
„Einen kleinen“, räumt Lyra leise ein. „Wir wissen beide nicht, was kommt.“  
„Genau.“ Nachdrücklich nicke ich. „Aber ich will mich überraschen lassen. Ich  
möchte mich überwältigen lassen und wenn dieses Format ein Fehler war,  
dann war es halt ein Fehler. Ich werde danach trotzdem klarkommen.“  
Lyras Finger zittern kaum merklich, als sie den Flyer in die Hände nimmt. „Ich  
habe Angst“, sagt sie fest. „Ich habe große Angst davor, dass du in einem  
teuren Appartement lebst, weit weg von hier, und dich mit allen möglichen  
Drogen wegschießt, weil du mit der ganzen Aufmerksamkeit nicht  
klarkommst.“  
„Das wird nicht geschehen“, verspreche ich ihr. „Wir haben doch uns, oder?  
Wenn alles bergab geht, dann komme ich zuerst zu dir. Selbst wenn ich  
irgendeinen fetten Mann mit zwei Kilometern Rückenhaaren von deiner  
Pickelliege schupsen muss.“  
Ein Laut entweicht Lyras Kehle, den ich als widerwilliges Lachen einordne.  
„Du bist ganz furchtbar.“  
„Das hier ist der Wahnsinn“, wiederhole ich und klopfe auf den Flyer.  
„Vielleicht sieht es sich niemand an, aber es wird das Abenteuer meines  
Lebens. Das spüre ich!“  
„Bestimmt.“ Ich glaube Lyras Zweifel mit Händen greifen zu können.  
Seufzend gibt sie mir den Flyer zurück. „Was sagen unsere Eltern dazu?“  
„Ich bin erwachsen“, antworte ich augenrollend. „Sowas werde ich ihnen  
bestimmt nicht auf den Tisch knallen. Da kommt nicht viel bei rum.“  
23  
„Da hast du wohl recht.“ Lyra räuspert sich. „Das soll wirklich nicht wie ein  
Rausschmiss wirken, aber ich muss das Kapitel heute noch durchbekommen.“  
„Es ist Weihnachten“, erinnere ich Lyra.  
„Das verlängert die Abgabefrist nicht.“ Sie schenkt mir ein winziges Lächeln.  
„Falls das alles so klappen sollte, wie du dir das wünschst, dann freue ich  
mich für dich.“  
„Danke.“  
„Keine Ursache.“ Die Falten zwischen ihren Brauen verschwinden nicht, als  
Lyra das Buch wieder aufschlägt. Wahrscheinlich sollte ich es machen wie sie.  
Ich sollte mir irgendein langweiliges Thema greifen, darüber eine noch ödere  
Abhandlung verfassen, mir den Zeugnisschnipsel in die Hände drücken lassen,  
um irgendwo zu versauern. Die folgenden fünfzig Jahre ziehen in einem  
grauen Strudel vor meinen Augen vorbei. Ich würde irgendeine dämliche  
Firma beraten, würde irgendwann versehentlich zwei Kinder bekommen, die  
irgendwo groß ziehen, mich mit meinem halbherzig geliebten Mann streiten  
und mich von ihm scheiden lassen, sobald die Kinder aus dem Haus sind.  
Jeden Abend wird eine neue Flasche wein entkorkt, ich treffe mich mit immer  
den gleichen geistlosen Menschen, reise hin und wieder auf eine öde Insel,  
schieße blumige Urlaubsfotos und schicke sie mit kitschigen  
Bildunterschriften an meine sogenannten Freunde.  
Das wäre es. Dazu würde mich dieser Abschluss verdammen.  
Ich weiß, dass mich genau dieses graue Leben erwarten wird. Irgendwie  
nehme ich es wohl von Anfang an hin und irgendwie ist es wohl auch okay.  
Besser als auf der Straße zu leben zumindest.  
Bevor es aber soweit ist? Will ich einmal etwas Dummes getan haben. Etwas  
wirklich, wirklich Dummes. Ich möchte meinen Kindern von diesem einen  
Abenteuer erzählen, das ich hatte. Wenn ich dafür im Bikini vor ein paar  
Produzenten eine Stange runterrutschen muss?  
Ist das immer noch besser, als mich in den verstaubten Büchern zu  
vergraben, um eine noch verstaubtere Urkunde abzugreifen.  
24  
Stahlgewitter (Amelia)  
Ein vorsichtiges Klopfen lässt mich die Akte schließen. Ich lehne mich in dem  
Stuhl zurück und strecke mich der Länge nach. Es hat wieder zu schneien  
begonnen. In der Kanzlei ist es unwirklich ruhig. Bis zu eben diesem Moment  
war ich fest davon überzeugt, die einzige zu sein, die heute arbeitet.  
„Ja?“  
Marquoire tritt ein, die Nickelbrille schief auf der Nase und ein entstelltes  
Lächeln auf den rissigen Lippen. „Du bist ja auch hier“, stellt er fest.  
„Die Arbeit ruht nie“, sage ich.  
„Ist wohl so.“ Er verschränkt sich räuspernd die Arme vor seiner schmalen  
Brust. Die Jahrzehnte haben sich in seine Züge gefressen und ihm doch nichts  
von seiner jugendlichen Attraktivität geraubt. Die grauen Strähnen stechen  
silbrig zwischen seinen braunen Locken hervor und der Nadelstreifenanzug  
gibt ihm den Schliff des angesehenen Anwalts. „Bei mir kracht es im Haus.“  
„Es ist Weihnachten“, sage ich matt lächelnd. „Ihr solltet über eure  
Streitigkeiten sprechen.“ Zumindest wartet man auf ihn, wenn er die  
Schwelle übertritt.  
„Ich wüsste nicht, was es da noch zu sprechen gäbe.“ Ungefragt setzt er sich  
auf den ergonomischen, schwarzen Stuhl vor meinem Schreibtisch und faltet  
die Hände. „Die Gans ist nicht rund genug, der Kohl ist nicht rot genug. Es  
wird von Jahr zu Jahr schlimmer.“  
„Was genau?“  
„Die Wahnhaftigkeit meiner Frau“, schnauft Marquoire. „Sie sollte  
Medikamente gegen die Dinge nehmen, die sie sieht. Stattdessen schnupft  
sie Baldriantabletten wie Koks.“  
Seufzend male ich mit dem stumpfen Ende des Stifts Kreise auf die Akte. „Das  
klingt ärgerlich.“  
„Ich staune, dass du hier bist“, sagt Marquoire. „Wollte deine Familie nicht  
vorbeikommen?“  
„Sie haben es nicht geschafft.“ Mich räuspernd ziehe ich den dubiosen Flyer  
aus der Innentasche meines Mantels. „Das lag gestern in meinem  
Briefkasten.“  
25  
Marquoire wirft nur einen kurzen Blick darauf. „Mein Sohn will da unbedingt  
hin.“  
„Diese ganze Sache wirkt auf mich höchst fragwürdig.“  
„Ach, das ist einfach Schwachsinn. Da versucht ein Halsabschneider mit  
hoffnungsfrohen Seelen ein bisschen Geld zu scheffeln. Das wird niemand  
ausstrahlen und selbst wenn, dann würde sich niemand den Kram ansehen.“  
„Mich beunruhigt, dass diese Flyer einfach eingeworfen werden dürfen.“  
„Ist auch nur Werbung“, stellt Marquoire fest. „Zu Weihnachten erinnert man  
sich daran, was alles falsch ist, und versucht das Leben zu ändern. Um ein  
paar Dumme zu angeln? Bestimmt eine gute Sache.“  
„Eine gute Sache?“, frage ich skeptisch. „Mir liegt einiges daran, dieses  
Unternehmen zu überprüfen.“  
„Verschwende deine Zeit nicht“, sagt Marquoire. „Die sind dich nicht wert.  
Irgendwer Drittklassiges wird sich darum kümmern.“ Marquoire faltet die  
Hände über seinem kleinen Bäuchlein. „Wie geht es dem Gewölbefall?“  
„Mäßig.“ Ich schlage die Mappe auf und schiebe sie zu ihm. „Alle Hinweise  
richten sich gegen unseren Klienten.“  
„Soll ich einige davon verschwinden lassen?“  
„Noch nicht.“ Mich räuspernd greife ich nach meinem Tee. „Aktuell wäre das  
zu auffällig. Wir brauchen gute Zeugen.“  
„Ich kenne einige, die für Geld so ziemlich alles sagen würden.“  
„Auch glaubwürdig?“  
„Die bestehen jeden Test“, bekräftigt Marquoire.  
„Wir brauchen mehr als nur zwei, drei von ihnen. Die Beweislage ist  
erdrückend. Ich weigere mich, ihr nachzugeben, aber wir benötigen  
unsererseits Hinweise darauf, dass man die Lage womöglich zum Nachteil  
unseres Klienten verändert hat.“  
„Weißt du, wer die nächste Sitzung führen wird?“  
„Natürlich.“ Ich greife unter meinen Schreibtisch und ziehe die vierte Akte  
von unten hervor. „Jefferson Pel. Eine blütenweiße Weste.“  
Ein gefährliches Grinsen tritt auf Marquoires Gesicht. „Du weißt doch, was  
man sagt.“  
„In diesem konkreten Fall bin ich ratlos.“  
„Der Kokainbaron hat die weißeste Weste.“  
26  
Ich setze mich aufrechter hin und nippe an meinem Tee. Der bittere  
Hagebuttengeschmack legt sich drückend auf meine Zunge. „Was schwebt dir  
vor?“  
„Dass unsere Jungs ihm die ein oder andere Sache unterjubeln“, sagt  
Marquoire. „Sobald wir mit der Sache durch sind, sobald wir unseren Klienten  
aus dem Ding rausgeboxt haben, kommen sie alle zu uns. Wir könnten uns  
vor Geld nicht mehr retten.“  
„Das ist bereit der Fall.“  
„Sie würden uns noch mehr bringen“, sagt Marquoire mit glitzernden Augen.  
„Wir könnten uns das Besteck aus Diamanten anfertigen lassen, verstehst  
du? Wenn wir das Ding gewinnen, gewinnen wir alles.“  
Ich schließe die Augen. „Wie entkräften wir das Bildmaterial?“, frage ich ihn  
rau. „Wir haben aus mehreren Perspektiven in Ton und Bild den Mordraub  
aufgezeichnet. Die Waffe liegt vor, die Fingerabdrücke stimmen überein.“  
„Wir bringen einen weiteren Mann und eine neue Waffe ins Spiel. Wurde das  
Material bereits vorgespielt?“  
„Nein.“  
„Das wäre der perfekte Zeitpunkt, es geringfügig zu verändern.“  
„Wir schneiden den anderen Mann hinein“, sage ich.  
„Genau.“ Marquoire grinst. „Das wird ein Riesengeschäft. Entweder wir  
gewinnen oder wir verlieren alles.“  
„Ich verlange, dass wir diesen Fall außerhalb dieses Raums verurteilen und  
uns unseren Kollegen gegenüber weiterhin skeptisch verhalten.“  
„Natürlich.“ Marquoire kichert dunkel. „Wir sind nur Pflichtverteidiger.“  
„Genau.“ Ich nicke knapp. „Wir benötigen ein Dutzend Zeugen. Wir sollten  
unseren Klienten verheiraten und diese Eheschließung bezeugen lassen.“  
„Kein Problem. Ich beschaffe dir die Unterlagen bis morgen.“  
„Die erste Anhörung soll für das neue Jahr angesetzt werden“, sage ich. „Gut  
möglich, dass man sie spontan vorverlegt.“  
„In zwei Tagen sind wir vollständig gerüstet.“  
„Gutachter werden anwesend sein“, sage ich.  
„Natürlich werden sie das.“ Marquoire winkt ab. „Das sind sie immer. Die  
Jungs, die ich kenne, wickeln die um den kleinen Finger.“  
27  
„Darauf baue ich.“ Mich räuspernd fahre ich die dünne Mine des Stifts aus  
und zeichne einen kleinen Kreis auf den Flyer. „Sollte zum Zeitpunkt der  
Anhörung nur der geringste Zweifel an unserem Erfolg bestehen, lassen wir  
den Klienten fallen.“  
„Natürlich tun wir das.“ Schwer seufzend steht Marquoire auf. „Langsam  
besorgt es mich, wie viel lieber ich meine Zeit mit dir verbringe.“  
„Wir arbeiten auf der gleichen Ebene“, sage ich schlicht.  
„Das tun wir.“ Langsam nickt er. „Das tun wir wohl.“  
Ich lasse die Akte des Richters auf dem Stapel verschwinden und ziehe die  
andere zurück zu mir. Eine erdrückende Beweislast. Bildmaterial, die  
Tatwaffe, zahlreiche Zeugen. Es braucht einen winzigen, unrealistischen  
Zweifel, gesät von Marquoires besten Männern.  
„Ich lade dich auf einen Kaffee ein“, sagt er unvermittelt.  
„Auf mich wartet Arbeit.“ Schmal lächle ich ihn an. „Wir sollten unseren  
Aufgaben nachkommen, solange wir können.“  
Er verharrt neben seinem Stuhl, den Nadelstreifenanzug makellos gebügelt  
und die Mundwinkel mechanisch gehoben. „Ich bewundere deinen  
Werdegang, Amelia. Als du hier angekommen bist, hätte ich nicht erwartet,  
dich so bald auf diesem Stuhl zu sehen.“  
„Ich bin nur eine bedeutungslose Pflichtverteidigerin“, sage ich nüchtern. „Ich  
tue, was ich tun muss. Um der Gerechtigkeit Willen.“  
„Bring mehr von den Jungs hinter Gitter.“ Marquoires Lächeln wird breiter.  
„Sie haben es alle verdient.“  
Leise klickt das Schloss, als er die Tür hinter sich schließt. Schnee fegt über  
die Welt hinweg und schluckt die schneidenden Geräusche. Einen Raubmord  
zu vertuschen, ist ein schweres Vergehen. Ein Meineid ebenso. Was habe ich  
zu verlieren?  
Mein Haus.  
Mein Ansehen.  
Meine Zukunft.  
Wie von selbst huscht mein Blick zurück zu dem Flyer. Sobald wir diesen  
Mann vor dem Gefängnis bewahrt haben, werden Clanstrukturen uns den  
Rücken freihalten. Dieser Kanzlei würden unter meiner Führung völlig neue  
Türen geöffnet werden.  
28  
Irgendwer verteidigt die Fragwürdigen immer. Es wäre dumm, diese  
Angelegenheit einem Fremden zu überlassen. Das Geld fließt zu dem, der  
dem Teufel am nächsten ist.  
Ich spiele die kurzen Videoausschnitte auf meinem Handy ab. Beobachte, wie  
die kurze Klinge durch den Körper des Museumswärters fährt, siebzehn Mal,  
bis er in seinem eigenen Blut badet. Der Diamantschmuck ist verschwunden,  
glücklicherweise außerhalb der Kamerareichweite. Mein Klient hielt sich zum  
Zeitpunkt des Diebstahls als Sündenbock am anderen Ende des Gewölbes auf.  
Er tötete einen Mann. Kurz darauf schlug er die Vitrine neben sich ein. Kein  
Alarm schrillte. Den Inhalt ließ er unangetastet zurück. Man wird ihm  
vorwerfen, getestet zu haben, ob die Systeme außer Kraft gesetzt wurden.  
Vor Gericht ging es nie um die Wahrheit. Die angenehmere Lüge steht im  
Fokus. Die schlüssigere, seichte Geschichte. Nachdenklich drehe ich mein  
Handy um. Die Szene steht auf dem Kopf, wechselt den Winkel mit jeder  
neuen Aufnahme, und bleibt doch immer gleich. Auf zweien von ihnen wirkt  
es, als würde mein Klient hinken. Verlangsamen wir das Material kaum  
merklich, wird dieses Defizit offensichtlich werden. Der gegnerische  
Hauptzeuge erlitt als junger Mann einen Unterschenkelbruch. Die Akten  
spielen uns in die Hände. Diese Verletzung wurde nie angemessen versorgt.  
Er hinkt noch immer. Nur wenige Details müssten verzerrt werden und das  
Videomaterial, das vor Gericht abgespielt wird, belastet nicht länger meinen  
Klienten.  
Wir könnten diesen Komplott binnen einer Sitzung pulverisieren. Es ist nur  
eine Frage der Sorgfalt. Und der Zeugen.  
Unruhig klopfe ich mit der Mine des Kugelschreibers auf den Flyer. Der  
Schnee stiebt in tanzenden Kristallen gegen das weite Fenster. Er kleidet eine  
Welt in Unschuld, die das Verbrechen nähert und den guten Willen begräbt.  
Es ist lange dunkel, als ich den Heimweg antrete. Die Schaufenster strahlen  
im Weihnachtsglanz. Vereinzelte Passanten flanieren durch die Straßen,  
gekleidet in dicke Jacken und farbenfrohe Schals und Mützen. Schmale,  
parallel zueinander verlaufende Spuren im Schnee erzählen Geschichten von  
Schlittenfahrten, während ich abbiege. Halb erwarte ich den wütenden,  
jungen Mann noch immer vor meinem Gartentor zu sehen. Kurz halte ich  
29  
inne, um meinen Briefkasten zu begutachten. Unbeschädigt. Seufzend  
berühre ich das kalte Metall des Zauns und öffne ihn. Leise quietscht er in  
den Angeln. Das einsame Eichhörnchen leuchtet mit aller Kraft. Schnee steht  
ihm bis zum Hals. Bis zu den Waden versinke ich in der ungeräumten Kälte,  
während ich die wenigen Meter zu meinem Haus zurücklege. Finsternis  
erwartet mich. Eine sanfte Wärme, die nie genügen könnte, um das Eis aus  
meinem Mark zu vertreiben. Ich trete mir die Schuhe von den Füßen, ziehe  
die klammen Socken aus und hänge den Mantel an den dafür vorgesehenen  
Haken. Über die Feiertage putzt mir niemand die Dielen.  
Meine Haushälterin sitzt in ihrem eigenen Wohnzimmer, ein Kind im Arm,  
das nächste auf dem Schoß, und lässt sich von der warmen, molligen,  
familiären Atmosphäre wiegen.  
Ich öffne den Kühlschrank. Geschmierte Sandwiches und ein weiterer  
Pudding. Ich bin satt. Blutverschmierte Bilder haben sich in mein Gedächtnis  
gebrannt. Die kreischend rote Schrift des Flyers hat sich darübergelegt.  
Seltsam weiß fließt das Leuchten des Kühlschranks in den dunklen Raum und  
versucht, die Finsternis zu vertreiben. Eine angefangene Milchflasche wartet  
darauf, geleert zu werden. Ich verspüre keinen Durst. Mein Magen hat sich zu  
einem betäubenden Knoten verkrampft und ich kämpfe gegen den Impuls an,  
den Tee zu erbrechen.  
Sobald mein Klient frei ist, wird er sich für die nächste Aktion dieser Art  
engagieren. Er macht aus seinen Absichten kein Hehl. Wer bin ich, einen  
Mörder von seiner gerechten Strafe zu entfernen?  
Strafverteidigerin. Pflichtverteidigerin. Gut genug, um jeden von seinem  
Thron zu stoßen und seine Aufgaben an mich zu nehmen.  
Sobald mein Klient auf freiem Fuß ist, wird der nächste Raubmord auf seiner  
Liste stehen. Ich werde auch beim nächsten Mal die Fakten verdrehen. Ich  
werde an ihm verdienen, mir ein weiteres Haus leisten können, weitere  
Mitarbeiter wie Marquoire, die aus jeder Unmöglichkeit eine Möglichkeit  
zaubern.  
Mein Haus bleibt kalt. Der Erfolg hat mir Welten versprochen, die er nicht  
halten kann. Kein leuchtender Baum steht in diesem Raum. Es ist gut so. Es  
war immer so.  
Man tut, was man tun kann. Ich tue, was ich tun muss.  
30  
Schweigend sitze ich an meinem Tisch, dieses Gesteck vor mir, dessen Kerzen  
ich nie angezündet habe. Es ist dunkelhier. Ich sollte essen. Ich sollte  
duschen. Ich sollte schlafen.  
Die Stille erdrückt mich. Meine Füße entlocken den Dielen ein Knarzen, als ich  
in Richtung des Radios gehe und es aufdrehe. Weihnachtslieder. Auf dem  
Rückweg greife ich nach einem Kugelschreiber. Zurück am Tisch ziehe ich den  
Fragebogen hervor und mache mich daran, ihn auszufüllen.  
Diesen Clou überlasse ich den Besten. Gewinnt Marquoire, wird er zu  
meinem Juniorpartner. Verliert er, habe ich mich nie zu diesen  
Geschehnissen geäußert. Er treibt ein gefährliches Spiel. Lasse ich mich gern  
auf Risiken ein, glaube ich das Scheitern bereits riechen zu können.  
Schwungvoll setze ich meine Unterschrift und lege den Bogen in den  
Rücksendeumschlag. Klebe ihn zu. Lehne mich schweigend in meinem Stuhl  
zurück und starre an die Decke.  
Wenn ich niemals einen Prozess für einen pädophilen Vergewaltiger  
gewonnen hätte, wo wäre ich heute?  
Matt fließt das gelbe Licht des Eichhörnchens durch die Fenster in den Raum.  
Es ist spät. Ich sollte zur Ruhe kommen.  
Die Arbeit schläft nie.  
Ich bin unruhig. Anstatt einen Anruf zu tätigen, der jederzeit nachverfolgt  
werden könnte, werfe ich mir meinen Mantel über die Schultern und  
schlüpfe zurück in meine Stiefel. Sie werden den Prozess so bald wie möglich  
beginnen. Marquoise läuft die Zeit davon.  
Verliert er, muss meine Weste weißer sein als die eines Drogenbarons.  
31  
Erloschene Kerzen (Ladislav)  
Der Fernseher der Crackoma plärrt aus vollem Halse. Stöhnend vergrabe ich  
das Gesicht in meinem Kissen. Mitten in der Nacht. Man sollte sie zurück vor  
die Tür zerren, damit ich pennen kann. Für mich bleibt eh kein Strom übrig.  
Hier ist es saudunkel und die paar Kerzen, die ich hatte, sind lang  
ausgebrannt. Man sollte sie erschießen. Dafür, dass sie mir für die versiffte  
Matratze und den stinkenden Raum täglich fünf Dollar aus der Tasche zieht.  
Alles besser als die nächste Brücke.  
Einen Scheiß.  
Einen gottverdammten Scheiß.  
Fluchend setze ich mich auf und greife nach meiner Jacke. Selbst an der  
Hauptstraße ist es ruhiger als hier. Ich schlage die Tür geräuschvoll hinter mir  
zu.  
Schnee. Er reicht mir bis zu den Waden. Wenn jeder sich den Bauch  
vollstopft, selbst der Kerl, der nichts zu tun hat, als die verdammten Wege zu  
räumen. Die dicken Flocken stieben vom Himmel, während ich ins Nirgendwo  
stapfe. Irgendwohin. Irgendwohin, wo ich nicht daran denken muss, wie  
gnadenlos und endgültig ich gescheitert bin. Reklametafeln leuchten in der  
Nacht. Ich will jede einzelne von ihnen niederreißen. Die Männer, die diese  
Unternehmen gegründet haben, die haben es geschafft. Die sitzen in ihrer  
warmen Wohnung mit ihrer scheinheiligen Familie und trinken den feinen  
Wein, der genauso widerwärtig schmeckt wie das Zeug aus dem Tetrapack.  
Jeder einzelne Mann, dessen Initialen oder Ideen die Stadt erleuchten, war  
clever genug, sich nicht auf eine wasserstoffblonde Agentin zu verlassen, die  
ihren Job so sehr hasst wie ich mein erbärmliches Leben.  
Mir ist arschkalt. Der Winter gräbt seine Zähne in jeden Zentimeter meiner  
Haut. Wahrscheinlich sollte ich mich hier einfach hinsetzen und erfrieren. Die  
Jacke wärmt seit Jahren nicht mehr. Sie wurde seit Jahren nicht gewaschen,  
sie gehört seit Jahren in einen dieser überquellenden, stinkenden Mülleimer  
am Straßenrand. Grauer Schlamm klebt am Bordstein. Wenn ich mich da  
hinlege, würde der Penner hinter dem Steuer mich erst bemerken, wenn  
mein Blut ihm die Felgen verklebt.  
32  
Während ich mir selbst die Kugel geben will, aber zu pleite bin, um mir eine  
zuzugeben, wächst in mir das Gefühl, beobachtet zu werden. Schnaufend  
sehe ich auf.  
Die Nacht wirkt durch den Schnee gedimmt. Auf der anderen Seite der Straße  
steht eine schmale Gestalt und beobachtet mich. Im goldgelben Kegel der  
Laterne fließen ihr rote Locken aus der Kapuze hervor. Meine Lippen  
verziehen sich zu einem bitteren Lächeln.  
Kann das arme, reiche Mädchen kein Auge zu tun?  
„Solltest du dir nicht den Hals mit einem teuren Gänsebraten stopfen?“,  
brülle ich zu ihr hinüber. Sie rührt sich nicht. Abfällig verziehe ich den Mund.  
Ist sie taub? „Ich rede mit dir.“  
Keine Reaktion. Augenrollend werfe ich einen kurzen Blick nach links, einen  
kurzen Blick nach rechts, dann überquere ich die Straße. Männer wie ich  
haben an Tagen wie diesen nichts besseres zu tun. Haben nie was besseres zu  
tun. Weil sie der Abfall sind, der durch das Netz gefallen ist.  
Stocksteif steht sie unter dieser Straßenlaterne, die Hände tief in den  
Taschen ihres dunklen Mantels vergraben, und die Nase rot vor Kälte. Sie ist  
hübsch. Natürlich ist sie hübsch. Ihre Eltern verdienen ein Vermögen.  
Wahrscheinlich wäre sie die schönste Frau der Welt, wenn sie als  
Vogelscheuche geboren worden wäre. Die plastische Chirurgie macht den  
Menschen. Ich habe mir nie was gespritzt, ich bekomme keinen Job. So  
einfach ist das. Sie? Würde man wahrscheinlich in jeden Werbespot  
schneiden und sich wahnsinnig einzigartig damit fühlen.  
„Bist du taub oder was?“, frage ich sie, als ich direkt vor ihr stehe. Die blauen  
Augen zucken. „Wer bist du, dass du mich ignorierst?“  
„Ich bin auf dem Weg zu einem Freund“, sagt sie gelassen. Ihre Stimme klingt  
melodisch und abweisend genug, damit ich mich von ihr geohrfeigt fühle.  
„Dann solltest du wohl schneller gehen. Man weiß nie, welche Menschen sich  
des Nachts auf den Straßen herumtreiben.“  
Ein bitteres Lächeln verzieht ihre Lippen. „Doch.“ Heiser lacht sie auf. „Ich  
verteidige diese Menschen.“  
„Verarsch mich nicht. Du sitzt in deinem Zimmer und lackierst dir die Nägel.“  
Irgendetwas an ihrem Blick lässt mich den nächsten spitzen Kommentar  
hinunterschlucken. „Solltest du nicht zu Hause sein?“, wiederhole ich.  
33  
„Ich bin auf dem Weg zu einem Freund.“  
„Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört. Kann dein Typ nicht zu dir  
kommen?“  
„Nein.“  
„Mag dein Sugardaddy ihn nicht oder wie?“  
Sie hebt eine Braue. „Es ist spät“, sagt sie schließlich.  
„Früh.“ Ich werfe einen knappen Blick in Richtung der weiß beleuchteten Uhr.  
Kurz vor zwei in der Nacht.  
„Wir sollten wohl alle schlafen gehen.“  
„Ich dachte, du willst zu einem Freund.“ Lieber unterhalte ich mich mit einer  
wildfremden Frau im tiefsten Winter, als mir weiter das Schmierentheater  
anhören zu müssen, das aus den Boxen der Crackoma fließt.  
„Ja.“  
„Dann geh doch.“  
Sie rührt sich nicht. Schließlich legt sie sacht den Kopf schief. „Du hast gegen  
meinen Briefkasten getreten.“  
„Tu nicht so, als könnte dein Daddy sich keinen neuen leisten?“  
„Es ist mein Briefkasten“, wiederholt sie resolut. „In einem Stück ist er mir am  
liebsten.“  
„Der hat keinen Kratzer“, schnaufe ich. Der nächste Hohn dieses grausamen  
Tages, der einfach nicht zu Ende gehen will. „Verfolgst du mich deswegen?“  
„Ich verfolge dich nicht.“  
„Klar doch.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Deswegen sehen wir  
uns heute schon zum zweiten Mal.“  
„Du hast gegen meinen Briefkasten getreten.“  
„Jetzt aber wohl nicht.“  
„Ja.“  
„Also?“ Ich hebe die Schultern. Meine Muskeln zittern unkontrolliert. Die  
Wärme lässt weiter auf sich warten. „Was machst du hier?“  
„Ich gehe.“  
„Du stehst, Sugar.“  
„Aktuell. Ja.“  
„Du hast mich angestarrt“, sage ich mit einem schiefen Grinsen. „Du  
bekommst wohl nicht genug von diesem Anblick.“  
34  
„Darf ich dir eine Frage stellen?“, fragt sie mich unvermittelt.  
Ungläubig lache ich auf. „Frag doch, was du willst.“  
„Wenn du einen Raubmörder verteidigen solltest, was würdest du tun, um  
den Prozess zu gewinnen?“  
Ich sehe sie skeptisch an. „Raubmörder?“, hake ich schließlich nach. „Wie in  
der Art Mensch, der einen anderen Menschen ausraubt und dann umbringt.“  
„Ja. Ungefähr.“  
„Ich würde mich besaufen und dem Richter vorführen, wie absolut  
unverlässlich mein Wort ist.“ Ich kann sie nur anstarren. „Solche Männer  
sollte man in ein tiefes Loch stoßen und den Schlüssel wegwerfen.“  
„Sie zahlen gut.“  
„Und? Wen juckt das?“  
Schweigend betrachtet sie die Straße. Vereinzelte Autos wirbeln grauen  
Schlamm auf und schleudern ihn gegen den Bordstein.  
„Manche Menschen sind Dreck“, sage ich. „Vergeude deine Zeit nicht damit,  
denen zu helfen, und sperr sie ein. Die haben nichts anderes verdient!“  
„Ich bin eine der besten Verteidigerinnen der Welt.“ Der größte Flex der  
Geschichte. Da steht ein kleines Mädchen und knallt diese Hausnummer auf  
den Tisch. Warum klingt sie nicht zufrieden, sondern so, als würde sie sich  
dafür am liebsten selbst ohrfeigen. „Weißt du, wie ich mir einen Namen  
gemacht habe?“  
Wahrscheinlich eher eine unnötige rhetorische Frage. „Sehe ich so aus, als  
würde ich die Rechtsverdrehermagazine lesen? Ich habe nicht mal Geld für  
eine Wohnung.“  
„Ich habe einen Vergewaltiger verteidigt“, sagt sie leise. Ihr Flüstern klingt  
gepresst und wird durch den Schnee weiter gedämpft. Gut möglich, dass ich  
sie missverstehe. „Wir hatten Bildmaterial vorliegen, das zeigte, wie er ein  
minderjähriges Mädchen vergewaltigte. Sie haben diese Videos wieder und  
wieder abgespielt und ich habe diese eine Lücke gefunden, die es brauchte,  
um zu gewinnen. Inzwischen sitzt er, aber nur, weil ich ihn kein zweites Mal  
verteidigt habe und mein Nachfolger nicht gut genug war.“  
„Hat man wohl neue Beweise gefunden“, sage ich.  
35  
„Nein.“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Nach diesem Mädchen hat  
er mindestens vier weitere Kinder angerührt. Weil ich ihn aus der Sache  
rausgeholt habe.“  
Ich lache harsch auf. „Was erzählst du mir hier?“  
„Ich wüsste nicht, mit wem ich sonst darüber sprechen sollte.“  
„Erzähl es deinem Daddy. Der ist bestimmt furchtbar stolz auf dich. Ihr  
Reichen, ihr schneidet euer Geld doch auch aus dem Körper einer  
schwangeren Frau raus und lasst das Kind sterben. Hauptsache Kohle.“  
„Meine Familie spricht nicht mehr mit mir.“ Sie meidet meinen Blick. „Ich  
könnte dafür sorgen, dass dieser Raubmörder freigesprochen wird. In  
wenigen Stunden werden mir alle Mittel zur Verfügung stehen.“  
Ich kenne diese junge Frau nicht. Aber sie widert mich an. „Hör auf zu heulen  
und stopf dir den Hals mit Geld. Das machst du am Ende des Tages doch eh.  
Wenn das, was du mir gesagt hast, stimmt, dann küsst du dem Mörder  
morgen die Füße.“  
„Du würdest ihn nicht freisprechen lassen“, stellt sie fest.  
Ich starre sie an, als wäre sie irgendeine Art von Alien. Vielleicht ist sie das  
sogar. Ein schräger Alien, der mir in einem Rausch erscheint, für den mir die  
Kohle fehlt. „Natürlich würde ich ihn nicht freisprechen lassen! Einmal  
Mörder, immer Mörder. Die werden nicht einfach sofort zu netten,  
geläuterten Männern.“  
„Kennst du dich damit aus?“  
„Ich schau mir schlechte Polizeiserien an. Solltest du vielleicht auch tun.“  
Der Schnee fällt dichter. „Ist das dein Ernst?“, frage ich schließlich. „Du bist  
Verteidigerin und spielst mit dem Gedanken, so jemanden frei zu boxen?“  
„Ich werde den Fall meinem Partner übergeben“, sagt sie fest.  
„Und das macht es besser oder wie? Lässt er den Typen dann fallen?“  
„Jeder hat ein Recht auf einen Anwalt“, sagt sie.  
„Gut.“ Ich hebe die Schultern. „Dann gib ihm einen beschissenen Anwalt.  
Keiner sagt, dass der Anwalt gut genug sein muss, um ein Verbrechen zu  
vertuschen.“  
„Ich würde es nicht vertuschen.“ Sie löst den Blick von der Straße und sieht  
mir direkt in die Augen. Mich überkommt ein seltsames Gefühl. Ein  
unheimliches. Als würde sie beichten und ich müsste parat stehen für ihr  
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Geständnis. „Ich würde es dem besten Zeugen anhängen, den die  
gegnerische Seite hat.“  
Ich halte meine Kinnlade davon ab, hinunterzufallen. „Mir war ja klar, dass  
reiche Leute beschissen sind. Aber dass sie so skrupellos sind?“  
Kopfschüttelnd sehe ich auf die Straße. „Kein Wunder, dass niemand mit dir  
Zeit verbringen will.“  
Sie bestreitet das nicht.  
„Keine Ahnung“, sage ich schließlich, „aber solltest du so ein Zeug nicht lieber  
für dich behalten? Ich könnte zur Polizei rennen und dich verpfeifen.“  
„Niemand würde dir glauben.“  
„Natürlich würde man mir glauben!“  
Sie sieht mich an. Lange. Während die Sekunden sich zu zähen Minuten  
dehnen, werde ich mir meiner ranzigen Kleidung überbewusst. Dem tiefen  
Riss in der Jacke, den ausgetretenen, löchrigen Schuhen. „Ach, verpisst dich  
einfach“, murmle ich.  
„Ich habe Angst“, sagt sie unvermittelt. Ihre Stimme klingt seltsam. Fast als  
würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.  
„Warum?“ Ich lache auf. „Sorgen, dass dich demnächst jemand absticht?“  
„Ich habe Angst, die falsche Entscheidung zu treffen.“  
Ungläubig betrachte ich sie. „Sugar, du hast mir vor zwei Minuten erzählt,  
dass du deine Karriere begonnen hast, indem du einen Serienvergewaltiger  
vor dem Gefängnis bewahrt hast. Du hast alle beschissenen Entscheidungen  
getroffen, die man treffen konnte.“  
„Er wurde eingesperrt.“  
„Aber nicht deinetwegen!“  
Ihr Schweigen ist quälender als das meiner Agentin. „Wie heißt du?“, fragt sie  
mich schließlich.  
„Geht dich einen Dreck an.“  
Langsam nickt sie. „Du hast Recht.“ Sie macht einen Schritt zurück. „Wir  
sollten wohl beide nach Hause gehen.“  
„Genau.“ Ich rolle die Augen. „Geld scheffeln.“  
„Das wäre falsch“, flüstert sie.  
„Ach, dein neues Caprio macht das schon wieder wett.“  
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Sie wird tödlich still. Kopfschüttelnd vergrabe ich ebenfalls die Hände in  
meinen Taschen. Mein Zeigefinger streift meine Hüfte. Alles hieran hat ein  
Loch. Die Jacke ist ein einziger Fetzen, der von guter Hoffnung  
zusammengehalten wird.  
„Viel Erfolg beim Verbrecher retten“, sage ich. Wenn ich länger hier stehen  
bleibe, erfriere ich.  
Sie antwortet mir nicht. Während ich verschwinde, bleibt sie im Lichtkegel  
zurück und starrt auf die Straße. Fast als würde sie ähnlich wie ich darüber  
nachrätseln, wie lange es wohl dauert, bis ein gnädiger Reifen sie überrollt  
und ihre Gedärme über die Frontscheibe spritzen lässt. Die roten Locken  
schimmern golden, während der Wind sie unter der Kapuze hervorlockt. Ich  
will ihr kein Wort glauben.  
Aus irgendeinem dämlichen Grund sehe ich regelmäßig zu ihr zurück.  
Warum sollte jemand diese Lügengeschichten erzählen? Die Hände hat sie  
tief in den Taschen ihres warmen Mantels vergraben, den Kopf leicht  
gesenkt. Sie verhält sich nicht, als müsse sie ankommen. Eher als wäre sie  
längst dort, wo sie hingehört.  
Menschen wie die leben in einer großen Villa und müssen sich um nichts  
sorgen. War klar. Irgendwie war das klar. Wenn der Schneepalast am Ende  
der Straße wirklich ihr gehört, dann muss sie das skrupelloseste Miststück  
sein, das mir je begegnet ist.  
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Neues Jahr, neues Glück (Kyra)  
„Ihr Name?“ Die Frau mittleren Alters mit der putzigen Zahnlücke zwischen  
den vorderen Schneidezähnen lächelt mich verbindlich an.  
„Kyra Lindner“, sage ich und halte ihr stolz die Kopie meines  
Anmeldeformulars entgegen. „Falls sie die Zettel verlegt haben, habe ich den  
extra noch einmal dabei.“  
„Ich habe alles hier. Danke sehr.“  
Achselzuckend lasse ich den Bogen zurück in meinen Rucksack gleiten. „Gut.  
Was kommt als nächstes?“  
„Bitte begeben Sie sich in den angrenzenden Warteraum links von hier.“ Ihre  
Mimik auf unheimliche Weise noch immer nicht verändernd, deutet sie auf  
den Korridor. Steriles Licht erhellt den Linoleumboden. Ich verziehe das  
Gesicht. Wie im Krankenhaus. Irgendwie habe ich mir diese Castingsache zu  
jeder Zeit deutlich glamouröser und aufregender vorgestellt und weniger wie  
einen Zahnarzttermin.  
„Cool. Toll.“ Ratlos hebe ich eine Schulter. „Dann warte ich da wohl.“  
„Ja.“  
„Haben Sie was zu trinken?“  
„Im Warteraum“, antwortet die Frau süßlich und offenbart ein weiteres Mal  
ihre niedliche Zahnlücke. „Würden Sie sich bitte dorthin begeben?“  
„Klar.“ Ich schultere meinen Rucksack und gehe an ihr vorbei, hinein in den  
mit quietschendem Linoleum ausgelegten Flur. Aus dem ersten Raum links  
höre ich ein aufgeregtes Stimmengewirr. Mein Magen flattert und droht,  
seinen Inhalt übereilt in meinen Darm zu entleeren. Ich sollte mich dringend  
setzen und tief durchatmen. Ich meine, das hier ist nur ein dämliches Casting  
für eine dämliche Show. Hiervon hängt nichts ab. Das schlimmste, was mir  
passieren kann, ist, dass ich bis nächste Woche meine Bachelorarbeit  
anmelden muss.  
Tief den chemischen Geruch des Bodenbelags einatmend, straffe ich die  
Schultern und spaziere grinsend in das Wartezimmer.  
Mehr Interessenten als Stühle. Meine Güte. Was tue ich hier überhaupt!  
39  
„Hi!“ Grinsend winke ich in die Runde. Keines der Gespräche reißt ab. Ein  
desinteressiert wirkender junger, verdammt heißer Mann in einer erbärmlich  
zerrissenen Jacke sieht für einen Sekundenbruchteil auf. Er sitzt achtlos  
neben der Tür, die Beine übereinandergeschlagen, keinen Stuhl unter sich,  
sondern lediglich den rauen, billigen Teppichbelag.  
Ich betrachte seine flüchtige Aufmerksamkeit als kulante Einladung. „Kyra“,  
stelle ich mich grinsend vor und lasse mich neben ihn plumpsen.  
„Wahrscheinlich sieht man es mir an, aber das hier ist mein erstes Casting  
und ich fühle mich, als hätte man mir einen Pürierstab in die Gedärme  
gesteckt und auf Turbo gestellt.“  
„Dann wärst du jetzt tot“, sagt er nüchtern.  
Augenrollend ziehe ich mir meinen Rucksack auf die Beine. „Sinnbildlich  
gesprochen.“  
„Dann wärst du sinnbildlich gesprochen jetzt tot.“  
Wahrscheinlich ist diese Castingwelt auch einfach nichts für mich. Die Leute  
hier verstehen weniger Spaß als eine Nacktschnecke, die in Salzsäure fällt.  
„Und?“, frage ich ratlos, als das Schweigen sich dehnt, „was machst du so?“  
„Ich sitze.“  
„Oh, cool.“ Nickend wippe ich vor uns zurück. „Ich auch. Ich auch.“  
„Ja.“  
„Cool! Cool, cool, cool.“  
„Ja.“  
„Und sonst so?“ Ich räuspere mich. „Bist du Schauspieler?“ Der junge Mann  
stinkt nicht genug, um auf der Straße zu leben.  
„Nein.“  
„Model?“, rate ich weiter ins Blaue. Nicht, dass ich je eine Anzeige mit  
seinem Gesicht gesehen hätte.  
Abwehrend dreht er sich zu mir. Die blauen Augen blitzen gefährlich und das  
braune Haar fällt ihm in die Stirn. Wer auch immer ihn für seine Show  
ausschlägt, ist selbst schuld. Der Typ ist der Wahnsinn. Sie wollen einen  
heißen, schwer zu habenden Kerl haben? Hier sitzt er und starrt mich in  
Grund und Boden, als hätte ich soeben sein Lieblingskätzchen überrollt.  
„Ich will nicht mit dir reden“, sagt er.  
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„Das merke ich.“ Nachdenklich nicke ich. Absolutes, unangenehmes  
Schweigen oder ein gezwungenes Gespräch? In meiner ratlosen, mir die  
Gedärme umdrehenden Nervosität entscheide ich mich für Letzteres. „Es ist  
so verrückt, dass wir hier sind, oder?“ Keine Reaktion. „Bist du öfter bei  
solchen Castings?“  
„Nein.“  
„Also ist das für dich heute auch das erste Mal?“ Ich strahle ihn an. „Nenn  
mich verrückt, aber ich liebe es, dass wir das hier gemeinsam durchmachen.  
Dadurch fühle ich mich weniger einsam und vielmehr akzeptiert, wenn du  
verstehst, was ich meine.“  
Langsam hebt er eine Braue. „Nein.“  
„Das ist auch gut!“ Nervös spiele ich mit meinen Fingern. Ich hätte mir ein  
Buch mitnehmen sollen. Mein Blick schweift über die Reihen von  
Interessentinnen in kurzen Röcken und knappen Shirts. Wahrscheinlich hatte  
Lyra recht. Mit Rollkragenpullover, wenn auch enganliegend, und einer  
wirklich guten, wirklich teuren Jeans werde ich hier nicht viel reißen können.  
Kurz überlege ich, ob ich auf die Damentoilette verschwinde und mich in  
Bikinischale werfe.  
So billig bin ich noch nicht geworden. Gut möglich, dass sich meine  
Einstellung binnen der nächsten Stunde ändert. Eine Frau schlägt die Beine  
übereinander und entblößt unter dem kurzen Lederröckchen die fehlende  
Unterwäsche. Ich rümpfe die Nase. Oder auch nicht.  
„Wir beide stechen hier echt raus“, sage ich. „Du und ich, in diesem  
Kuddelmuddel. Was meinst du?“  
Stöhnend schließt der junge Mann die Augen. „Was willst du von mir?“  
„Dass du einen Zauberstab hervorholst und meine Nervosität verpuffen  
lässt“, schlage ich vor. „Das ist total irre! Mir könnte diese ganze Sache hier  
wahnsinnig egal sein, aber trotzdem sitze ich hier und mache mir gleich in die  
Hose, weil ich vor Aufregung einfach sterbe. Die Frauen hier sind alle so  
wahnsinnig hübsch! Wie verdammt soll ich da mithalten?“ Er antwortet nicht.  
„Das soll jetzt nicht arrogant klingen oder so“, plappere ich weiter, „ich weiß  
schon, dass ich auch hübsch bin. Aber so hübsch? Ich bin auch nicht schlecht  
darin, meinen Körper zu zeigen, aber so sehr zu zeigen? Ich weiß nicht.“  
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Wortdurchfall. Das einzige, was noch peinlicher ist, als mir hier auf dem  
Boden in die Hose zu machen.  
„Setz dich bitte zu jemand anderem“, sagt er unverblümt.  
Ungläubig starre ich ihn an. „Was?“  
„Setz dich woanders hin“, wiederholt er harsch. „Du nervst.“  
„Wow! Du spielst dann aber auch die Rolle des bösen Wolfes oder wie.“  
Kopfschüttelnd presse ich mir meinen Rucksack an die Brust und denke ich  
nicht einmal daran, meinen süßen, kleinen Po von diesem kratzigen,  
stinkenden Teppichboden zu lösen.  
Die nächste Person kommt durch die Tür. Mir fallen fast die Augen aus dem  
Kopf. Ich glaube, ich spinne. Das ist diese verdammte Pflichtverteidigerin, die  
meinen Vater um ein Haar ins Gefängnis gebracht hätte. Mit gefälschten  
Beweisen! Die in aller Seelenruhe dort saß neben dem psychotischen  
Messerstecher, der maskiert in die Praxis meines Vaters eingebrochen ist und  
ihm einen zehn Zentimeter tiefen Schnitt zwischen die Rippenbögen verpasst  
hat.  
Diese Frau ist der Teufel. Keine Ahnung, wie es ihr gelungen ist, aber binnen  
von zwei Sitzungen war dieser Wahnsinnige plötzlich unschuldig und mein  
Vater musste zehntausend Dollar Schmerzensgeld zahlen. Weil er ihn  
angeblich aus niederen Gründen oder so angeschwärzt hätte. Es war  
lächerlich. Dieser ganze Prozess war eine Farce und während dieser ewigen  
Zeit saß diese Frau immer nur da, hat einen Zeugen nach dem nächsten  
aufgerufen, dem ich nie begegnet bin, Material gezeigt, das nicht existieren  
dürfte, weil das, was dort gezeigt wurde, nie geschehen ist, und meiner  
Familie mehr Probleme aufgehalst, als wir für möglich gehalten hätten.  
Wir waren die Opfer. Mein Vater lag für zwei Tage auf der Intensivstation.  
Nachweislich!  
Sie sollte froh sein, dass meine Gedärme Samba tanzen und ich alle meine  
Energie darauf verwenden muss, mein Frühstück in mir zu behalten.  
Andererseits würde ich dir Gunst der Stunde nutzen und ihren dummen,  
brillanten Kopf so oft gegen diese Wand hier donnern, bis sie niemandem  
mehr Probleme bereiten kann.  
Der Mann folgt meinem Blick. „Das glaube ich jetzt nicht.“  
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Ich schnaufe. „Hat sie deinen Vater auch fast in den Knast gebracht oder was  
ist los?“  
„Ich wollte ihren Briefkasten eintreten.“  
„Hättest du mal tun sollen.“ Ich rolle die Augen. „Dieses Miststück hat für  
ihren mörderischen Klienten zehntausend Dollar Schmerzensgeld rausgeholt.  
Mein Vater zahlt den Kredit noch immer ab. Und weißt du, was das witzigste  
an der Sache ist?“ Stoisch ziehe ich die Beine an meine Brust. „Mein Vater  
war derjenige, der wegen ihres Klienten beinahe draufgegangen wäre. Mein  
Vater lag auf der Intensiv und binnen weniger Stunden war er plötzlich der  
Bösewicht!“  
Sie scheint mich nicht zu hören. Amelia Nahn. Das brillanteste Miststück, das  
die Verbrecherszene je gesehen hat. Nur dass sie in einem niedlichen  
Blüschen neben ihrem Klienten sitzt und mehr Ansehen genießt, als ihr  
zusteht.  
„Was tut sie hier?“, schimpfe ich leise vor mich hin, während sie den Raum  
durchquert, ohne mich zu bemerken. Wahrscheinlich bin ich auch nur  
irgendwer, dem sie mal begegnet ist. So ein unwichtiges Gesicht, das  
irgendwo in den Zuschauerrängen untergegangen ist. Ich will meinen  
Rucksack nach ihr werfen und hoffen, dass meine Thermoskanne ihren Kopf  
trifft. „Die hat mehr Geld als jeder andere in dieser Stadt. Sie hat die steilste  
Karriere, von der ich je gehört habe. Kann sie sich nicht einfach in ihre  
Stadtvilla verkrümeln und da mit ihren Verbrecherfreunden Tee trinken?“  
Der Mann antwortet mir nicht. Konzentriert beobachtet er jede von Amelias  
Bewegungen. Ich weiß noch, wie wir damals in den Gerichtssaal gekommen  
sind und sie sahen. Ein kleines, süßes Mädchen mit Stupsnase und  
Sommersprossen verteidigt diesen widerwärtigen Verbrecher. Die  
Beweislage war erdrückend. Diese ganze Angelegenheit glich eher einer  
Formsache. Der Verteidiger meines Vaters wurde zwar nervös, aber, was hat  
uns das gekümmert? Wir hatten auf Video, wie mein Vater angegriffen  
wurde. Auf Video! Es gab Patienten in seiner Praxis, die dieses Geschehen  
mitverfolgt haben und sofort bereit waren, in den Zeugenstand zu treten.  
Alles war so verdammt sicher. Dann war das Originalmaterial verschwunden.  
Beziehungsweise, nein, es war noch da. Angeblich. Plötzlich zeichnete es nur  
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auf, wie mein Vater die Klinge gegen sich selbst richtete. Um die Sache dann  
dem Angeklagten in die Schuhe zu schieben.  
Natürlich sind wir vor Gericht gegangen. Mein Vater lag auf der  
Intensivstation und wir hatten panische Angst um ihn. Niemand darf mit so  
etwas davonkommen.  
Dieser Frau wegen ist der Attentäter nicht nur immer noch auf freiem Fuß, er  
hat außerdem eine niedliche, fünfstellige Abfindung bekommen. Das oder  
der Knast. Manchmal kann eine Entscheidung so verdammt einfach sein.  
Ich habe mir so oft vorgestellt, wie ich in ihr schönes, nobles Haus einsteige  
und sie zur Rede stelle.  
Nicht, dass das etwas gebracht hätte. Wahrscheinlich wäre ich danach hinter  
Gittern gelandet. Warum auch immer.  
„Sei froh, dass du nur ihren Briefkasten demoliert hast“, sage ich. „Sobald du  
ihr im Gerichtssaal begegnest, bist du erledigt. Sie fälscht die Beweise wie ein  
verdammter Profi und ich habe keinen blassen Schimmer, wie genau sie das  
anstellt. Ich meine, wir hatten das Videomaterial.“ Ich lehne mich nah zu dem  
jungen Mann. „Abgespeichert. Alle. Die Untersuchung, mein Vater, die Firma.  
Und plötzlich, puff, lag überall eine andere Datei! Alle Geräte von ihr und  
ihren Mitarbeitern wurden untersucht, aber nichts, was darauf hinweisen  
könnte, dass sie die Schlange ist. Ich schwöre dir, sie arbeitet mit allen  
Spitzenverbrechern dieser Welt zusammen.“  
Der junge Mann räuspert sich. „In ihrem ersten Fall hat sie wohl einen  
Vergewaltiger freibekommen.“  
„Nicht nur irgendeinen Vergewaltiger“, sage ich wutschnaubend. „Einen, der  
ein kleines Mädchen missbraucht hat und, kaum dass er wieder auf freiem  
Fuß war, fleißig weitergemacht hat. Das i-Tüpfelchen seiner Verbrechen? Er  
erwürgt seine Opfer. Aber erst am Ende. Dann wirft er sie in die nächstbeste  
Müllpresse und der Untersuchungsausschuss darf Körpermatsch da  
rausholen. Es ist einfach widerlich.“  
„Inzwischen soll er wohl sitzen“, sagt der junge Mann.  
Augenrollend halte ich meinen Rucksack fester. „Bestimmt nicht ihretwegen.  
Der hatte nur Pech, dass sie inzwischen größere Männer am Haken hat, die  
ihr mehr zahlen. Das ist der einzige Grund, aus dem der Mann hoffentlich  
bald mal erledigt ist. Sonst“, ich werfe eine Hand in die Luft, „hätten die  
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Kinder ihn bestimmt dazu gezwungen, vergewaltigt zu werden, und wir  
hätten garantiert auf Video, wie sie sich in die Müllpresse gestürzt haben, um  
ihm etwas anzuhängen. Keine Ahnung! Das ist so dumm, was sie auf den  
Tisch legt, aber gleichzeitig so simpel und schlüssig und wasserdicht, obwohl  
ihr Lügennetz aus Zuckerwatte besteht. Verstehst du?“  
Langsam nickt der Kerl. „Ich verstehe auch nicht, was sie hier tut“, sagt er  
schließlich. „Sie hat doch alles.“  
„Vielleicht will sie vor einem Fall davonlaufen“, sage ich augenrollend. „Man  
munkelt ja, dass sie den Raubmörder verteidigen soll, der ganz offensichtlich  
den Museumswächter erstochen hat.“  
„Obwohl ich die nicht kenne“, murmelt er, „würde ich es ihr zutrauen.“  
„Der ist alles zuzutrauen“, schimpfe ich. „Willst du raten, wie alt die  
skrupelloseste Verteidigerin dieser Stadt und der nächsten und  
wahrscheinlich der ganzen Welt ist?“ Ich lasse ihn nicht zu Wort kommen.  
„Vierundzwanzig. Sie hat meinen Vater mit zweiundzwanzig Jahren  
vernichtet. Frag mich nicht, wie sie so schnell an ihren Abschluss gekommen  
ist, aber was sie auch gemacht hat, ihre Freizeit hat sie sich mit Kursen an  
einer Akademie für Schurkereien vertrieben.“  
Ein winziges Lächeln hebt die Mundwinkel des jungen Mannes. Er ist wirklich  
unglaublich, unglaublich attraktiv. Wie diese Jungs, deren Fotos von  
pseudodepressiven Mädchen auf tumblr geteilt werden mit dramatischen  
Bildunterschriften. Das Blau seiner Augen ist unwirklich. Die kleine Narbe an  
seinem Kinn lässt ihn verwegen wirken und die dunkelbraunen Haare stehen  
ihm wirr vom Kopf ab. Dieses Lächeln? Lässt mich dahinschmelzen. Dieser  
Typ ist gefährlich. Auf alle Arten, die Amelia nicht bedient.  
„Könnte sie nicht wenigstens so hässlich aussehen, wie sie tief in ihrem  
Herzen ist?“, schimpfe ich gedämpft, während Amelia sich gelassen neben die  
Frau lehnt, die leider ihr Höschen im Epizentrum der Billigkeit vergessen hat.  
„Sie ist total süß. Wenn sie da neben ihrem Klienten sitzt, wirkt sie wie ein  
kleines Engelchen, und dann knallt sie gefälschte Beweise auf den Tisch, dass  
dir die Ohren klingeln.“ Amelia ist die Art von gesegnetem Wesen, das Gott  
scheinbar nur geschaffen hat, um jedem im Umkreis zu demütigen. Mit  
Sicherheit ein C-Körbchen, ein niedliches Puppengesicht, der perfekte Po,  
lange, wohlgeformte Beine, einen flachen Bauch, dichtes, perfekt welliges  
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Haar und diese niedlichen, kleinen Sommersprossen, die sie zur  
hinterhältigen Unschuld vom Lande machen. Sie ist zierlich, aber wirkt nicht  
zu zerbrechlich, ihre Haut ist hell, aber nicht zu hell.  
Alles an dieser Frau lacht einem ins Gesicht. Und ich bin fest davon  
überzeugt, sie genießt jede Sekunde davon.  
„Was du über den Fall deines Vaters erzählst“, sagt der Typ langsam, „ist  
schwer vorstellbar.“  
„Es ist unmöglich“, schimpfe ich. „Aber irgendwie hat sie es geschafft! Unsere  
Zeugen wollten nicht einmal mehr auftreten und wenn sie gekommen sind,  
haben sie irgendeinen Schwachsinn erzählt. Ich habe keinen blassen  
Schimmer, wie sie es anstellt, aber sobald sie den Raum betritt, ist die Lüge  
das neue Non plus Ultra.“  
„Erpressung?“  
„Keine Ahnung.“ Ich stelle den Rucksack neben mich. Wenigstens beruhigen  
sich bei der Aufregung meine Gedärme. „Unsere Zeugen hatten nicht einmal  
die Stirn, nach dieser Sache die Praxis zu wechseln. Sie sind alle ganz brav  
weiter zu uns gekommen, als wäre nie etwas geschehen.“  
„Seltsam.“  
„Richtig seltsam!“, pflichte ich ihm bei. „Und jetzt ist sie hier. Wir können ja  
darum würfeln, was verrückter ist.“  
Wir versinken in angespanntes Schweigen. In unregelmäßigen Abständen  
werden Teilnehmer aufgerufen, die entweder komplett verschwinden oder  
nach einer gewissen Zeit wiederkommen und sich zurück auf ihren Stuhl  
setzen. Die Stunden vergehen, der Raum leert sich quälend langsam. Alles  
hieran ist die echte, absolute, perfektionierte Hölle. Da will ich ein einziges  
Mal etwas Verrücktes tun und plötzlich sitze ich in einem Raum mit der  
meistgehassten Person überhaupt. Immerhin. Seitdem Amelia das  
Wartezimmer betreten hat, bin ich nicht mehr die einzige in Winterkleidung.  
Natürlich kehrt die Frau ohne Unterwäsche zurück. Je billiger, desto besser.  
Das hat Lyra gesagt. So wie ich die Sache hier einschätze, wird sie Recht  
behalten.  
Was weiß ich, nach welchem Schema sie vorgehen, aber die Frau mit der  
putzigen Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen ruft mich vor dem jungen  
Mann auf. Ich schenke ihm ein entschuldigendes Lächeln. „Du bist bestimmt  
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als nächstes dran.“  
„Ich habe nichts besseres vor“, sagt er nüchtern. Mein Blick huscht zu Amelia.  
Sie sollte mit Sicherheit nicht nur hier rumstehen und konzentriert auf der  
Tastatur ihres Laptops tippen. Sie kann ihn benutzen. Im Stehen. Als wäre sie  
dazu geboren worden, an jedem Ort in jeder Situation widerwärtig effektiv zu  
arbeiten. Je länger ich sie beobachte, desto mehr geht sie mir auf die Nerven.  
Hätte man mich nicht abgeholt? Vermutlich wäre ich explodiert und hätte ihr  
jedes rote Haar einzeln ausgerissen.  
Rothaarige haben keine Seele? In ihrem Fall schenke ich diesem dümmlichen  
Gerücht mehr Glauben, als ich sollte.  
Ich werde in einen kleinen, dunklen Raum geführt. Bunte Lichtreflexe  
erhellen ihn und breit lächelnd sitzt ein fremder Mann vor mir, ein  
Klemmbrett auf den Knien und diesen schmierigen Gesichtsausdruck an sich  
habend, der mir einfach die Galle hochkommen lässt. Das sind also die  
Menschen, die entscheiden, wer sich als nächstes im Fernsehen bloßstellen  
darf. Wo kann man die Bachelorarbeit noch einmal anmelden? Ich sollte hier  
verschwinden, bevor ich plötzlich in einem Format mit dem größten  
Miststück aller Zeiten stecke und man von mir erwartet, dass wir gemeinsam  
Cocktails schlurfen und uns den heißesten Typen für die nächsten zwei  
Wochen aussuchen. Für Zuschauersympathien oder um einfach nicht zu  
fliegen. Wer weiß das schon.  
„Kyra Lindner“, sagt der Mann mit seinem schmierigen, widerwärtigen  
Lächeln. „Richtig?“  
„Ja, genau.“ Ich bleibe auf der Schwelle stehen wie bestellt und nicht  
abgeholt. „Ich hatte mich beworben, nachdem dieser Brief bei mir zu Hause  
vorbeigeflattert ist.“  
„Wir freuen uns sehr über Ihr Interesse an unserem Format.“ Er macht keine  
Anstalten, aufzustehen und mir die Hand zu reichen. Wahrscheinlich bin ich  
ihm nicht nackt genug, um sich zu bewegen.  
„Erzählen Sie etwas von sich“, bittet er mich.  
„Ich bin Kyra.“ Ratlos hebe ich die Schultern. „Eigentlich sollte ich mich für  
meine Abschlussarbeit anmelden, aber, ganz ehrlich? Bevor ich mich in einen  
fünfzigjährigen Trott begebe, der immer gleich aussieht, will ich vorher was  
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Heftiges erlebt haben. Der Brief kam an, ich habe ihn geöffnet und, naja, das  
ist meine Chance.“ Ich hebe eine Schulter. „Einfach mal was anderes machen,  
einfach mal ein Abenteuer suchen, einfach mal etwas Verrücktes tun.“  
„Wie alt sind Sie?“  
„Fünfundzwanzig.“ Ich seufze und verschränke die Arme vor meiner Brust.  
„Das steht auch auf dem Zettel. Genau wie mein Gewicht, meine  
Körpergröße, meine Kleidungsgröße, meine Schuhgröße, was ich am liebsten  
esse, was ich gar nicht gern esse. Sie wissen schon, auf dem Formular, das sie  
von mir verlangt haben. Im Zweifel habe ich die Kopie noch einmal bei.“  
„Wie würden Sie sich in drei Worten beschreiben?“, fragt mich der  
schmierige Typ verbindlich lächelnd, ohne auf meinen Wortschwall  
einzugehen.  
„Aktuell sehr genervt“, erwidere ich lächelnd. „Warum?“  
„Warum sind Sie genervt?“  
„Weil Sie mich nicht einmal richtig begrüßt haben, nachdem ich mir meinen  
Po eckig gesessen habe.“  
„Sie mögen Bewegung?“  
„Jeder mag Bewegung.“ Ich rolle die Augen. „Als Kind habe ich mir die Rippen  
bei einem Autounfall zerschmettert und musste für Wochen in einem  
Gipsbett liegen. Wann immer ich mich nicht rühren darf, bekomme ich so ein  
Klingeln im Kopf, das einfach nicht mehr aufhören will.“  
„Sie hatten einen Autounfall?“ Neues Interesse scheint mir entgegengebracht  
zu werden.  
Ich zucke die Achseln. „Hatten wir doch alle schon einmal. Sie bekommen  
doch auch mit, wie die Leute hier fahren. Es ist nicht so, als würde  
irgendjemand aufpassen.“  
„Sie sprachen von einem Abschluss“, sagt der Mann. „Machen Sie eine  
Ausbildung?“  
„Ich studiere Wirtschaftswissenschaften.“  
„Wie lange schon.“  
„Regelstudienzeit.“ Als er mich abwartend ansieht, seufze ich tief. „Fünf  
Semester. Ich sollte eigentlich meine Bachelorarbeit anmelden.“  
„Warum tun Sie es nicht?“  
„Die Sache mit dem Abenteuer?“, rufe ich ihm ins Gedächtnis. „Ich bin hier,  
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weil mich mein Leben anödet. Es ist immer gleich! Ich gehe zur Uni, sage ein  
paar pseudokluge Sachen, schreibe meine Klausuren, sehe meiner Schwester  
beim Lernen zu. Es ist öde! Als hätte man mich in ein Hamsterrad gesperrt  
und würde mir keinen Ausweg mehr lassen.“  
„Wir könnten Ihr Ausweg sein“, sagt er.  
Ach was. „Deswegen bin ich hier“, antworte ich gedehnt.  
„Sehnen Sie sich nach einer großen Plattform?“  
„Dann wäre ich kaum bei einem unbekannten Sender“, sage ich trocken. „Ich  
will einfach was anderes! Verstehen Sie das?“  
„Bedingt.“  
Ja, er mich auch.  
„Sie sind recht züchtig gekleidet.“  
„Soll ich mich ausziehen?“, spotte ich.  
„Wenn Sie dazu bereit sind, gern.“ Ein seltsamer Funken tritt in seine  
schmierigen Augen. Ich will mich übergeben, meinen Stolz einpacken und mit  
ihm gemeinsam diesen Raum verlassen. Stattdessen ziehe ich mir trotzig den  
Pullover über den Kopf.  
„Sie haben einen guten Körper.“  
„Zehn Jahre Kampfsport und tägliches Joggen.“  
„Das klingt sehr ambitioniert.“  
„Wenn Sie mich anfassen, schlage ich Sie k.o.“, sage ich trocken. „So  
ambitioniert bin ich.“ Sein Lachen jagt mir klebrige Schauer über den Rücken.  
„Kyra, richtig?“  
„Absolut.“  
„Bitte entledigen Sie sich Ihrer übrigen Kleidung.“  
Wofür genau bewerbe ich mich hier noch einmal? Schnaufend trete ich mir  
die Schuhe von den Füßen und streife mir die Jeans von den Beinen. Prüde  
war ich nie. In Unterwäsche vor jemandem zu stehen, ist, als würde ich mich  
im Schwimmbad auf der Liege räkeln. Bunte Lichtreflexe tanzen über meine  
sonnengeküsste Haut. Der Mann inspiziert mich, als wäre ich ein Stück rohes  
Fleisch.  
„Bitte drehen Sie sich einmal um sich selbst.“  
Widerlich. Schmal lächelnd hebe ich die Arme und komme seiner Bitte nach.  
„Können Sie tanzen?“  
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„Ich bin besser im Fußball“, sage ich trocken. Bevor ich vor ihm mit dem Po  
wackle, während ich in Unterwäsche in einem abgelegenen, abgedunkelten  
Raum stehe und nur von bunten Lichtreflexen beleuchtet werde, muss schon  
was passieren. Das Einzige, was mich bei Laune hält? Die Vorstellung, dass er  
Amelia um genau das Gleiche bittet wie mich.  
„Wie viele Beziehungen hatten Sie bereits?“  
„Keine Ahnung.“ Ich zucke die Achseln. „Zwei? Ich glaube, der letzte hat mich  
nur mit meiner Schwester verwechselt, den würde ich also lieber  
ausklammern.“  
„Sehen Sie Ihrer Schwester derart ähnlich?“  
„Wir sind eineiige Zwillinge.“  
„Hat Sie ebenfalls Interesse an diesem Format?“  
„Stellen Sie ihr ein Staatsexamen mit Bestnote aus?“  
„Nein.“ Der schmierige Hering wirkt leicht irritiert.  
„Da haben Sie Ihre Antwort.“ Ich stemme die Hände in die Hüften. „Womit  
verbringen Sie so Ihre Zeit, wenn Sie nicht gerade hier sitzen und widerlich  
sind? Mit dem Durchwühlen dubioser Websites?“  
Erneut werde ich einfach übergangen. „Sie dürfen sich wieder anziehen“, sagt  
er.  
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. In gemessener Geschwindigkeit  
schlüpfe ich zurück in den weichen, warmen Pulli und die sau teure Jeans, die  
Lyra mir zu Weihnachten geschenkt hat. Sie fühlt sich an wie die bessere  
Version meiner eigenen Haut.  
„Bitte begeben Sie sich zurück in das Wartezimmer.“  
„Haben Sie vor, mich heute hier noch wegzulassen?“, frage ich trocken. Er  
antwortet mir nicht. „Sie sollten dringend mal an ihrer Nettigkeit feilen“,  
murmle ich. „Sie sind nicht nur hier, um junge Frau zu begaffen und zu  
überlegen, welcher Körper wohl am besten für die notgeilen vierzehnjährigen  
Zuschauer mit ihrem ersten Mischbier geeignet sind.“  
„Sie scheinen ein schlechtes Bild von Formaten dieser Art zu haben“, stellt er  
Mann nüchtern fest.  
„Nur, wenn mir ein vierzigjähriger krampfhaft Junggebliebener sagt, ich soll  
mich ausziehen und vor ihm tanzen.“  
„Sie waren nicht nackt“, ruft er mir in Erinnerung.  
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„So ein Jammer“, antworte ich trocken. „Da konnten Sie gar kein Bild von  
meinen Brüsten machen. Tut mir fast ein bisschen leid.“  
„Kyra Lindner“, er nickt mir zu, „bitte begeben Sie sich zurück in das  
Wartezimmer.“  
Ich bin so kurz davor, ihm meinen wohlpolierten Mittelfinger unter seine  
schmierige Nase zu reiben.  
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Nackte Tatsachen (Ladislav)  
Der Raum stinkt nach Schweiß. „Bitte entkleiden Sie sich für mich“, sagt die  
junge Frau und schenkt mir ein laszives Lächeln. Die Hüllen fallen zu lassen,  
sollte für mich kein Problem sein. Irgendwas an der vor mir, macht mich  
höllisch nervös. Sie hat dieses Glitzern in den Augen. Das Gleiche wie meine  
Agentin, wenn sie drauf ist. Von meinem mühsam ersparten Geld.  
„Klar.“ Ich hebe die Schultern und streife mir die zerschlissene Jacke ab, dann  
den löchrigen Pullover und schlussendlich die alte Jeans, die ich lange  
zwischen den Oberschenkel aufgerieben habe. Für mich ist es kein Ding,  
nackte Haut zu zeigen. Unter dem Blick dieser Frau fröstle ich.  
„Drehen Sie sich für mich.“  
Ich komme ihrer Bitte nach.  
„Entkleiden Sie sich vollständig.“  
Ich stehe nur in Unterwäsche vor ihr. „Nein.“  
Sacht legt sie den Kopf schief. „Wollen Sie Teil unserer Sendung sein?“  
„Das Ding bleibt an.“ Ich deute auf die Boxershorts.  
„Dann werden Sie nicht gecastet werden.“  
In einer Fastfoodabsteige versauern oder blankziehen. Sollte nicht so  
schwierig sein. Ruckartig zerre ich mir auch den letzten Stofffetzen vom  
Körper und sehe die Frau herausfordernd an. „Was jetzt?“  
„Bitte drehen Sie sich.“ Ihr Feixen macht mir Angst. Die Frau ist irre. Nicht auf  
die gute, alte Art. Sondern auf die neue, die einem plötzlich einen Chip  
einpflanzt und in irgendeinem Loch als Hauptpreis vergräbt.  
„Sie haben einen sehr attraktiven Körper.“  
„Ich bin Model.“  
„Wer hat Sie gecastet?“  
Ich schlucke meinen bitterschmeckenden Stolz hinunter. „Niemand.“  
„Sie möchten also Model werden“, sagt die Frau mit einem verbindlichen  
Lächeln. In erster Linie will ich ihr dieses Feixen aus dem Gesicht prügeln.  
„Ich bin Model“, beharre ich. „Sie haben die Chance, mich als erstes zu  
casten.“  
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„Diese Chance werden wir selbstverständlich ergreifen.“ Ohne dieses  
gruselige Grinsen verrutschen zu lassen, lehnt sie sich in ihrem Stuhl zurück.  
„Kleiden Sie sich gern wieder an und finden sich bitte im Raum 106 ein. Dort  
wird man Sie über die weitere Vorgehensweise informieren.“  
Ich stehe splitterfasernackt in diesem gedimmten Raum und kapier nicht  
ganz, was hier passiert. „Sie wollen mich“, vergewissere ich mich.  
„Natürlich.“ Sie strahlt mich an. „Sie vervollkommnen unseren Cast perfekt.“  
Ich räuspere mich. „Das freut mich zu hören.“  
„Sie dürfen sich nun wieder ankleiden“, wiederholt die Frau.  
Ich hocke mich hin und greife nach meiner Unterwäsche. So simpel?  
Blankziehen und der Schein ist in der Tasche? Was ist schon Würde, wenn  
man ohne sie deutlich bessere Kompromisse abschließt. „Dann danke,  
schätze ich mal.“  
„Ich freue mich darauf, Sie wiederzusehen“, säuselt die Frau. Ihr Winken ist  
wie das Scharren einer tollwütigen Katze. Schaudernd betrete ich den  
quietschenden, stinkenden Korridor und platze in den Raum 106 hinein. Eine  
weitere Frau wartet dort auf mich. Von einer Schlangengrube in die nächste.  
Sie ist heiß, ohne Frage. Gut proportioniert, nettes Gesicht, Lippen, bei denen  
garantiert nachgeholfen wurden, und Klamotten, die „leicht zu haben“  
brüllen. Mit Leuten wie diesen kann ich nicht viel anfangen. Sind halt da und  
sind halt hübsch und sind morgen halt wieder vergessen.  
Leise lachend schlägt sie die Beine übereinander und wischt sich die blonden  
Locken über die Schulter. „Ich habe gehört, Sie wurden gecastet. Herzlichen  
Glückwunsch!“  
Mir will die Sache gerade noch unheimlich werden, als ich das kleine Gerät an  
ihrem Ohr entdecke. „Man muss ja von irgendwas leben“, sage ich trocken.  
„Unsere Show wird Ihnen ein völlig neues Leben ermöglichen“, verspricht sie  
mir breit lächelnd. „Zahlreiche Sponsoren werden Sorge dafür tragen, dass  
dieses erste Format zur Primetime läuft.“  
Bestimmt doch. Ist klar. „Finde ich gut“, sage ich nur und verschränke die  
Arme vor der Brust. „Muss ich was unterschreiben oder worum geht es?“  
„Jede Woche, die Sie Teil dieser Show sind“, fährt die Dame aufgesetzt lieb  
lächelnd fort, „werden Sie mit einer Summe von zehntausend Dollar  
entlohnt. Die maximale Laufzeit beträgt ein Jahr.“  
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Mir donnert der Puls in den Ohren. „Zehntausend?“, vergewissere ich mich.  
Mein Mund ist staubtrocken. Nach einer Woche könnte ich mir eine  
Wohnung mieten. Eine neue Jacke wäre drin, ein neuer Pullover. Ich müsste  
nicht mehr in dieses verseuchte Drecksloch zurückkehren.  
Weiterhin kokett lächelnd wie eine gruselige Porzellanpuppe nickt die Frau.  
„Sind Sie auch nach den ersten vier Monaten noch gefragt, erhöht sich der  
Betrag auf fünfundzwanzigtausend Dollar.“  
Fünfundzwanzigtausend. Wenn ich mich gut anstelle, gehe ich als  
steinreicher Mann da raus. Ich kann mein eigenes Label gründen und mein  
eigenes Gesicht dafür sein. Ich könnte mir eine Karre zulegen und zum  
Zahnarzt gehen.  
Mich würde wieder eine Versicherung nehmen, weil ich den Beitrag zahlen  
könnte. Es wäre das beschissene Ende eines sinnlosen Dahinvegetierens. Mit  
einem Schlag befreie ich mich aus diesem Albtraum.  
„Wo kann ich unterzeichnen?“  
„Sie garantieren mit Ihrer Unterschrift, dass Sie mit allen Inhalten dieses  
Formats einverstanden sind.“  
Ich starre die Frau an, als hätte sie den Verstand verloren. „Sie haben schon  
gehört was Sie mir hier angeboten haben, oder?“ Rau lachend lasse ich die  
Arme sinken. „Und wenn ich jemanden umbringen müsste, ich würde  
unterschreiben.“  
„Es erfreut uns sehr, dass unser Angebot Ihnen in diesem Maße zusagt.“  
Dieses Grinsen ist unheimlich. Sie schiebt mir einen Bogen zu. Ich halte mich  
nicht damit auf, ihn zu überfliegen. Was auch immer man von mir verlangt,  
ich tue es. Und wenn ich nackt auf einem Kreuzfahrtschiff tanzen soll. Nach  
dieser Show bin ich raus aus den Schulden. Ich kann mir eine gute Agentin  
leisten, ich kann mir ein Auto leisten und neue Klamotten. Der Untergrundtyp  
wäre Vergangenheit.  
„Bitte unterzeichnen Sie an den angekreuzten Feldern.“  
Fünf Mal meine Unterschrift, dann bin ich reich.  
Sie nimmt die Bögen wieder an sich. „Es freut mich sehr, Ihnen mitteilen zu  
dürfen, dass Ihre Reise bereits in zwei Wochen beginnen wird. Sie gehören zu  
unserem Stammcast und können sich auf diese Weise einer zusätzlichen  
Aufmerksamkeit sicher sein.“  
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„Klingt gut.“  
Sie wirft sich das blonde Haar über die andere Schulter. „Ich wünsche Ihnen  
viel Erfolg und gutes Gelingen.“  
„Klar.“ Knapp nicke ich. „Danke und so.“  
„Wir danken Ihnen für Ihre Bereitschaft.“  
Mein Körper fühlt sich taub an. Ich wurde von einem Zug namens Arschglück  
überfahren und habe keinen blassen Schimmer, wie ich mich von dem  
Schrecken erholen soll. Das Linoleum ist weichen Wolken gewichen, die mich  
federnd in Richtung Heimat führen.  
Die schimmernde Seifenblase zerplatzt jäh, als das kleine Sugarmädchen den  
Warteraum verlässt. Ihr Blick schweift mich unverwandt, als hätte ich mir  
nicht vor kurzem ihretwegen mitten in der Nacht den Arsch abgefroren.  
„Viel Glück, schätze ich“, sage ich.  
Sie geht nicht auf mich ein. Ihre Schritte sind fest, als würde sie einen  
Unschuldigen zur Schlachtbank führen. Es mag schräg klingen, aber ich kann  
mir verdammt gut vorstellen, dass sie die Frau ist, die jeden in den Wahnsinn  
treibt, Zeugen besticht und Unterlagen fälscht. Menschen wie sie schleichen  
sich hinterlistig durchs Leben. Verdienen einen unverschämten Haufen Kohle  
dafür.  
Und ich habe mein eigenes Hintertürchen gefunden für das gleiche,  
strahlende Schicksal.  
Selbst wenn sie von mir verlangen sollten, dass ich vor laufender Kamera mit  
jemandem rummache. Kein Problem! Danach bin ich reich. Ich bin steinreich  
und niemanden juckt es, wie ich zu dem Geld gekommen bin. Hauptsache ich  
kann damit um mich werfen und jedem unter die Nase reiben, was für  
ärmliche Versager sie sind.  
Das Sugarmädchen verschwindet in einem angrenzenden Raum und ich  
verlasse das Gebäude. Wenn Erfolg so riecht, schmeckt er mir höllisch gut.  
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Überzeugungsarbeit (Kyra)  
Ich stolpere über meine eigenen Füße, als ich die Jacke über den Haken  
hänge und mir gähnend die Stiefel ausziehe. Nach fast vierzehn Stunden des  
Wartens bin ich am Verhungern. Das nächste Mal? Nehme ich mir einen  
Müsliriegel mit. Nicht, dass es ein nächstes Mal geben würde. Es war einfach  
nur eine erniedrigende Tortur, die zu nichts und wieder nichts geführt hat.  
Anstatt mich noch einmal aufzurufen? Hat man mich da vergammeln lassen.  
Als wäre ich verzweifelt genug, um da bis übermorgen zu sitzen! Nur, weil ich  
meinen Weg in dieses doofe Gebäude zu diesem dämlichen Gespräch  
gefunden habe, bedeutet das noch lange nicht, dass ich ein perspektivloser  
Freak ohne Zukunft und Selbstachtung bin.  
Durch den Schlitz der Tür zum Wohnzimmer brennt Licht. Ich stöhne  
demonstrativ auf und stapfe in den anliegenden Raum.  
Lyra sitzt im Schneidersitz auf der hellen Couch, das dunkle Haar offen und  
wirr um ihr Gesicht herum verteilt, thronend auf einem Berg von Notizen. In  
ihren Händen hält sie das nächste Buch. In dem Tempo kann niemand außer  
ihr irgendwas durcharbeiten.  
Mit einem müden Lächeln auf den Lippen sieht Lyra auf. Es ist vier Uhr in der  
Früh. „Und?“  
„Die können mich alle mal.“ Gähnend setze ich mich neben sie und lasse  
meinen Kopf auf die Rückenlehne sinken. „Zu blöd für mich, dass ich zu viel  
Stolz habe, um vor einem fremden Mann nackt zu tanzen.“  
Lyras Brauen rücken kaum merklich zusammen. „Hat man das von dir  
verlangt?“  
„Ja.“ Ich hebe die Schultern. „Ich habe es nicht gemacht, er hat mich zurück  
in den Warteraum geschickt, dort saß ich noch zehn Stunden, nichts ist  
passiert“, theatralisch atme ich ein, „und jetzt bin ich hier.“  
„Es ist besser so“, sagt Lyra und berührt meinen rechten Oberschenkel.  
Augenrollend starre ich an die Decke. „Rate mal, wer mir über den Weg  
gelaufen ist“, breche ich schließlich das Schweigen. Lyra hatte sich soeben  
wieder ihrer Literatur zugewendet.  
„Ich bin zu müde, um zu raten“, murmelt sie.  
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„Amelia Nahn.“  
„Mit Sicherheit nicht.“  
„Garantiert schon!“, rufe ich aus. „Glaubst du ernsthaft, ich würde diese Frau  
nicht wiedererkennen? Nach dem, was sie uns angetan hat?“ Ich stampfe auf.  
„Ihretwegen hätten wir fast unser Haus verloren und Dad um ein Haar seinen  
Job!“  
„Nichts davon ist geschehen“, sagt Lyra leise. „Es ringt nichts, sich über  
Möglichkeiten aufzuregen, die nie eingetreten sind.“  
„Ich wette mit dir, dass man sie will“, schimpfe ich. „Einfach weil sie Amelia  
Nahn ist und man mit ihr die Serie noch für ein ganz anderes Klientel  
bewerben kann.“  
„Es war nicht Amelia.“  
„Du warst nicht dabei!“, schimpfe ich. „Neben mir saß so ein unverschämt  
attraktiver Typ, der kannte sie auch. Sie hat ihm wohl ihre halbe  
Lebensgeschichte oder so erzählt.“  
„Wir sind beide müde“, wirft Lyra in einem Tonfall ein, der wohl besänftigend  
sein soll. „Wir sollten beide zur Ruhe kommen.“  
„Tu nicht so, als wäre das völlig unmöglich.“ Ich setze mich aufrecht hin. „Es  
kann doch gut sein, dass Amelia einen Fall angenommen hat, vor dem sie  
weglaufen will. Wo ist sie besser von der Welt abgeschnitten als in so einer  
Show?“  
„Sie würde sich ihre gesamte Karriere ruinieren.“ Seufzend klappt Lyra das  
Buch zu und rafft ihre Notizen zusammen. „Wirst du deine Bachelorarbeit  
anmelden oder nimmst du das Stipendienangebot nach Japan an?“  
„Ich melde diese bescheuerte Arbeit an“, schimpfe ich. „Nach Japan kann ich  
auch noch reisen, wenn ich langweilig, reich und hochschwanger von einem  
Mann bin, den ich hasse.“  
„Kyra.“ Irgendetwas steht in Lyras Augen geschrieben, das mich an bodenlose  
Enttäuschung erinnert. „Bitte tu nicht so, als wäre unser Leben schlecht. Viele  
würden alles geben, um mit uns zu tauschen.“  
„Viele sind auch Idioten.“ Ich stehe auf und verschränke die Arme vor der  
Brust. „Und ich sage dir, es war Amelia. Du wirst es sehen, sobald die  
Ausstrahlung beginnt.“  
„Selbst wenn es sich bei der Frau um Amelia gehandelt haben sollte“, das  
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Sollte betont Lyra, als würde sie es hassen, nur darüber nachdenken zu  
müssen, „wird niemand sie casten. Für eine Show wie diese passt sie nicht ins  
Raster.“  
„Ach, wenn die das wirklich will, klagt die sich da schon irgendwie rein.“  
„Sie ist kein Übermensch.“  
„Stimmt.“ Ich schnaufe. „Sie kann nur zaubern.“  
„Kyra!“  
„Nein, ist gut.“ Abwehrend wedle ich mit den Händen. „Ich werde mich kurz  
abduschen, ein bisschen Babybrei in mich reinschaufeln und schlafen.“  
„Warte damit doch bis zum Frühstück.“ Lyra wirft einen kurzen Blick auf die  
Digitaluhr über dem Fernseher. „Wir müssen in vier Stunden aufstehen.“  
„Klar. In vier Stunden schlafe ich wie ein Baby und ihr könnt mich alle mal.“  
Vier Stunden später und ich bin hellwach. Fluchend starre ich an die Wand.  
Viertel nach acht. Viertel nach acht! Was habe ich in meinem Leben getan,  
um das zu verdienen? Mein Magen läuft Amok und ich greife nach meinem  
Handy. Sein Klingeln hat meinen molligen, erschöpften Schlaf je  
unterbrochen. Die Nummer ist unterdrückt. Als wäre ich dumm genug, bei  
einem Spamanrufer zurückzurufen. Achtlos lasse ich das Gerät zu Boden  
fallen und versuche irgendeine fadenscheinige Befriedigung aus dem  
dumpfen Aufprall zu ziehen.  
Erfolglos. Leise schimpfend steige ich aus meinem Bett, reiße den  
Bademantel aus meinem Schrank und wickle mich demonstrativ in den  
weichen Stoff ein.  
Lyra sitzt am Tisch wie eine verdammte Lernmaschine. Notizen, die um sie  
herum verteilt liegen, als hätte sie keine Sekunde geschlafen. Das nächste  
Buch in ihren Händen.  
Bei meinem fragenden Blick lässt sie ihre Lektüre leise seufzend sinken. „Ich  
kam nicht zur Ruhe.“  
„Klingt ätzend.“  
„War es.“  
„Willst du jetzt wenigstens schlafen gehen?“  
„Ich habe noch einiges zu tun.“  
„Irgendein weiser Mensch meinte mal, ohne Schlaf wird alles schlechter.“ Ich  
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spitze die Lippen. „Meinen rechten Arm würde ich darauf verwetten, dass du  
das gesagt hast.“  
„Ich habe eine Deadline.“  
„Das nächste Mal früher anfangen?“, stichle ich und ziehe meinen Laptop  
quer über den Tisch zu mir heran. Missgelaunt öffne ich ihn und öffne das  
Prüfungsportal meiner Universität. Meine Bachelorarbeit anmelden? Kann  
ich. Deutlich heftiger, als notwendig, setze ich die Häkchen in die relevanten  
Kästchen. Zwei Minuten später ist der Spuk vorüber und ein Haufen Arbeit  
liegt vor mir.  
„Du wirkst übellaunig“, stellt Lyra fest.  
„Ach was.“ Selbst wenn ein Grizzly mich blöd von der Seite anmachen würde,  
ich würde darauf anspringen wie ein Eichhörnchen auf Crack.  
„Noch immer dieses Castings wegen?“  
„Nein“, frotzle ich. „Weil meine Zehennägel neuerdings nach innen  
wachsen.“  
„Das solltest du untersuchen lassen.“  
„Und du solltest schlafen, weil deine Birne inzwischen mehr als nur matschig  
ist.“ Stocksauer starre ich aus dem Fenster. Es schneit. Schon wieder. So sehr  
ich mich anfänglich darüber gefreut habe, so ärgerlich ist dieser Umstand  
jetzt. Man kommt kaum noch durch die sich anhäufenden Berge hindurch. Als  
würde man krampfhaft versuchen, mich an Ort und Stelle zu behalten.  
„Sobald ich mit der Theorie durch bin“, verspricht Lyra mir.  
Ich hebe beide Brauen. „Wann wird das sein? Zu Ostern?“  
„Spätestens morgen.“  
„Falls du anfängst zu halluzinieren“, ächzend stütze ich mich auf und tapse  
zum Kühlschrank, „erzähl mir unbedingt davon. Fynn hat nach seinen  
aufgepeppten Brownies den weißen Hasen aus Alice im Wunderland  
gesehen. Falls er dir auch begegnet, könnte das so ein Prinzipiending sein“,  
sage ich. „Alice hat sich was eingeworfen, sie wurde von dem weißen Hasen  
in ein tiefes Loch gezogen, Fynn hat was eingeworfen, er wurde von dem  
weißen Hasen auf die nächstbeste Landstraße geführt. Du weigerst dich zu  
schlafen, vielleicht erschlägt der weiße Hase dich ja mit den Fußnoten deiner  
Arbeit.“  
„Sehr witzig.“  
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„Ich sag ja nur.“ Achselzuckend nehme ich mir einen Joghurt aus dem  
Kühlschrank. Was braucht man bei schlechter Laune und einer angemeldeten  
Bachelorarbeit? Chemische Erdbeeren und einen Zuckerschock. Gepaart mit  
chemischen Erdbeerstückchen, die wahrscheinlich nur aus modrigem Holz,  
roter Farbe und ganz, ganz vielen Aromen bestehen. Ich will mich aufrichtig  
übergeben.  
„Wo sind eigentlich unsere Eltern?“, frage ich spitz. „Sollten die nicht langsam  
mal aus dem Bett fallen?“  
„Sie sind für ein paar Stunden unterwegs.“  
Ich schnaube. „Wohin? Ins Winterwunderland? Dafür müssen sie theoretisch  
nur in unseren Garten stolpern und keine zehn Zentimeter vorankommen.“  
„Zur Eisskulpturenausstellung.“  
Ich pfeffere den halb vollen Becher in den Müll. Das kann niemand essen, der  
nüchtern ist. „Da wollte ich mit hin.“  
„Du hast noch geschlafen.“  
„Es ist kurz nach acht! Sie machen nie vor halb neun irgendwo hin. Was soll  
der Unsinn?“  
„Wir wussten nicht, wann du aufwachst.“  
„Sobald mich jemand weckt?“ Ich stöhne auf. „Ich habe euch von dieser  
Ausstellung erzählt. Ich nerve euch jedes, verdammte Jahr damit und ihr  
nehmt mich nicht mit?“  
„Ich bin auch noch hier.“  
„Du würdest diesen Tisch nicht einmal dann verlassen, wenn wir plötzlich  
bombardiert werden sollten“, sage ich augenrollend. „Diese Arbeit ist für dich  
doch wichtiger als dein Leben.“  
„Sie ist mein Leben“, erwidert Lyra. „Sie ist meine gesamte Zukunft.“  
„Genau.“ Ich suche nach irgendwas Essbarem im Kühlschrank. „Genau.  
Immer schön den Druck hochfahren.“  
„Ich habe dir keinen Druck gemacht.“  
„Ja, komm, sei still!“ Orangenpudding. Ich ziehe die gläserne Schüssel hervor,  
nehme den Deckel ab und setze mich mit Löffel und Dose auf den Boden.  
Zumindest ein letztes Bisschen Festtagszeit ist geblieben.  
„Dass dein hirnrissiges Projekt nicht funktioniert hat, ist nicht meine Schuld“,  
sagt Lyra entschieden.  
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„Habe ich nie behauptet!“ Ich will trotzig auftreten wie ein kleines Kind. „Ich  
habe diese Eisausstellung vorgeschlagen.“  
„Du benimmst dich wie ein kleines Kind.“  
„Ich habe vier Stunden geschlafen“, schimpfe ich. „Was erwartest du? Dass  
ich freudestrahlend aus meinem Bett hüpfe und perfekt gestylt in den Tag  
starte?“  
„Du könntest dich zumindest bemühen.“  
„Du könntest zumindest deine doofe Klappe halten.“ Geräuschvoll stelle ich  
die Schüssel ab. Nicht einmal das schmeckt an einem Tag wie diesem.  
„Ich lerne.“ Lyra klingt resigniert. „Du solltest das Gleiche tun.“  
„Genau.“ Ich nicke. „Ich sollte genau das Gleiche tun, weil ich für alles andere  
eh viel zu langweilig bin.“  
„Das habe ich nie behauptet.“  
„Stimmt.“ Ich nicke. „Aber der Typ, der mich strippen sehen wollte.“ Ich  
stehe auf, decke die Schüssel wieder ab und verlasse den verfluchten Raum.  
Wann immer ich Lyra lernen sehe, bekomme ich das Kotzen. Sie tut genau  
das, was ich tun sollte. Den ganzen Tag. Jede Minute ihres Lebens. Sie ist die  
von uns beiden, auf die man glühend stolz sein kann. Und ich?  
Werde nicht einmal von einem billigen Sender für sein neues, unbekanntes  
Realityformat angenommen. Wie tief kann man sinken?  
Wie tief kann man angekommen sein. Sollte ich je mein Niveau suchen?  
Müsste ich vermutlich den Mariannengraben durchqueren und würde dabei  
ertrinken.  
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Der Startschuss (Ladislav)  
„Dreh dich bitte einmal.“ Die breit lächelnde Dame begutachtet meinen  
Körper, als wäre er ein Stück blutiges Fleisch in irgendeiner würzigen  
Marinade. Naserümpfend drehe ich mich um mich selbst. Man hat mich in  
ein quietsch pinkes Muskelshirt gesteckt, das mich blendet, wann immer ich  
es wage, an mir selbst herunterzusehen. Die Jogginghose plärrt von  
Werbeträgern und ist ähnlich geschmacklos. Ich fühle mich wie die billigste  
Werbetafel von allen.  
„Du kannst einfach alles tragen.“  
Ich ringe mir ein Lächeln ab und rufe mir ins Gedächtnis, dass ich hierfür  
Kohle bekomme. Einen Haufen Kohle. Dafür, dass ich beschissen aussehe,  
mich besaufe und hin und wieder einer das Herz breche. Das ist ein guter  
Deal. Ein verdammt guter Deal.  
Ich hasse nur alles daran. Die kratzigen Socken, die Unterwäsche mit dem  
penetranten, grünen Baum auf meinem Hintern, die Farben der  
Trainingskleidung.  
Verzückt seufzend umrundet sie mich ein letztes Mal, ehe sie mir  
freudestrahlend eine weitere Tasche überreicht. Wenn ich eines bisher  
lernen durfte? Dann das ein Inhalt furchtbarer als der Nächste ist. „Das wird  
deine Einzugskleidung sein“, sagt sie fröhlich. „Präsentiere dich gut darin. Im  
Anschluss wird ein kurzes Interview abgedreht, um dich den Zuschauern  
vorzustellen. Sei einfach“, ein weiteres, verzücktes Seufzen, „du selbst. Sie  
werden dich lieben.“  
Keiner von denen könnte nur ansatzweise so vernarrt in mich sein wie sie.  
Den Namen der Frau habe ich mir nicht gemerkt. Es kommt mir  
unwahrscheinlich vor, dass sie jeden Kandidaten anhimmelt und antatscht,  
wann immer sich die Gelegenheit bietet. Ich fühle mich wie grell verpackte  
Ware, die sie unbedingt mit nach Hause nehmen will. Irgendwas teuer  
Beworbenes, das schlussendlich nur billiger Schrott ist.  
„Toll“, sage ich trocken und hebe leicht die Arme. Das Oberteil ist billig  
verarbeitet und reibt mir die Haut auf. „Soll ich das jetzt anziehen?“  
„Gern.“ Sie öffnet den Reißverschluss der Tüte für mich und überreicht mir  
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feierlich das erste Teil. Ein schlichtes, weißes Shirt. Keine Werbung. Nichts.  
„Für die Zuschauervideos erhaltet ihr alle die gleiche Garderobe, um die  
Chancengleichheit zu garantieren“, erklärt sie mir lächelnd. Das dunkle Haar  
fällt ihr in das weite Dekolleté. Wie durch Zauberhand haben sich während  
dieser Sitzung mehr und mehr Knöpfe geöffnet. Sie ist eines der Mädchen,  
die man auf einer Party betrunken kennenlernt und am nächsten Morgen  
wieder vergisst. „Dieses Oberteil sollte deinen Körper perfekt in Szene  
setzen“, sagt sie mit einem winzigen Lächeln.  
Es ist besser als alles andere. Ich ziehe das quietschpinke Muskelshirt aus, als  
würde es mich verätzen, und streife mir das Baumwollteil über.  
Wohlriechend, weich, luftig.  
Mir wird eine dunkle Jeans gereicht. Langweilig, stilsicher, gut. Darin kann ich  
auftreten. Ich trage noch immer die peinliche Unterwäsche, als ich in die  
Hose schlüpfe und den Gürtel schließe. Die Schuhe sind schlicht und grau.  
„Wie möchtest du auf den Zuschauer wirken?“, fragt sie mich breit lächelnd.  
„Eher wild und verwegen oder charmant und herzensgut?“  
„Mach mich einfach mehr zu mir“, sage ich trocken. „Zeig ihnen, was du in  
mir siehst, und das wird schon passen.“  
Eine lächerliche Röte steigt ihr in die Wangen. Sie ist hübsch, klar. Aber jeden  
Moment, den wir zusammen verbringen, wird sie uninteressanter. Ich kann  
mir vorstellen, dass es in dieser Show von Mädchen wie ihr wimmelt.  
Wahrscheinlich muss ich ihnen wirklich nur das Herz brechen und bei einer  
für ein paar Tage bleiben, damit man mich nicht mehr wegdenken kann. Ich  
selbst tue das Übrige.  
„Dein Name ist recht komplex“, beginnt sie ein neues Gespräch, während Gel  
in mein Haar verarbeitet wird und sie die Struktur anders herausarbeitet.  
„Denk dir einen Spitznamen aus.“  
„Wie würdest du mich nennen?“ Ich ringe mir ein mühsames Lächeln ab.  
Diese Situation ist erniedrigend, peinlich und einfach nur fremdschamwürdig.  
Niemand würde an meiner Stelle sein wollen. Ich fühle mich wie Pumuckl,  
den man mit einem Haufen Geld aus seiner Werkstatt verfrachtet hat, hinein  
in das pinke Erbrochene von Hello Kitty.  
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„Lad?“, schlägt sie vor. „Wenn man es englisch ausspricht, wirkt dein Name  
erfrischend neu und anders. Sehr kantig und cool.“  
„Klar.“ Ich zucke die Achseln. „Dann Lad. Warum nicht.“  
„Sehr schön!“  
Versehentlich erhasche ich einen Blick in den Spiegel links von mir. Ich sehe  
aus wie ein gerupfter Rabe. Wer aussehen will, als hätte die letzte Windböe  
einen zerlegt? Sollte sich in diese vertrauensvollen Hände begeben. „Ich liebe  
deinen Körper“, seufzt sie. „Die Zuschauer werden kaum die Augen von dir  
lassen können! Wir haben keinen Kandidaten, der dir das Wasser reichen  
kann.“  
„Das ist ja toll.“  
„Wirklich!“, beteuert sie und erneut steigt diese dämliche Röte in ihre  
Wangen. „Ich sage das nicht zu jedem. Eigentlich spreche ich kaum mit den  
Kandidaten. Ich wüsste auch nicht, worüber ich mit ihnen sprechen sollte.  
Aber du?“ Sie seufzt schwer. „Du bist anders.“  
„Klar. Anders.“ Als wäre ich der Einzige, der wüsste, wie man ein paar  
Liegestütze hinbekommt, um die Muskeln zu sortieren.  
„Du bist geistreicher“, flüstert sie, „spannender, lustiger!“  
Wir haben kaum ein Wort gewechselt. Sie textet mich zu und ich will einfach  
nur hier raus, die Kohle abstauben und mein neues Leben beginnen.  
„Sobald das alles hier vorbei ist“, setzt sie stockend an, „und falls du nicht die  
Liebe deines Lebens gefunden haben solltest“, nervös lacht sie und ich will  
nur noch den verfluchten Raum verlassen, „hättest du Lust, einen Kaffee mit  
mir trinken zu gehen?“  
Nein. „Bestimmt“, murmle ich. Meine Haare sehen aus, als hätte ich sie noch  
nie in meinem Leben gekämmt. Sobald ich mich vor diese Kamera setze, wird  
mein erster Auftritt der peinlichste sein, den ich in meinem ganzen Leben  
hingelegt habe.  
„Das macht mich glücklich“, wispert die junge Frau und ihre Wangen werden  
noch röter. Und sei es nur, um nie wieder ein Wort mit ihr wechseln zu  
müssen, ich werde alles daran setzen, zumindest mit einer von den Tussis da  
drinnen was zu haben. Und wenn es die Kleine ist, die mich im Wartezimmer  
zugetextet hat. Lieber öde als ergeben.  
„Cool.“ Ich nicke.  
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„Wir müssen dich noch abpudern.“ Nervös kichert sie. Kann man ignorant  
genug sein, um nicht zu erkennen, dass der andere überhaupt kein Interesse  
hat? Weniger als überhaupt kein Interesse? Ein derartiges Minusinteresse,  
dass es strafbar sein müsste, dieses angebliche Interesse überhaupt mit  
diesem Interessenbegriff noch zu bedenken?  
„Toll.“ Schminke. Auf mein Gesicht. Klasse.  
„Wenn du das möchtest, könnte ich deine Wangenknochen noch besser  
hervorheben?“, bietet sie mir gedämpft an.  
„Meine Wangenknochen sind toll. Danke für das Angebot.“  
„Gern.“ Sie lacht. „Das sollte auch nicht heißen, dass sie nicht gut sind. Ich  
hatte nur Sorgen, dass bei dem Licht etwas verloren gehen könnte.“  
„Das passt schon.“  
„Da bin ich sicher!“ Dieses kokette Kichern macht mich noch zum Mörder.  
„Du bist so perfekt, das kann niemand übertünchen.“  
„Genau.“ Für Bescheidenheit bin ich zu genervt.  
„Ich liebe es, zu sehen, wenn ein Mann weiß, was er will.“  
Seine Ruhe? „Cool.“  
„Ja, oder?“ Sie streicht sich demonstrativ eine Strähne aus dem Ausschnitt.  
„Du bist so witzig!“  
„Danke.“ Sie ist die größte Prüfung von allen.  
„Am besten du stellst dich direkt mit deinem Spitznamen vor“, plappert sie  
weiter. „Das wirkt sympathischer und als hättest du die Zuschauer bereits ins  
Herz geschlossen.“  
„Gut.“  
„Lächle.“ Sie streicht sich die Strähne zurück ins Dekolleté. „Du siehst absolut  
umwerfend aus, wenn du lächelst.“  
„Danke für den Tipp.“  
„Jederzeit. Ich“, sie stockt, „wünsche mir von ganzem Herzen, dass du weit  
kommst. Wenn du dort bist, kannst du strahlen. Deswegen arbeite ich hier  
überhaupt nur.“ Unsicher lacht sie. „Um das Beste aus den Leuten  
herauszuholen.“  
„Und was erhoffst du dir davon?“, frage ich distanziert.  
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„Dass sie mich mögen“, flüstert das Mädchen. Für einen Moment überlege  
ich, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich ihren Namen in der Sekunde  
vergessen habe, als sie ihn nannte.  
„Ah.“ Ich räuspere mich und ringe mir eine desinteressierte Frage ab. „Hat  
das schon einmal geklappt.“  
Das überdrehte Grinsen kehrt auf ihr Gesicht zurück. „Ständig!“, ruft sie aus.  
„Wirklich, am laufenden Band. Nur! Ich liebe es. Sie lieben mich. Wir sollten  
nach der ganzen Sache unbedingt einen Kaffee trinken gehen.“  
„Ja“, wiederhole ich und betrachte mein Spiegelbild, dieses Mal unverhohlen.  
Den Kerl, der mich aus seinen freudlosen, blauen Augen anstarrt, kenne ich  
nicht. Er wirkt grimmig und als würde er sein Leben mehr hassen als alles  
andere. Die Haare lassen ihn verwegen wirken und so, als wäre er bereit, den  
nächstbesten Supermarkt zu stürmen und die Babys in den Kinderwagen  
anzuzünden. Ich bin verdammt heiß. Ich bin zum Kotzen. Das Mädchen hat  
genau das aus mir hervorgeholt, was sie sieht. Schade, dass sie es nicht  
einfach gut lassen konnte.  
„Du bist einer dieser Menschen“, sie stockt, „die jede Frau erobern möchte.  
Du wirst dich nicht vor Mädchen retten können.“  
„Kann gut sein.“  
„Jede möchte wieder ein Lächeln auf deine Lippen zaubern und jede möchte,  
dass du nur ihr gehörst.“  
„Du weißt, was man über diese Mädchen sagt.“ Ich straffe die Schultern.  
„Wie sie enden.“  
„Einsam und mit einem Haufen Katzen?“ Lachend verstaut sie ihr Haargel und  
tupft sich die Finger ab. „Man hört hier doch von nichts anderem mehr.“  
„Toll.“  
„Ja.“ Sie strahlt mich an und dieses Mal hätte ich ihre Geste um ein Haar  
erwidert. Dann erinnere ich mich daran, wie sehr ich alles hieran hasse. Das  
einzig gute ist das Geld. Mehr als genug. So viel, dass ich danach darin baden  
kann und nicht mehr auf die Meinung abgehobener Designer angewiesen bin.  
Sie werden mich alle wollen. Und wenn nicht? Dann starte ich meine eigene  
Marke. Ich werde mein eigenes Gesicht sein. Sie werden vor mir niederknien.  
Sobald der Dreck hier vorbei ist, bin ich ein besserer Mensch. „Lass dich von  
einem dieser Mädchen überzeugen“, sagt sie und klopft mir auf den  
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Unterarm. „Falls keine von ihnen gut genug für dich sein sollte, warte ich  
immer noch auf dich.“ Ihre Wangen sind fiebrig rot.  
„Cool.“ Ich räuspere mich. „Ganz toll.“ Was meine erste Aussage retten sollte,  
macht sie nur noch schlimmer.  
Leise seufzend schüttelt sie den Kopf. „Gleich wird ein junger Herr  
hierherkommen und den Raum ausleuchten. Er wird dir ganz einfache Fragen  
stellen. Wie heißt du, wo kommst du her, was machst du gern. Sowas halt.“  
„Und wenn ich nicht darauf antworten will?“  
„Dann denk dir was aus.“ Lachend wirft sie sich den Riemen ihrer Tasche über  
die Schulter. „Denk daran, die Kleidung wird auch zu deinem Einzug getragen.  
Alles andere wartet im Produktionsbereich auf dich.“  
„Schön.“  
„Wir sehen uns, Lad.“ Der Name klingt wirr und verzerrt.  
„Klar.“ Es wird sich wohl nicht verhindern lassen. Ich ziehe in ein pinkes  
Puppenhaus ein mit einem grünen Baum auf meinem Arsch und wann immer  
meine Haare verrutschen, wird sie zur Stelle sein und mich an den Rand des  
Wahnsinns treiben.  
Mir bleibt keine Zeit durchzuatmen. Kaum dass sie den Raum verlassen hat,  
rückt der beschriene junge Mann nach. Ödes, bleiches Gesicht, eine schiefe  
Brille, ein gut geschnittenes Hemd, das wohl den Gesamteindruck retten soll.  
Breit grinst er mich an.  
Ich hasse alles an diesem Mann.  
„Stell dich einmal vor“, sagt er breit lächelnd. Feige verbarrikadiert er sich  
hinter seiner Kamera. „Wie heißt du? Wo kommst du her?“  
Ich fühle mich wie bei einem Kindergeburtstag im Kindergarten. Jeder  
bekommt eine Klopapierrolle und so viele Blätter er abreißt, so viele sinnlose  
Fakten über sich muss er nennen. Ich sollte einfach das Beste daraus machen.  
Grinsen. Modeln. So tun, als wäre das der Job meines Lebens und als würde  
ich alles daran lieben.  
Ich kenne mich nicht aus mit diesen Formaten, aber meistens hängt es doch  
an den Zuschauern, oder? Nach dieser Nummer will ich ein reicher Mann  
sein. Dafür muss ich durchhalten, dafür brauche ich Sympathien.  
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Bei Shootings fällt mir das Grinsen nicht schwer. Warum also hier? Da sind  
auch nur Kameras. Ein greller, pinker Hintergrund mit blauen Palmen darauf.  
Das passt schon.  
„Lad“, sage ich mit einem schiefen Grinsen und stelle mir vor, dass ich jede  
Sugar vor dem Bildschirm rumbekommen will. Kohle. Hierfür gibt es  
haufenweise Kohle. Neue Jacke, neues Auto, neues Leben. „Mein Name ist  
Lad und ich komme aus einer dieser winzigen Vorstädte, die keiner kennt.“  
Glucksend lehne ich mich zurück und stütze gleichzeitig die Hände auf  
meinen Knien auf. „Das beste an mir ist mein Hund. Wir sind zusammen  
aufgewachsen! Als ich klein war, hat er mich zugedeckt.“ Als er alt wurde,  
habe ich ihm sein Futter kleingeschnitten und am Ende püriert. Er hat es  
trotzdem nicht mehr lange gemacht. Wem die Kohle fehlt, der kann keinen  
Köter durchbringen. Geld regiert die Welt und meine Familie hat das ein paar  
Jahrhunderte zu spät gerafft.  
„Wie heißt dein Hund?“, fragt mich der Kameramann fröhlich.  
Geht ihn einen Scheißdreck an. „Mag klischeehaft wirken“, lachend werfe ich  
den Kopf in den Nacken, „aber Snoopy. Er war einer dieser süßen, kleinen  
Vierbeiner, die durch die Straßen geirrt sind.“  
„Was machst du so, wenn du nicht gerade hier bist?“  
„Ich bin Model“, erwidere ich schlicht. Muss keiner wissen, dass niemand  
mich je buchen wollte. Ich wurde als Model geboren, ich werde als Model  
sterben und wenn ich bis dahin nie einen Job hatte, ist das deren Pech, nicht  
meines. Dann haben die das Potential nicht gesehen. Peinlich, wenn man  
mich fragt. „Die meiste Zeit über reise ich durch die Gegend und versuche auf  
alles klarzukommen.“  
„Warum machst du hier mit?“  
Weil es gutes Geld gibt und ich im Keller einer Crackoma lebe, die ihren  
Fernseher nur noch fünffach verstärkt hört.  
„Das ist das krasseste Abenteuer!“, rufe ich aus. „Ich suche den Kick, ich  
suche die Frau an meiner Seite. Ich suche einfach den perfekten Moment.“  
„Wie müsste deine Traumfrau aussehen?“  
„Aussehen?“ Ich lache auf. „Sie muss gut zu mir sein. Schon heiß, aber vor  
allem nett. Ich mag Frauen, die breit lächeln können.“  
„In wie vielen Beziehungen warst du schon?“  
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Keiner einzigen. Keiner, die länger als zwei Wochen hielt. Die rennen von mir  
weg, als wäre ich giftig. Die sehen mein Potential ebenso wenig wie die  
ganzen Penner in ihren teuren Firmen. „Zwei ernsthaften“, antworte ich.  
„Manchmal verknall ich mich halt, aber zwei haben länger gehalten.“  
„Wie lange?“  
„Die längste“ zwei Wochen und drei Tage „zwei Jahre und drei Monate.“  
„Was sollten wir über dich wissen?“  
„Ich liebe den Nervenkitzel“, sage ich. „Ich liebe die Herausforderung und  
wenn ihr die krasseste Show überhaupt erleben wollt“, ich zwinkere in die  
Kamera und fühle mich dabei wie eine Katze mit Sehstörungen, „schaltet ein.  
Ich bin der, der euch den Verstand rauben wird.“  
Einige Momente vergehen, dann nickt der Kameramann zufrieden. „Haben  
wir drauf. Ging schnell!“  
„Ja.“ Das Licht ist scheißheiß. Ich will einfach raus hier und mir die Beine  
vertreten. Die Kleidung kotzt mich an, die muffige Luft auch und das  
zufriedene Grinsen erstrecht.  
„Wo hast du den Sunnyboy hergeholt?“  
„Ich bin Model“, wiederhole ich trocken. „Das ist mein Job.“  
„Sehr gut“, emsig nickt er, „sehr, sehr gut.“  
„Gut.“  
„Lad ist eine sehr gute Namenswahl“, stellt er fest. „Sehr einprägsam.  
Clever!“  
„Ja.“  
Lachend geht er um die Kamera herum, um mir mit dem Ellbogen in die Seite  
zu knuffen. Keinen Schimmer was das soll. „Die haben dir schon verraten,  
dass für dich angerufen werden muss, was?“  
„Nein.“ Ich verschränke abwehrend die Arme vor der Brust. „Ich bin selbst  
drauf gekommen.“  
„Aus dir kann man viel machen“, stellt der Kameramann zufrieden fest. „Ich  
bin mal gespannt, zu wem der Schnitt dich macht.“  
„Solange sie für mich anrufen, bin ich zufrieden.“  
Der Kameramann rollt die Augen und schaltet einige der glühenden  
Flutlichter aus. „Die ganze Frauenwelt wird sich die Finger wundtippen. Du  
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bist genau das, was sie sehen wollen. Einen durchtrainierten Mann, den sie  
erobern müssen.“  
„Wir haben mein Alter nicht auf Band“, stelle ich nüchtern fest.  
„Blenden wir ein“, sagt der Kameramann, ohne mit der Wimper zu zucken.  
„Jeder sagt wie alt du bist. Gut, mit dem Hund anzukommen.“ Schmierig  
grinsend lehnt er sich gegen einen der Metallständer. „Den gibt es gar nicht,  
was?“  
„Er ist vor einigen Jahren verstorben“, räume ich ein. „Wir standen uns sehr  
nah.“  
„Da erobert jemand die Herzen der Damen im Sturm.“ Erneut werde ich in  
die Seite geknufft. Meine Fäuste zucken. Ich will ihm eine Abreibung  
verpassen, die sich gewaschen hat. „Sie werden dir zu Füßen liegen. In der  
Produktion, vor den Fernsehgeräten. Du bist einer dieser Einschaltgaranten.“  
„Toll.“  
„Männer, die so gefällig und gleichzeitig einzigartig sind wie du, die gibt es  
nur ein paar Mal auf der Welt.“  
Vor denen wollte mich trotzdem niemand haben. Weil die unfähigste Agentin  
aller Zeiten mein Geld verraucht hat. „Das freut mich doch.“  
„Du wirst unser Goldesel.“ Er kneift mir in die Wange. Wenn ich Mitglieder  
der Produktion angreife, wird mir das nicht weiterhelfen. Also halte ich still.  
Am Ende des Weges liegt ein unverschämt großer Haufen Geld. Kohle, bei der  
niemand fragen wird, wo ich sie herhabe.  
„Lad, lächle genauso wie jetzt, sobald du in die Villa einziehst.“  
„Wann?“  
„In einigen Stunden.“  
„Klar.“ Die halten mich für Anproben und so Scheiß schon dermaßen lang hier  
gefangen, ich habe schon keinen blassen Schimmer mehr, welcher Tag ist.  
„Ich lächle und erobere einige Frauenherzen.“  
„Alle.“ Erneut lacht der Mann und alles an diesem schmierigen, hämischen  
Geräusch ist falsch. „Die Kerle werden schwul für dich werden.“  
„Toll.“ Schlussendlich stehe ich weder auf Frauen noch Männer, solange der  
Geldhahn zugedreht bleibt.  
„Gib uns eine Show“, sagt er und klopft mir auf die Schulter. „Deswegen bist  
du hier. Für eine verdammt gute, verdammt heiße Show. Mach alles draus,  
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was du dir vorstellen kannst.“  
„Ja.“  
„Alles, was du tust und sagst, wird aufgezeichnet werden“, warnt der  
Kameramann mich. „Denk dran. Kann man alles schneiden. Also sei nett zu  
der Produktion und mach dich ran an die hübschen Ladies.“  
„Klingt sinnvoll.“ Nie hat sich Geldverdienen dermaßen dreckig angefühlt.  
„Sobald du da reingehst“, weist er mich an, „strahlst du.“  
„Ja.“  
„Wir schneiden das Material.“ Ein Assistent öffnet die Fenster und ich  
inhaliere die eisige Luft. Zwischen grellen Farben und bitteren Gerüchen habe  
ich fast vergessen, dass Winter ist. Ich sehe nach draußen. Der Schnee stiebt.  
Noch immer. Wenn er weiter so macht, begräbt er bald die ganze Stadt unter  
sich.  
Keine Ahnung, ob ich raus darf. Es juckt mir in den Beinen. Trotzdem mache  
ich vor dem Fenster halt. Kalt wird es draußen sein. Nächstes Jahr um die Zeit  
muss es mich nicht jucken, wo ich penne. Da habe ich eine dieser  
unverschämt teuren Hütten, meine eigene Heizung, mein eigenes, echtes  
Bett und muss mir um nichts mehr Sorgen machen. Nächstes Jahr um diese  
Zeit bin ich der glücklichste Mann der Welt. Ich könnte mir einen neuen Köter  
anschaffen und dann passt das schon. Sobald das Geld da ist, kann ich alles  
haben.  
Dafür muss ich abliefern. Dafür muss ich grinsen und winken und scheiße  
freundlich sein.  
Klingt nach dem ätzendsten und dem simpelsten Job der Welt. Ich drehe  
mich um und hebe leicht meine Mundwinkel. Mein Gesicht verändert sich.  
Die Kanten werden weicher, die Augen einladender. Einfach grinsen, dann  
wollen sie mich schon.  
Passt schon.  
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Sternlose Nacht (Amelia)  
Mir wird das Handy abgenommen. Auf ihm häufen sich die empörten  
Nachrichten Marquoires. Keine einzige habe ich beantwortet. Dieser Fall ist  
nicht länger der meine. Die Kanzlei hat sich seiner angenommen, nirgends  
steht mein Name. Für den Moment bin ich des Lügens und Betrügens müde.  
Das weiße Shirt ist schlicht verarbeitet, aber schmiegt sich weich an meinen  
Körper. Die Hose reibt leicht über meine Haut, bleibt gut genug. Mein Puls  
hat sich beschleunigt. Das heiße Licht der Scheinwerfer strahlt auf mich und  
ich fixiere die Türen mit Blicken. Sobald ich durch sie hindurchschreite, wird  
jede meiner Regungen aufgezeichnet werden. Jede Sekunde des Tages. Jedes  
meiner Worte, jeder meiner Atemzüge. Ich bin jedem zusehenden Menschen  
ausgeliefert und ziehe es dem Gerichtssaal dieses Mal vor. In meiner Position  
dürfen Skrupel nicht greifbar werden. Diesen Raubmörder hätte ich weder  
mit gutem noch mit schlechtem Gewissen vertreten können.  
Eine mir fremde, junge Frau gesellt sich zu mir. Das blonde Haar hat sie in  
engelsgleichen Locken um ihr gebräuntes Gesicht drapiert, die Oberweite  
groß genug, damit sie auf den Rücken schlagen muss. Sie hat die Schultern  
eisig gestrafft und wirft mir einen kurzen Blick zu.  
„Sicher, dass du hier nicht falsch bist?“, spottet sie und betrachtet mich  
eingehend. Das weiße Shirt spannt über ihrer Brust, als wolle es reißen. In  
dem grellen Licht der Scheinwerfer schimmert der Highlighter weiß. Ihr Po ist  
perfekt geformt und sie hat das Shirt über ihrem Bauchnabel  
zusammengeknotet.  
Sie bietet sich an, ich verstecke mich vor laufender Kamera. Beide haben wir  
die gleiche Daseinsberechtigung. Eine gnadenloser als die andere.  
„Ja“, antworte ich schlicht. Manchmal braucht es keine Erklärung.  
Sie wirft sich das dichte Haar über die Schulter und der Geruch eines billigen,  
stechenden Parfums weht mir in die Nase. Ich verharre regungslos. Ich  
befinde mich in einer weiteren Verhandlung und fürchte keine Sekunde  
davon.  
Ein mechanischer Countdown beginnt zu zählen. Die Türen entriegeln sich  
leise klickend. Bei Null schwingen sie auf und konfrontieren mich mit einem  
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grellen Farbenmeer. Pinke Liegen suhlen sich auf künstlichem Rollrasen,  
dessen Nuancen zu brutal gewählt wurde. Blauer Himmel über uns, aber ich  
kann die Hitze der Sonne nicht auf meiner Haut spüren. Die Scheinwerfer  
befinden sich überall. Sie haben uns in einen gigantischen Container gesperrt.  
Die junge Frau neben mir beginnt zu kreischen, als wäre sie besessen. Einige  
Momente braucht es mich, dieses schrille Geräusch einzuordnen. Aufgesetzte  
Begeisterung. Meine Mundwinkel heben sich und ich breite leicht die Arme  
aus, als wolle ich die Umgebung mit Händen greifen.  
Jeder Prozess ist ein Schauspiel. Meine Bühne hat sich ins Üble verändert. Sie  
ist übelriechender und verdrehte Wahrheiten legen nicht länger die Basis  
meines Handelns. Die flachen Schuhe lassen mich klein neben der anderen  
Frau fühlen, während sie kreischend und rufend von Bereich zu Bereich läuft,  
den Po leicht hinausgestreckt, als wolle sie ihn jeder Kamera im Umkreis  
präsentieren.  
Die Überwachungsmechanismen häufen sich. Ich erkenne verschwommen  
Türen in den Wänden, während ich mit ihr lache. Vermutlich wird jede  
einzelne davon verschlossen sein und das Format verbietet es mir, an ihnen  
zu rütteln. Die Details des Vertrages lassen mir Schauer über den Rücken  
laufen. Wie weit ich gehe, um mir selbst zu entfliehen, wird mir unheimlich,  
während diese Show real wird.  
Alle zwei Meter befindet sich eine Kamera ungefähr auf einer Höhe von zwei  
Metern und fünfzig Zentimetern. Um jeweils einen Meter versetzt wurden  
ähnliche Gerätschaften wenige Zentimeter über dem Boden angebracht. Zwei  
Hand breit womöglich. Sobald wir Röcke tragen, wird man uns problemlos  
darunter leuchten können.  
Ein Teil von mir möchte umdrehen und gehen, während die Türen noch  
geöffnet sind. Als hätten sie meine Gedanken vernommen, schließen sie sich  
unauffällig, während die junge Frau noch immer vor Begeisterung  
quietschend eine Flasche billigen Sekt entkorkt. Der Gestank des Alkohols  
beißt mir in die Nase.  
„Lass uns anstoßen“, sagt sie mit strahlenden Augen. Nichts ist von ihrer  
abfälligen Ablehnung geblieben.  
„Ich konsumiere keinen Alkohol“, gestehe ich ihr mit einem kleinen Lächeln  
und als sie Anstalten macht, die Flasche sinken zu lassen, nehme ich sie ihr ab  
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und schenke ihr ein. Kichernd greift sie nach dem Glas und lässt sich in einer  
fließenden Bewegung auf einen der grellen, chemische Gerüche  
absondernden Sitzsäcke fallen. Das Neongrün wird sich mit jeder  
tatsächlichen Farbe beißen.  
„Melly“, stellt sie sich mir vor, nachdem sie den Sekt mit einem Schluck zur  
Hälfte geleert hat. „Du?“  
Ich interpretiere den abgehackten Einwortsatz als Bitte, mich ihr vorzustellen.  
„Amelia.“ Das Lächeln behalte ich bei. Wohin ich auch gehe, sollte es unter  
Beobachtung nie verrutschen. „Wir scheinen die Ersten hier zu sein.“  
„Weißt du, was das bedeutet?“, raunt Melly und lehnt sich mit funkelnden  
Augen zu mir. Ich überrage sie deutlich. Automatisch gehe ich in die Knie und  
hebe einen Mundwinkel.  
„Sag es mir“, bitte ich sie.  
Ich bin Melly nah genug gekommen, dass ihre Lippen beinahe mein Ohr  
berühren. Als sie zu kreischen beginnt, fahre ich zurück und plumpse  
ungelenk auf meinen Po. Laute Geräusche? Waren mir stets unerträglich.  
„Wir haben die ganze Villa für uns allein! Sie gehört nur uns, siehst du das?“  
Schwer das pinke Gebäude mit den orangen Kunstbüschen davor zu  
übersehen. Ein stechender Kopfschmerz kriecht mir in den Schädel. Die bloße  
Umgebung übt einen ungeahnten Druck auf mich aus.  
„Das ist aufregend“, sage ich pflichtbewusst.  
„Wir müssen uns jedes einzelne Zimmer ansehen.“ Sie knickt die langen  
Beine ein und kämpft sich zurück auf die Füße. Die Haut über ihrem Busen  
spannt gefährlich. Ich befürchte, dass er aufreißt und mir die Implantate  
entgegentaumeln. Kaum merklich schüttle ich den Kopf. Diese Vorstellung ist  
an Realitätsferne nicht zu überbieten. „Jedes einzelne! Das Bad. Bestimmt  
haben sie eine gigantisch große Wanne.“  
Toll. „Das klingt verführerisch.“  
„Das klingt verführerisch?“, äfft sie mich nach. „Kannst du auch normal reden  
oder bist du völlig hirngewaschen?“  
Angespannt beiße ich mir auf die Innenseite meiner Wange. Adrenalin strömt  
durch meine Adern. Was habe ich schon zu verlieren? Meinen Ruf, mein  
Haus, mein Leben.  
74  
Alles davon hätte mir mit diesem Klienten entrissen werden können.  
Marquoire wird gegen den Staat persönlich antreten. Ich bin feige genug, um  
mich im künstlichen Licht zu präsentieren, als hocherhobenen Hauptes den  
Gerichtssaal zu betreten, um zu lügen.  
Anstatt einer Antwort lache ich glockenhell auf und hake mich bei ihr unter.  
Sie ist größer als ich und ihre Haut fühlt sich gleichzeitig schmierig glatt als  
auch fiebrig warm an. Cremes, die die Hitze der Scheinwerfer fangen? Leichte  
Schweißflecke bilden sich unter ihren Armen. Weiße Kleidung tilgt genug  
davon.  
„Wir werden bestimmt alle zusammen schlafen“, stellt Melly fest. „Wenn es  
bei uns beiden bleibt“, sie zwinkert mir zu, „können wir uns ein Bett teilen.“  
Lieber nehme ich mich des Bodens an. „Ja.“ Ich lache erneut und bemühe  
mich redlich dümmlich und naiv zu wirken.  
„Deine Brüste“, sagt Melly unvermittelt, „sind die echt?“  
Eine überflüssige Frage. Ich fülle kaum ein A-Körbchen aus. „Ja. Ich mag sie  
sehr.“  
„Du solltest da dringend was machen lassen.“ Vage deutet sie mit ihrem  
Zeigefinger auf meine Oberweite. „Du bist flach wie ein Kerl.“  
Meine Mundwinkel heben sich mechanisch. „Kannst du mir einen guten  
Chirurgen empfehlen?“  
„Jeder ist gut!“, ruft sie aus. „Jeder, der dich ganz genau ansieht und genau  
weiß, wie viel dein Körper vertragen kann, ohne dass es künstlich wirkt.“  
Stolz wirft sie sich in Pose, als hoffe sie auf eine ähnliche Frage. Ob ihre  
Brüste nachgebessert wurden. Ihre hyalurongefüllten Lippen, die gestrafften  
Lider, das dichte Haar. „Bei wem hast du deine Extensions gekauft?“, fragt sie  
mich unvermittelt. „Das muss doch wahnsinnig schwer sein, bei dieser Farbe  
was Gutes zu finden!“  
„Das ist mein natürliches Haar.“  
Unvermittelt bleibt Melly stehen. „Hast du nie was an dir machen lassen?“  
„Nein.“ Ich zögere. „Ich mag mich, wie ich bin.“ Mir blieb nie viel Zeit, mir  
über meine Äußerlichkeiten den Kopf zu zerbrechen. Wer aus dem Loch der  
Armut kriechen will, muss fünfmal besser sein als jeder andere.  
„Nie?“, fragt sie schrill. „Nicht einmal die Sommersprossen?“  
75  
„Die habe ich von Natur aus.“  
„Warum sind sie dann so perfekt?“ Sie stemmt die Arme in die Hüften.  
„Abgesehen von deinem Arsch und deinen Brüsten siehst du halt echt gut  
aus.“  
„Danke.“ Ich distanziere mich emotional zusehends von der Situation. Auf  
mich wirkt es, als versuche Melly, mich in eine bestimmte Ecke zu drängen,  
und ich weiß nicht, welche sie meint.  
„Warum sind alle anderen Frauen immer so perfekt?“, jammert sie und legt  
sich theatralisch den Handrücken der rechten Hand auf die Stirn. „Warum  
wurde jede andere Frau beschenkt und ich muss mein Erspartes für meine  
Brüste ausgeben?“  
„Du bist schön“, lüge ich. In jemandes Augen wird sie die Frau sein, die er  
braucht. Mich räuspernd biete ich ihr meine Hand an. „Wir sollten die Villa  
erkunden, bevor die anderen kommen.“  
Aufgesetzt schniefend blinzelt sie in das Flutlicht, dann mit tränenden Augen  
in die Kameras, ehe sie nickt und neben mir hergeht, als trüge sie hohe  
Schuhe. Was nicht der Fall ist. Wir wurden auf die gleiche Weise ausgestattet.  
Die Sohlen sind kaum einen Zentimeter dick.  
„Sollten wir“, sagt sie heiser. „Sollten wir unbedingt.“ Nachdenklich betrachte  
ich sie, während Melly vor mir die Treppe erklimmt. Nichts an ihrem  
Verhalten wirkt natürlich oder greifbar. Man lässt mich mit einer seelenlosen  
Puppe das Gebäude durchschreiten, während über unseren Köpfen eine  
sternlose Nacht herrscht, übertüncht von blauer Farbe und kreischenden  
Scheinwerfern. Sie ist dieser Ort in Person und ich fürchte sie dafür genug,  
um stets zwei Schritte hinter ihr zu gehen.  
Im ersten Stockwerk befindet sich der Schlafraum. Auf unangenehme Weise  
erinnert er mich an Klassenfahrten, denen ich zu entfliehen glaubte. Auf  
babyblauen Bettgestellen befinden sich schneeweiße Matratzen, bedeckt mit  
Kissen, auf denen Namen stehen, und Decken, die lieblos verarbeitet wurden.  
Einige von ihnen ziehen Fäden und sie alle sind blau wie das Gestell. An der  
Wand befindet sich ein Flachbildfernseher, lang wie ich. Die Kameradichte  
nimmt hier zu und deutet auf die Betten. Was man hier des Nachts auch  
treiben mag, nichts wird unentdeckt bleiben.  
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„Das ist der Wahnsinn!“, ruft Melly aus und lässt sich schwungvoll auf das  
Bett mit ihrem Kissen fallen. Die blonden Locken wippen und der Busen bleibt  
Regungslos. Ein guter BH oder gnadenlose Arbeit. „Sieh dir das nur an!“  
Ich tue es, begreife ihre Aufregung nicht, spüre jedoch, wie sich diese  
stechende Übelkeit in jeder meiner Fasern manifestiert. Ich fliehe vor meinen  
Pflichten und wurde in die Hölle gestoßen.  
„Atemberaubend“, bringe ich hervor, während mein Brustkorb sich langsam  
zuschnürt. „Ich mag die Kissen gern.“  
„Mit unseren Namen drauf!“  
Melly ist zu laut. Diese Umgebung klingt zu schrill. Die Scheinwerfer strahlen  
zu warm und hell. Ich ahme Melly nach und setze mich kichernd auf die  
Betthälfte mit meinem Kissen. Jede Energie wird mir entzogen, während ich  
mich in dieser widernatürlichen Umgebung befinde. Meine Füße kribbeln  
unnatürlich und das Herz rast. Kalter Schweiß trieft mir den Rücken hinab. Ich  
fürchte mich. Ich fürchte mich vor allem, was noch kommen mag, in einem  
Maß, das ich nie kannte. „Die sind süß“, stelle ich fest und fahre lachend den  
Schriftzug nach. Meinen Namen hier zu sehen, fühlt sich falsch an. Ich habe  
mich in die verzerrteste Richtung wehen lassen, sie mit der richtigen  
Entscheidung verwechselt, und mich in einen Käfig gesperrt, in dem ich  
ersticke, wenn der Strom ausfällt.  
„Sie sind mehr als nur süß. Sie gehören uns!“  
Uns gehört nichts hier. Nicht einmal unser Leben, unser Gewissen oder unser  
Hoffen. Ich lecke mir über die Lippen. Mein Mund ist staubtrocken.  
Ein hoher Glockenton ertönt. Ich will mich unter dem Bett verkriechen und  
nicht mehr hervorkommen. Die Farben erschlagen mich, die Gerüche  
erdrosseln mich, das Licht blendet mich. Ich komme auf meine wackligen  
Beine und weiß nicht, wohin ich gehen soll. Schließe ich die Augen, dehnt sich  
die sternlose Nacht ins Unermessliche aus. Ein Stahlgewitter scheint  
aufzuziehen und den Silberregen zu erlösen. Meine Hände zittern und ich  
verschränke die Arme vor der Brust.  
Ich erinnere mich an die Diagnose, die ich im Kindesalter erhielt, und  
verleugne sie, während ich Melly zu dem Fenster folge. Nach draußen sollte  
es zeigen, auf eine echte Wiese, hin zu einem wahrhaftigen Himmel, der die  
Wirklichkeit nicht bis auf den letzten Millimeter aussperrt.  
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„Da kommen Jungs!“, ruft sie schrill aus. Aufgeregt deutet sie durch das  
Fenster ohne Scheibe auf die Wiese.  
Meine Rückenmuskulatur verkrampft sich gewaltsam. Im Warteraum  
erachtete ich ihn für einen Trugspiel meiner Sinne, für Einbildungen,  
geschaffen von Erschöpfung und Müdigkeit. Das dunkle Haar fällt ihm in die  
klaren, blauen Augen und er hat die zerschlissene Jacke gegen ein weißes  
Shirt getauscht. Man hat versucht, ihn zu frisieren, und einen Mann aus ihm  
gemacht, der nicht existiert. Die Hände locker in den Taschen betrachtet er  
jedes Detail unverhohlen. Verharrt sein Blick wie meiner für einen flüchtigen  
Moment an den Türen, die wir nicht werden öffnen können? Erneut wird der  
Container verriegelt, der von innen wirken mag wie ein Paradies, geschnitten  
aus einer grellen Werbung für Kinderspielzeug.  
Sie haben uns noch nicht entdeckt. Der neben ihm ist schmaler und  
unverschämt attraktiv. Von Natur aus scheinen seine Lippen zu einem breiten  
Lächeln gekräuselt sein, das helle Haar fällt ihm in die Stirn. Als hätte man uns  
Tag und Nacht hereingeschickt, so gleich und so verschieden zugleich, frisiert,  
als versuchte man, den einen mit dem anderen zu kopieren und den einen  
durch den anderen zu vergessen.  
„Jungs“, ruft Melly gedehnt. „Hier.“  
Sie heben die Blicke. Für einen flüchtigen Moment hoffe ich darauf, dass die  
Nacht dunkel und spät genug war. Er erkennt mich, die Augen werden  
schmaler und er legt den Kopf kaum merklich schief. Meine Lippen sind  
zuverlässig zu einem breiten Lächeln verzogen und ich winke, als hinge mein  
Leben davon ab. Mir schmerzen die Knochen bis ins Mark, während ich mit  
Melly gemeinsam auf und ab hüpfe, als wären wir unfähig, unsere Energie  
auf der Herabsteigen der Treppen zu fokussieren. Ich lasse mich von Melly  
mitreißen, passe meine Handlungen an ihre an, während ein Teil von mir  
schreiend und kreischend um sich tritt. Panik schmeckt bitter und verätzt mir  
die Zunge. Kichernd knuffe ich Melly in die Seite. „Das ist die beste  
Überraschung des Tages!“  
„Ich nehme den mit den dunklen Haaren“, sagt Melly sofort. Jede soll ihn  
haben, solange sie in der Lage sind, ihn von mir abzulenken. „Er ist so süß!  
Hast du je einen so süßen Typen gesehen?“  
Ich mache mir nichts aus anderen Menschen. „Den neben ihn“, gluckse ich  
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und lehne mich mit der Hüfte gegen den Fensterrahmen. Die Männer  
kommen zu uns und ich will mich im Badezimmer einsperren. Darin werden  
sich Kameras befinden. Sie sind überall. Ständig. Sie verfolgen mich. Eine  
Paranoia erwacht, von der ich glaubte, losgekommen zu sein. Seit mehreren  
Monaten beschäftige ich keinen Privatdetektiv mehr und keine Leibwächter.  
Während ich mich in diesem grellen, sicheren Hafen befinde, erinnere ich  
mich an das Zucken in den Muskeln bei jedem Geräusch. Weil jedes einen  
neuen Angreifer bedeuten könnte. Arbeite ich mit dem einen Verbrecher,  
kommt der nächste. Nur solange ich ihre Interessen erfolgreich vertrete,  
behalte ich meinen Kopf. Entweder ich finde Marquoire als Präsent vor oder  
er thront auf meinem Platz an der Spitze der Kanzlei. Alles oder nichts.  
Ich sehe mich um und die bunten Farben veröden meine Fähigkeit zu sehen.  
Alles oder nichts. Wohin ich mich auch wende.  
„Hallo Ladies“, ruft der Blonde aus und wirft sich im Türrahmen in Pose. Der  
Fremde verharrt hinter ihm. Ob nun in zerschlissener Jacke oder nüchternem  
Shirt, er behält diese düstere, undurchsichtige Ausstrahlung bei. Zu hilflos,  
um Verbrechen zu begehen, und zu finster, um geliebt zu werden. „Was  
geht?“  
„Die Party unseres Lebens!“, kreischt Melly und fällt ihm um den Hals, als  
würden sie einander ewig kennen. Er begrüßt sie mit einem Kuss auf den  
Mundwinkel, erst rechts, dann links. Sie fächelt sich mit fiebrig roten Wangen  
unter dem Highlighter Luft zu. „Du bist heiß! Ich verbrenne mich, sobald ich  
dich sehe.“  
„Mir geht alles flöten, wenn ich dich sehe!“, ruft er aus. Die beiden sind aus  
dem gleichen Holz geschnitzt. Unwillkürlich suche ich den Blick des Fremden.  
„Wie heißt ihr?“, frage ich, dieses einfältige Glucksen in der Stimme, während  
mein Innerstes von Moment zu Moment tiefer gefriert.  
„Benni“, stellt sich der attraktive, blonde Mann vor, das Lächeln zu weiß, um  
real zu sein. Der Fremde sagt kein Wort. „Das ist Lad“, sagt Benni schnaufend.  
„Der redet nicht so viel. Nimm es ihm nicht übel.“ Besitzergreifend schlingt er  
einen Arm um Melly. „Der ist nicht so helle.“  
Ich befürchte, dass Lad zu intelligent ist, um ihn aus den Augen lassen zu  
dürfen. Die Ruhe, die er ausstrahlt, ist gefährlich. Irrsinnig, ab einem  
bestimmten Punkt. Mit einem kleinen Lächeln, das ihn unberechenbarer  
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macht, schiebt er sich an Benni vorbei und legt mir eine Hand auf den  
Unterarm. Ich warte darauf, dass er unsere Bekanntschaft offiziell macht und  
uns in neue, in andere Probleme bringt.  
„Du bist süß“, sagt er und ahmt Bennis Übergriffigkeiten nach. „Wie Zucker.“  
„Amelia“, stelle ich mich vor.  
„Sugar“, sagt er und dieses eine Wort klingt aufreizend schmierig genug,  
damit ich ihm für die übrige Zeit den Mund verbieten will. „Darf ich dich so  
nennen?“  
Wir sind live. Jede meiner Regungen wird aufgenommen. Jede Entgleisung  
könnte geschnitten, aus dem Kontext gerissen und ausgestrahlt werden. Ich  
schenke Lad mein Schönstes Lächeln. „Nur wenn ich dich nennen darf, wie  
ich will.“  
„Zu jeder Zeit.“  
Mir will kein schlagfertiger Kosename einfallen, also mache ich einen Schritt  
zur Seite und lehne mich erneut gegen die Wand. Melly und Benni  
unterhalten sich, als würden sie einander seit Ewigkeiten kennen. Über  
Belanglosigkeiten, die meine Gehirnmasse einschmelzen, während ich ihnen  
zuhöre.  
„Ich habe gesehen, es gibt Sekt“, sagt Lad. Für die anderen beiden scheinen  
wir vergessen zu sein. Ihr rascher Überfokus überfordert mich. „Darf ich dich  
zu einem Glas einladen?“  
„Ich konsumiere keinen Alkohol.“  
Sein Grinsen ist gefährlich. Seine Gegenwart zu intensiv. „Da geht dir der  
ganze Spaß verloren.“  
„Ich brauche keinen Spaß.“  
„Jeder braucht Spaß!“, ruft er aus. „Egal ob hier oder draußen auf einer  
verschneiten Straße, mitten in der Nacht.“  
Schweigend hake ich mich bei ihm unter und warte verzweifelt darauf, dass  
ein weiterer, hoher Glockenton erklingt. Er bleibt aus.  
Melly dreht sich strahlend zu uns um und reißt Lad zu sich, als wäre er eine  
Stoffpuppe. Unter den Kameras fühle ich mich nackt. Benni zwinkert mir zu  
und die Anzüglichkeit in dieser Geste macht mich kleiner.  
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„Wir sollten anstoßen“, sagt er, die Stimme gefährlich weich. Als er mich  
berührt, kriecht eine unangenehme Gänsehaut über meinen gesamten  
Körper. „Ist doch ein Zufall, dass wir uns alle hier treffen. Der Wahnsinn!“  
War das eine Drohung? Das Verbrechen hat viele Gesichter.  
Lachend lege ich den Kopf in den Nacken und schlinge einen Arm um seinen  
Hals. Unruhig balanciere ich auf meinen Zehenspitzen. „Es wäre mir eine  
Ehre.“  
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Ein schlechter Scherz (Ladislav)  
Amelia kichert und sitzt dabei nah genug bei diesem Kerl, man könnte fast  
meinen, sie würde sich am liebsten auf seinen Schoß hocken. Aus schmalen  
Augen betrachte ich sie. Mit der ist doch mehr falsch, als mit einem einzigen  
Menschen verkehrt sein darf. Wirrsinnige Welt. Die ist kontrollierter als alles,  
was mir je begegnet ist. Langsam beginne ich jede Horrorgeschichte über sie  
zu glauben. Wenn jemand einen Unschuldigen zum Schuldigen machen kann,  
dann sie.  
„Ich will endlich die anderen kennenlernen!“, ruft Melly schrill aus und ich  
muss jede meiner Fasern zusammennehmen, um ihr keinen runterzuhauen.  
Die ist doch bescheuert. Für die beschissene Stimme kann sie nichts, aber  
einfach mal die Klappe halten oder in normaler Lautstärke rumplärren?  
Scheint für die zu hoch zu sein. „Nicht, dass ihr mir nicht reichen würdet.“  
Kokett lachend lehnt sie sich quer über die Bank und berührt mein Bein. Ein  
widerlicher, billiger Parfumgestank umgibt sie. Er erinnert mich an meine  
verfluchte Kindheit.  
„Wir reichen doch nicht.“ Benni lacht und legt seine Hand auf Amelias  
unteren Bauch. Beinahe als versuche er, sie festzuhalten. Soll er sie ruhig  
behalten. Ich setze meinen Hals darauf, dass sie mehr mit einer Schwarzen  
Witwe gemein hat als mit einem Menschen. Wer auch immer ihr vertraut,  
wird von ihr ausgesaugt, bis nichts mehr von ihm übrigbleibt.  
„Was macht ihr so im echten Leben?“, unterbreche ich die beginnende,  
schwachsinnige Plänkelei.  
Melly lehnt sich mit glitzernden Augen noch näher zu mir. Die Haut über den  
Lippen dehnt sich gefährlich. „Womit hältst du dich über Wasser?“  
„Ich bin Model.“  
Affektiert schnappt sie nach Luft und fächelt sich die stinkende Hitze zu.  
„Model. Ulalala! Das sieht man dir an. Das sieht man dir an, glaub mir, mein  
Junge.“ Glucksend kneift sie mir in den Oberschenkel. Ich schiebe ihre Hand  
fort. Alles an dieser Frau ist widerlich. Alles an Amelia unheimlich. Wenn das  
hier die Auswahl sein soll, will ich heulen. Mit einer von den beiden soll ich  
für die Kamera rummachen? Da nehme ich noch eher die psychotische,  
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toxische Strafverteidigerin. Bei der muss ich keinen Bammel haben, dass mir  
die Lippen entgegenspritzen.  
„Ich bin“, sie schnappt erneut affektiert nach Luft und ich will ihr mit der  
flachen Hand ins Gesicht schlagen, damit endlich mal was in dieser hohlen  
Birne passiert, „Bottle Girl.“  
Amelia hebt eine Braue. „Bottle Girl?“  
„Ja!“, ruft sie begeistert aus und klatscht in die Hände wie ein kleines Kind.  
Sobald man mich mit der allein einsperrt, gibt es Tote. Auf Garantie.  
„Was tut ein Bottle Girl?“  
Melly lehnt sich theatralisch stöhnend zurück. Kein Lüftchen weht. Ich habe  
das Gefühl unter diesem Metallhimmel zu ersticken. Den anderen dreien  
scheint es glänzend zu gehen. Wahrscheinlich sollte ich mir einfach die Kugel  
geben, die Kohle vergessen und den Scheiß abhaken. „Warst du schon einmal  
in einem Club?“, fragt Melly Amelia spitz.  
„Nein.“  
Was anderes habe ich nicht erwartet. Die würde doch nur zum Tanzen gehen,  
wenn es ihr hilft, irgendwelche Beweise zu fälschen. Halb wünsche ich mir die  
ätzende Nervensäge aus dem Wartebereich zurück. Mit der hätte ich mich  
einfach so unterhalten können. Die hier? Eine wackelt im Club mit dem Arsch  
und verkauft Flaschen.  
„In Clubs“, sagt Melly gedehnt, „gibt es teure Getränke. Gute Getränke! Ich  
bringe die Flaschen an den Mann.“  
Amelia räuspert sich. „Das klingt elementar.“  
„Bessere Nutten“, werfe ich ein und lehne mich gegen die harte Lehne der  
Bank. Grell gelb. Ich will kotzen.  
Melly fallen die Augen aus dem Kopf. „Was bitte?“  
„Du bist knapp gekleidet, tanzt um die reichen Typen rum und verschacherst  
teure Getränke an die. Tu nicht so, als würde dich keiner von denen  
anmachen.“  
„Ich habe kein Interesse an irgendwelchen Käufern.“  
„So siehst du auch aus.“  
„Woah, Leute!“ Benni lacht auf und ich bewundere ihn dafür, dass selbst  
dieses nichtssagende Geräusch dümmlich klingt. Die blauen Augen funkeln  
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und strahlen mit den gebleichten Zähnen um die Wette. „Was soll der  
Schwachsinn denn? Wir müssen uns doch nicht beleidigen!“  
„Stimmt.“ Ich hebe eine Schulter. „Nichts als die Wahrheit.“  
„Ich bin keine Prostituierte“, faucht Melly. „Du bist Model. Du prostituierst  
dich!“  
„Klar doch.“ Ist nicht so, als hätte sie Unrecht. Für die Nummer hier habe ich  
blankgezogen und hätte es jederzeit wieder getan.  
„Du kannst sowas nicht einfach machen!“, kreischt Melly. „Das ist  
erniedrigend. Ich habe den besten Job der Welt und du kapierst ihn einfach  
nicht.“  
„Du verkaufst reichen Säcken teuren Suff“, sage ich knapp.  
„Nein! Ich mache die Gäste glücklich.“  
„Im kurzen Röckchen oder direkt nackt?“  
„Ich trage ein Kleid“, faucht Melly. „Manchmal sogar Hosen.“  
„Lang und weit nehme ich an.“  
„Ich bin mehr als nur mein Körper!“  
„Du verhältst dich wie eine Schlampe, also bist du auch eine.“  
„Es gibt nichts von dem, was du nennst“, mischt Amelia sich ein. Sie klingt  
vollkommen ruhig, ein Sektglas mit Wasser gefüllt, das leise knisternd  
sprudelt. Ich lehne mich lachend zurück und verschränke die Arme vor der  
Brust.  
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Schlampen gibt.“  
„Eine Prostituierte hat nichts mit einer Frau zu tun, die sich wohl in ihrem  
Körper fühlt.“  
„Sie bietet sich an!“  
„Wann hat sie sich dir bisher angeboten?“, fragt Amelia mich nüchtern. Ich  
bekomme eine Ahnung davon, warum sie so dermaßen nervt. Manchmal  
sollte man einfach die Fresse halten und zuhören. „Melly hat Platz  
genommen, dich mit einem Handschlag begrüßt und bedenkt dich  
gelegentlich mit nebensächlichen Aufmerksamkeiten wie dem Berühren  
deines Oberschenkels, dem Streifen deines Körpers, wenn sie ihr Gewicht  
verlagert. Sie wirkt ausgenommen zufrieden mit ihrem eigenen Auftreten  
und wenn ein kurzes Kleid in einem Club sie erfüllt, ist das ihr gutes Recht.“  
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„Würde ich nie bestreiten. Sie ist trotzdem billig.“  
„Du bist sexistisch!“, faucht Melly.  
„Ja, man. Nicht cool.“ Ich bezweifle, dass Benni überhaupt kapiert, worum es  
hier geht. Der hängt in der Bank wie ein Schluck Wasser, hat sich das vierte  
Glas Sekt bereits hinter die Binde gekippt und schlackert mit den Beinen.  
„Hast du dich für das Casting ausgezogen?“, frage ich schlicht.  
„Ich habe mit niemandem geschlafen, um hier sein zu dürfen.“  
Amelia richtet den desinteressierten Blick auf die Tür, durch die wir  
reingelassen wurden. Ja, ich will hier auch raus, seitdem ich den stinkenden,  
künstlichen Rasen betreten habe. Hier drin bekomme ich Platzangst. Große  
Scheiße.  
„Das haben wir alle nicht“, sagt Amelia. „Es ist nicht notwendig, dass du dich  
rechtfertigst.“  
„Was machst du denn, wenn du nicht gerade in Shows abhängst?“, frage ich  
Amelia und sehe sie aus schmalen Augen an.  
„Ich bin Pflichtverteidigerin.“ Kein Plan, was ich erwartet habe, aber  
bestimmt nicht, dass sie direkt mit der Wahrheit rausrückt.  
„Wie die, die im Gericht sitzen?“, fragt Benni und verschüttet einen Schluck  
seines Sekts auf Amelias Hose. Ich feixe. Das wird sie doch freuen.  
„Ja.“ Amelia schlägt die Beine übereinander und rückt so recht geschickt von  
ihm ab. „Ich verteidige meine Mandanten vor Gericht.“  
„Ich dachte immer, das Jurastudium ist schwer“, schnauft Melly und leert ihr  
Glas.  
„Wer es möchte, wird es schaffen.“  
„Oh, und du wolltest das bestimmt unbedingt“, sage ich gedehnt. „Amelia.  
Ich glaube, ich habe was von einer Amelia gehört. Soll ziemlich skrupellos  
sein.“  
„Pflichtverteidiger haben selten die Wahl“, erwidert sie schlicht.  
„Klar.“ Ich schnaufe. „Man könnte einfach verlieren.“  
„Jeder Verteidiger ist seinem Mandanten verpflichtet.“ Amelia schenkt Melly  
ein breites Lächeln. „Wollen wir noch etwas trinken gehen?“  
Melly wirft mir einen vernichtenden Blick zu. Was hat sie erwartet? Dass ich  
auf Gummi und Gestank stehe? Da hätte ich in dem dunklen Kabuff bleiben  
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und weiter die Dielen schrubben können. „Gern.“ Sie kommt stocksteif auf  
die Beine. „Ich wüsste nicht, wo ich lieber wäre.“  
„Alkohol macht dumm“, sage ich ihr.  
„Da hättest du wohl weniger trinken müssen.“ Wie jedes Mädchen ohne  
Selbstbewusstsein wirft sie sich die Haare über die Schulter und stakst davon.  
In flachen Schuhen trampelt die, als hätte sie hohe Absätze an den Füßen. Ich  
würde mich ja eher unter diesem Kunstrasen vergraben, als auf die Weise  
davonzuwackeln. Aber jeder das, was er mag.  
„Nicht cool, Mann“, sagt Benni und lehnt sich gähnend tiefer in die Bank.  
„Echt nicht cool.“  
„Sie ist billig.“ Nichts ist gefährlicher als eine billige, rumhurende Frau, die  
heulend nach Hause kommt und alles windelweichprügelt, was ihr unter die  
zittrigen, zerstochenen Hände kommt.  
„Ist sie nicht! Sie ist wundervoll.“  
Schnaufend stehe ich auf. „Dann heirate sie doch.“  
Lachend wirft er den Kopf in den Nacken. „Ich heirate niemanden!“  
„Dann hör auf zu heulen.“ Ich rolle die Schultern. Mein gesamter Rücken ist  
verspannt und jede meiner Fasern verknotete sich, als ein heller Glockenton  
erklingt. War klar. Ist das Konfliktpotential saufen gegangen, kommt das  
Nächste. Ich befinde mich in meiner persönlichen Hölle und mach das alles  
für einen unnützen Haufen Geld.  
Nützen. Er wird mir nützlich sein. Sobald ich hier rauskomme, muss ich nie  
wieder in dem heruntergekommenen Keller einer Crackoma pennen, die die  
Ohren nicht mehr an der richtigen Stelle hat. Sobald ich hier weg bin, bin ich  
ein reicher Mann und werde nie über die Straßen kriechen. Ich werde nie  
einer dieser Penner sein, die bis mitten in die Nacht schuften, nur um nicht  
unter einer rissigen Brücke pennen zu müssen.  
Verkauf ich halt meine Seele für. Und? Was bringt mir meine Scheißseele,  
wenn ich nichts hab, wohinein ich sie stecken kann?  
Die Türen schwingen auf und Benni stößt einen anerkennenden Pfiff aus.  
Zwei neue Frauen. Sie werden dieses Ding hier überschwemmen. Für zwölf  
Personen gab es Platz in den Betten. Ich bete dafür, dass wir uns hinlegen  
können, wo wir wollen. Ich penne auf dem Boden. Oder auf einer der Liegen.  
Auf keinem Fall mit einer dieser billigen Schlampen in einem Bett.  
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„Hey, ihr Süßen!“, ruft eine brünette Schönheit mit künstlich langen  
Wimpern. Sie hat die Kurven an den richtigen Stellen und wackelt mit dem  
Arsch, als hinge ihr Leben davon ab.  
Wortlos wende ich ihr den Rücken zu. Die Schminktussi will, dass ich bin wie  
ich? Die Zuschauer werden mich sehen wollen. Sie werden auf dem  
Bildschirm haben wollen, wie eine von diesen billigen Frauen mir das Herz  
bricht.  
Nicht, dass es da viel zu holen gäbe.  
Amelia und Melly tuscheln, als wäre die eine keine rücksichtslose  
Pflichtverteidigerin und die andere nicht dümmer als Brot. Mit sich rötenden  
Wangen sieht Melly auf und wendet mir dann demonstrativ den Rücken zu.  
Mädchen wie sie kenne ich. Finden mich gut, aber wissen nicht, wie sie es  
vernünftig zum Ausdruck bringen sollen. Ich schenke mir Wasser ein und  
beobachte Amelia aus dem Augenwinkel. Jemand wie sie gehört hier nicht  
hin. Diese Shows wurden für geistigen Abfall geschaffen. Für gescheiterte  
Existenzen. Hier stehe ich und proste den Produzenten zu!  
Amelia ist weder gescheitert noch dumm. Was sie auch hierhergetrieben hat,  
es scheint ihr mehr Angst zu machen, als in einem abgeschlossenen Container  
Däumchen drehen zu müssen. Rennt doch nicht etwa vor ihrem Fall weg?  
Schnaufend rolle ich den Kopf und lehne mich gegen die Wand. Wasser in  
Sektgläsern sieht seltsam aus. Ich stürze es hinunter.  
„Da sind zwei Neue gekommen“, sage ich trocken.  
„Wir sind nicht taub.“ Mellys Augen sind stark gerötet. Hat die jetzt echt  
geheult? Schnaufend stelle ich mich aufrecht hin und biete ihr meine Hand  
an.  
„Sorry.“  
„Was willst du mit Sorry?“  
„Es tut mir leid“, sage ich und jedes Wort verätzt mir die Zunge ein Stück  
mehr. „Ich wollte dich nicht beleidigen oder so. Mit Frauen in kurzen Kleidern  
habe ich nur keine guten Erfahrungen.“  
„Ich bin keine Frau in einem kurzen Kleid!“, schimpft sie.  
„Welche Erfahrungen?“, unterbricht Amelia Melly, bevor sie sich auf  
unterirdische Gefilde begeben kann. Abfällig feixe ich. Das würde sie wohl  
brennend interessieren. Damit sie die Hure, die sich meine Mutter  
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geschimpft hat, gegen mich verwenden kann? Die zerstochene Schlampe, die  
nie für mich da war und mich von ihren Freiern zu Brei hat treten lassen? Die  
immer zu feige war, einfach mal von vorn anzufangen und ihr Glück zu  
versuchen?  
Einen Scheiß werde ich ihr sagen. „Meine erste Freundin hat mich betrogen“,  
sage ich schlicht. „Hat sich jedem angeboten.“  
„Das tut mir leid für dich.“  
„Heul nicht rum, wo du nichts zum Rumheulen hast“, sage ich eisig und biete  
Melly weiterhin meine Hand an. „Tut mir echt leid“, wiederhole ich. „Wenn  
eine mir erzählt, dass sie teures Zeug an reiche Typen verkauft, dreh ich  
irgendwie frei. War damals nicht so optimal.“  
Ich warte darauf, dass Melly mir den Inhalt ihres Glases ins Gesicht schüttet.  
Mit einem tiefen Schluck stürzt sie ihn hinunter und verschränkt dann die  
Arme vor der Brust. „Ich bin keine dahergelaufene Hure!“  
„Prostituierte“, verbessert Amelia Melly automatisch. „So etwas wie Huren  
und Schlampen gibt es nicht.“  
Vielleicht in ihrer Welt, wo ein Briefkasten wertvoller ist als mein ganzes  
Leben.  
Vage wedelt Melly mit den Händen. „Bin ich nicht!“  
„Habe ich kapiert. Es tut mir echt leid.“ Mir wird der Arm lahm. Jetzt habe ich  
den Schwachsinn angefangen, jetzt muss ich ihn durchziehen.  
Tränen steigen Melly in die ausdrucksleeren Augen. Ich habe keine Lust, sie  
zu umarmen. Der Geruch des billigen Parfums haftet an ihr wie eine zweite  
Haut. Schniefend fällt sie mir um den Hals. Wenn das bisschen Entschuldigen  
alles einstürzen lässt, muss sie weniger Selbstwert haben als ein erfrierender  
Straßenköter. Pflichtbewusst schlinge ich meine Arme um sie. Ihr Körper fühlt  
sich falsch an. Die Brust zu hart, der Bauch zu flach, die Taille zu schmal. Ich  
umarme eine Puppe und keinen Menschen. Eine Puppe mit langen Wimpern,  
auf die sich eine dünne Schicht Puder gelegt hat.  
„Echt, Sorry“, wiederhole ich leise. Irgendeine Kamera wird meine  
Lippenbewegungen schon lesen. „Wollte ich nicht. Mir war nicht so richtig  
klar, was ich da anrichte.“  
Nickend schnieft sie gegen meine Schulter. Verfluchte Show. Kohle. Ich  
bekomme einen Haufen Kohle. Das erste Mal nach dem ersten Monat. Ich  
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muss nur vier verfluchte Wochen durchhalten, fleißig mit den billigen  
Gestalten rumknutschen und zum richtigen Moment lächeln. Das sollte  
simpel werden. Peinlich einfach, wenn man so will.  
„Du bist ein guter Kerl“, sagt sie heiser und nachdrücklich. „Ein richtig guter  
Kerl.“  
„Klar.“ Ihre Menschenkenntnis ist für die Hölle gemacht. „Soll ich dir noch  
was zu trinken bringen?“  
Strahlend sieht sie auf zu mir. „So gern!“ Ihre kreischende Stimme bereitet  
mir Kopfschmerzen. Ich bin mir Amelias unschuldig-berechnender Blicke  
überbewusst, während ich die im Eiskübel gelagerte Flasche entkorke. Die  
kleine Verbrecherin ist eine deutlich bessere Schauspielerin als ich. Melly  
schenke ich ein. Sie betrachtet mich aus kugelrunden, bewundernden Augen.  
Was auch passiert, für den Notfall habe ich sie immer in der Tasche.  
„Hier.“ Ich ringe mir ein Lächeln für die Kameras ab.  
Stürmisch stellt sie sich auf die Zehenspitzen und drückt mir einen  
lippenstiftschweren Kuss auf die Wange. Ich rieche die billige Schminke. Ihre  
Finger mit den langen Nägeln greifen nach dem Sektglas. „Wenn du dich gut  
machst“, sie zwinkert mir zu, „verzeihe ich dir sogar.“  
Arrogantes Miststück. „Wenn du das möchtest, krieche ich vor dir durch den  
Schlamm, um das wiedergutzumachen.“  
Hell lacht sie auf und hält meinen Blick, während sie einen tiefen Schluck  
nimmt. „Ich behalte das Angebot im Hinterkopf.“  
Der billigste Flirt der Fernsehgeschichte. Amelia scheint etwas ähnliches zu  
denken. In ihre wohlkontrollierte Fassade fressen sich brüchige Zweifel.  
„Willst du auch was?“, frage ich sie. Wie viel meine Sugar wohl erzählt, wenn  
ich sie abfülle.  
„Ich trinke keinen Alkohol.“  
„Angst, dich sonst vor den Gerichtssitzungen zu besaufen?“  
„Nein“, sagt Amelia schlicht. „Der Geschmack stößt mich ab.“  
„So ein Segen.“  
„Warum trinkst du nicht?“, fragt sie mit Blick auf mein Wasserglas.  
„Bin so schon cool genug.“ Alkoholfahnen haben mich mein Leben lang  
gejagt. Sie hingen überall und stachen mir in die Nase. Sie hafteten an jedem  
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Kerl, der durch die Tür kam und mir im übelsten Fall was versetzte, ohne dass  
ich es provoziert hätte.  
Amelias Lippen verziehen sich zu einem kleinen Lächeln. „Das bist du wohl.“  
„Und heiß genug!“ Kichernd schlägt Melly sich den Handrücken gegen die  
Lippen. „Habe ich das echt laut gesagt?“  
Anstatt ihr zu antworten, werfe ich einen Blick aus dem Fenster ohne Glas.  
Die zwei Frauen belagern Benni und betatschen ihn, als wäre er Frischfleisch.  
Ich würde ausrasten. Ihre Nägel krallen sich in sein weißes Oberteil und sie  
lehnen sich nah an ihn. Sein betrunkenes Lächeln wirkt selig.  
Diese Shows sind billig. Diese hier wird billiger. Der blaue Himmel sticht mir in  
den Augen und ich trinke. Wasser. Immer nur Wasser. Mehr Wasser. Es  
schmeckt leicht salzig.  
„Die sind echt süß“, stellt Melly fest. Ihre Stimme trieft vor Neid. „Findest du  
die süß?“  
Zu viel Plastik. „Geht.“  
Kichernd rollt Melly die Augen. „Stehst du überhaupt auf Frauen?“  
„Das sollte nichts zur Sache tun“, sagt Amelia schlicht.  
„Du wurdest nicht gefragt.“ Soll sie ihren Anwaltskram woanders abziehen.  
Ich brauche niemanden, der für mich in die Bresche springt. Am Ende des  
Tages will ich ihr garantiert nichts schuldig sein. Zum Schluss will sie mich auf  
die Zeugenbank für eine Sache ziehen, mit der ich nie was zu tun hatte, um  
einen Kerl ins Gefängnis zu bringen, der es einfach nicht verdient hat.  
„Ich hatte bisher nur Frauen, mit denen ich was hatte“, antworte ich Melly.  
„Wie süß!“ Ihre Augen glitzern gefährlich. Schnaufend trinke ich noch einen  
Schluck. An Tagen wie diesen will ich mich besaufen, bis ich nichts mehr  
fühle. Ich will blau machen und bewusstlos in die nächste Klinik eingeliefert  
werden. Sollen sie mir das Gift doch aus den Venen saugen und mich neu  
machen. Raus kommt der gleiche Schrott, der durch die Türen gerollt wurde.  
Nur der Alkohol fehlt und wird nachgefüllt. Wir befinden uns in einem bunten  
Drogenpfuhl und ich will ihn in Flammen aufgehen lassen.  
„Die finden uns bestimmt ätzend, wenn wir da jetzt nicht rausgehen“, sinnt  
Melly.  
Ich hebe meinen linken Mundwinkel. „Dann sollten wir genau hier bleiben.“  
Atemlos lacht sie auf und fächelt sich Luft zu. „Du böser, böser Junge!“  
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Das Herz rast mir in der Brust, während ich die neuen Frauen ansehe. Nicht  
böse. Wütend. Bis zu einem Punkt, an dem es Leib und Seele gefährdet. Sie  
betatschen Benni, als würden sie dafür bezahlt werden. Es gefällt ihm. Klar  
gefällt es ihm. Aufmerksam ist immer gut. Bis die Schlange ihre Giftzähne  
ausfährt und zuschnappt.  
Amelia lacht leise. „Ob ihr da hingeht oder nicht, ich möchte die beiden  
kennenlernen.“  
„Passt“, kommentiere ich.  
Sie hebt eine Braue.  
„Die Pflichtverteidigerin tut, was sie tun muss.“ Schlange zu Schlange, Asche  
zu Asche.  
In einer winzigen Geste streicht Amelia sich eine Strähne hinter die Ohren.  
„Ich würde mich freuen, wenn ihr nachkämt.“  
„Jeden Moment“, verspricht Melly ihr und streit betrunken über meine Brust.  
Ich verkrampfe mich. Was kommt als nächstes?  
Angespannt sehe ich in die leeren, blauen Augen. Nichts. Wenn sie ihre  
Krallen in mein Fleisch schlagen will, brechen sie. Vor ihr bin ich sicher. Sie ist  
nichts weiter als ein austauschbares, leicht zu habendes Kätzchen. Vor der  
fürchten sich nur kleine Jungs, die den Unterschied zwischen Furie und Küken  
nicht erkennen.  
„Wollen wir uns noch weiter umsehen?“, raunt sie.  
Nicht in diesem Leben. „Was spricht dagegen, hier zu bleiben?“, raune ich. Ihr  
Lächeln wird breiter und sie wirft einen kleinen Blick aus dem Fenster.  
„Sie könnten eifersüchtig werden auf unser Glück.“  
„Welches Glück?“  
Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, als wollte sie mich küssen. Unwillkürlich  
weiche ich zurück und trinke. Diese dämliche Röte ist wieder da und fließt  
durch ihre Wangen.  
„War das zu früh?“, fragt sie hektisch.  
„Ja.“ Offensichtlich. Bevor ich mich von der ablecken lasse, schneide ich mir  
die Zunge ab. Schmal lächle ich, dann folge ich der einen Schlange zu den  
nächsten. Die Scheinwerfer scheinen höllisch heiß und der Gestank bringt  
mich um. Angespannt rolle ich die Schultern. Wenn ich das hier einen Monat  
überlebt habe, brauche ich die 10.000 für eine Therapie.  
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Fahr zur Hölle (Kyra)  
„Ist das Amelia Nahn?“, entfährt es meiner Mutter. Ich werfe ihr einen  
kurzen Blick zu, während die Kamera den schlanken Körper dieser verfluchten  
Pflichtverteidigerin einfängt und sie auf ihr Äußeres reduziert.  
„Ich habe euch doch gleich gesagt, dass ich sie bei diesem Casting gesehen  
habe“, schimpfe ich und verschränke stoisch die Arme vor der Brust. Die  
nehmen sie. Die wollen sie. Und ich? Sitze hier und sehe mir den Unsinn im  
Fernsehen an.  
„Amelia Nahn“, wispert meine Mutter und lehnt sich steif in ihren Sessel  
zurück. Skeptisch ziehe ich die Brauen zusammen. Nur, weil die unser ganzes  
Leben um ein Haar mit einem getürkten Prozess zerstört hätte, muss man  
nicht devot vor ihrem TV-Auftritt in die Knie gehen.  
Vor einer furchtbaren pinken Wand mit Flamingos und Palmen legt sie den  
Kopf kokett schief und lächelt in die Kamera. „Ich heiße Amelia, bin  
vierundzwanzig Jahre alt und arbeite als Pflichtverteidigerin“, sagt sie  
strahlend, als würde sie sich im Kindergarten vorstellen, um die künftigen  
Superverbrecher auszuwählen. „Warum ich hier bin?“ Kichernd wirft sie sich  
das rote Haar über die Schulter. Schauspielern wie die will ich können. „Ich  
suche ein Abenteuer!“  
Lachend breitet sie die Arme aus. Die Kamera fängt ein, wie sie fröhlich mit  
den Füßen in den flachen Turnschuhen wippt. Ihre Wimpern sind viel zu  
dicht, um echt zu sein, und ihre Zähne so dermaßen weiß, dass ich mir gut  
vorstellen kann, wie oft sie zum Zahnarzt geht und sie sich polieren lässt –  
mindestens wöchentlich.  
„Was tust sie in einer Realitysendung?“  
Lyra blickt flüchtig von ihrem Blätterberg auf. „Vor irgendwas davonlaufen.“  
„Ich dachte, die hat Asperger“, schnaufe ich. „Sollte diese grelle Umgebung  
ihr nicht das Hirn wegsprengen?“  
Meine Mutter schweigt beharrlich, während sie Amelia betrachtet, als wäre  
sie erneut zu ihrem größten Albtraum aufgestiegen.  
„Sie leitet mit vierundzwanzig Jahren eine Kanzlei“, murmelt Lyra. „Der  
sprengt nichts so schnell den Schädel weg.“  
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„Wie schade.“ Augenrollend ziehe ich die Beine an die Brust und greife nach  
der Glasschüssel voll Chips. Der Geruch von Salz, Fett und aromatisierten  
Gewürzen fliegt mir entgegen. Ich stopfe mir eine Hand voll in den Mund und  
kaue konzentriert. Wenigstens schmeckt mir, was ich vor mir habe.  
„Ich hoffe, hier die große Liebe zu finden“, sagt sie kichernd und zwirbelt eine  
ihrer roten Strähnen. „In meinem großen Haus bin ich ganz allein. Es wäre ein  
Traum, wenn sich bald jemand zu mir gesellen würde.“  
Ein neuer Schnitt, der sie sorglos tanzend zeigt. Nie im Leben hätte ich  
erwartet, dass die sich bewegen kann. Aber während die Kamera draufhält,  
wackelt sie mit ihrem Arsch, als hinge ihr Leben davon ab. Zumindest in dem  
Clip trägt sie hohe Schuhe. Richtig hohe Schuhe. Gegen die sind ihre  
schwarzen Stelzen vor Gericht ein Witz.  
„Was mich ausmacht?“ Ein kleines, kokettes Augenrollen. „Ich bin vielseitig.  
Ich bin offen für Neues. Ich kann die kommenden Wochen kaum abwarten.“  
„Das ist nicht Amelia Nahn“, wispert meine Mutter mit gepresster Stimme.  
„Ganz bestimmt nicht.“ Ihr Name steht in weißen Buchstaben auf pinken  
Grund unten eingeblendet.  
„Klar“, sage ich bitter. „Ist sie bestimmt nicht.“ Wie kann es sein, dass man  
die will, mich aber im Wartezimmer vergammeln lässt? Ich kämpfe gegen den  
Impuls an, gegen den Fernseher zu schlagen. Selten hatte ich mehr Lust, mich  
einfach hinter der Fachliteratur zu vergraben und für meine bescheuerte  
Bachelorarbeit zu arbeiten.  
„Dass die Zuschauer für mich voten müssen, das macht mir keine Sorgen“,  
sagt Amelia lachend. „Ich bin mir sicher, sie werden Herzensentscheidungen  
treffen und ich bin ein Herzensmensch.“  
„Der mit Herzensgüte Unschuldige hinter Gitter bringen will“, murmelt Lyra.  
Überrascht ziehe ich die Brauen zusammen. Sie hört noch zu?  
Ruhig tanzen Lyras Finger über die Tastatur ihres Laptops, während sie  
beginnt, erste Erkenntnisse zusammenzuschreiben.  
„Das kann sie nicht sein“, murmelt Mutter. „Das kann sie nicht sein.“  
Sie blenden noch einmal die lachende, sich um die eigene Achse drehende  
Amelia ein, dann wird geschnitten und das nächste Gesicht sieht in die  
Kamera.  
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Es ist mir genauso bekannt wie Amelias. Natürlich wollten sie auch ihn  
haben! Das wussten wir doch von Sekunde eins an.  
„Lad“, stellt er sich einsilbig vor und ringt sich ein Lächeln ab. Keine Ahnung  
warum, aber ich habe nie etwas Attraktiveres gesehen.  
Lyra pfeift anerkennend durch die Zähne. „Der ist heiß.“  
„Er ist ein Arsch.“  
„Kennst du ihn?“  
„Ich habe versucht, ihn während des Castings vollzuquatschen.“  
Augenrollend stopfe ich mich mit Chips voll.  
„Der ist niemandes Liga“, stellt Mutter monoton fest. Wüsste ich es nicht  
besser, ich würde behaupten, sie steht unter Schock.  
„Ich bin hier für das nächste Abenteuer.“  
„Die sagen auch irgendwie alle das Gleiche“, spotte ich. „,Weshalb bist du  
hier?‘ ,Mir war langweilig!‘“  
„Dir ging es doch genauso.“  
„Sei froh, dass sie dich nicht genommen haben“, sagt Mutter leise.  
„Eingesperrt mit Amelia auf engstem Raum? Das hätte problematisch werden  
können.“  
„Warum?“ Ich lecke den fast handtellergroßen Chip genüsslich ab. „Hättest  
du Angst gehabt, dass ich ihr das dämliche Gesicht zerkratze?“ Mir ist nie  
zuvor aufgefallen, wie unverschämt schön Amelia ist mit ihrem unschuldigen  
Puppengesicht, diesen wallenden, roten Haaren und den wenigen, niedlichen  
Sommersprossen. Als der liebe Gott seine Gaben verteilt hat, wurde er von  
Amelia verklagt und hat vor Schreck alles Gute über ihr fallen lassen.  
„Dass sie dich im Schlaf erstickt“, sagt Mutter leise.  
„Ach, da halten Kameras drauf. Sie würde mich höchstens unauffällig zur  
Weißglut treiben, bis ich ihr eine dieser Lampen in ihren verlogenen Mund  
stopfen will.“  
Perfekte Lippen, eine wunderschöne Augenform. Natürlich will man die  
haben und nicht mich. Was bringe ich schon mit? Eine angenehme Bräune  
und einen ganz normalen, schlanken Körper. Gegen Leute wie Lad und  
Amelia kann ich nur verlieren. Wahrscheinlich wäre ich die allererste  
gewesen, die man rauswählt.  
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Angespannt höre ich Lad dabei zu, wie er von seinem Hund erzählt und wie  
gern er ihn doch hatte, während sein Gesicht sich langsam entspannt. Er  
lehnt sich leicht zurück, bewegt hin und wieder die Gliedmaßen beim Reden  
und als er lacht, bin ich kurz davor hyperventilierend in Ohnmacht zu fallen.  
Der Typ ist heiß. Wenn er lächelt regelrecht gefährlich. Mir ist nie jemand  
begegnet, der mehr Charisma hatte als er. Der überhaupt ansatzweise so  
vielschichtig zu sein schien wie er.  
Dabei ist Lad vermutlich nur eines: schön und egoistisch. Die dunklen Haare,  
die eisblauen Augen und diese scheinbar eiskalte Fassade zaubern da halt  
Zeug dazu, das nicht wirklich existiert. Wer von außen schön ist, muss  
schließlich auch von innen strahlen. Irgendwie so.  
Die menschliche Psyche ist zum Kotzen.  
„Er gewinnt“, sagt Lyra unvermittelt, als seine Frequenz endet und in die  
quietschbunte Villa gezoomt wird. Alle Farbtöne sind einige Nuancen zu  
intensiv. Erstaunlich, dass die Teilnehmer nicht an Ort und Stelle umkippen.  
„Mit Sicherheit gewinnt er“, pflichte ich ihr bei. „Es sei denn, Amelia macht  
ihn vorher fertig.“ Schnaufend lache ich auf und stopfe mir neue Chips in den  
Mund. „Die beiden wären das Gangsterpärchen unserer Generation“, nuschle  
ich an Salz, Fett und Gewürzen vorbei.  
Mutter lacht hell auf. Sie ist noch immer bleich, als hätte man ihr soeben  
eröffnet, dass sie den morgigen Tag nicht mehr erleben wird.  
„Lad und Amelia“, sinnt Lyra leise, ohne den Blick von ihren Notizen zu lösen.  
„Fast so gut wie Bonnie und Clyde.“  
„Besser“, sage ich. „Weil skrupelloser. Ich kann mir die beiden richtig gut  
zusammen vorstellen.“  
„In der App kannst du für die Paare stimmen“, sagt Mutter. Ihre Augen sind  
noch immer glasig.  
„Es gibt noch keine Paare?“  
„Der Zuschauer entscheidet, wer zusammenfällt“, murmelt Lyra.  
Kurz entziehe ich den Chips meine Aufmerksamkeit. „Warum wisst ihr mehr  
über das Format als ich? Ich wollte da drin mitmachen und ich wollte das  
gucken.“  
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Mutter schenkt mir ein kleines Lächeln. Erste silberne Strähnen fallen ihr in  
die erschöpft gerunzelte Stirn. „Wir wollten uns zumindest darüber  
informieren, wofür du dich beworben hast.“  
„Scheinbar für verbrecherischen Müll.“ Der Leute wie Amelia und Lad ganz zu  
Beginn vorstellt. „Es wäre echt witzig, wenn man die beiden  
zusammenpacken würde“, entscheide ich.  
„Du kannst so oft abstimmen, wie du möchtest“, murmelt Lyra und lässt  
einen ihrer Notizzettel zu Boden regnen.  
„Klingt grandios.“ Ich greife meinem Handy. „Dann lassen wir mal das  
nervigste und explosivste Paar entstehen.“  
„Die hassen sich“, murmelt Lyra. „Die hassen sich richtig.“  
Ich werfe einen kurzen Blick auf den Bildschirm. Dass irgendwas zwischen  
den beiden nicht stimmt, bemerkt man sofort. Umso motivierter bin ich,  
ihnen ihr Grab fertig zu klicken. „Wie heißt die App?“  
„Love Survives.“  
„Uh, wie unsagbar peinlich.“ Ich lade sie mir herunter und werde mit  
quietschgrünen Palmen auf pinkem Hintergrund konfrontiert. Ich ziehe den  
Blaufilter hoch und öffne die Anwendung. Die Abstimmungen reihen sich  
ganz oben auf. Desinteressiert scrolle ich durch eine Reihe öder Gesichter.  
Scheint, als könnte man sogar dafür abstimmen, wer morgen reinkommt.  
Wer rausgeht. Wer demnächst ein romantisches Pärchen abgeben und in  
einem Bett schlafen soll.  
Feixend berühre ich Lads Gesicht und dann Amelias. „Danke für Ihre  
Stimme.“ Lads Gesicht und Amelias. Lads Gesicht und Amelias. Selten hat sich  
ein billiger Racheakt so verdammt gut angefühlt.  
„Votest du auch jemanden raus?“, fragt Lyra mich nach einer Weile.  
„Was interessiert es mich, wer rausfliegt?“ Desinteressiert beobachte ich, wie  
ein öder Sunnyboy Amelia betatscht, als hätte er nie zuvor eine Frau anfassen  
dürfen. Verdammt peinlich. Sie nimmt es einfach nur hin. „Amelia hat uns die  
Hölle heiß gemacht. Jetzt braucht es nur einen Klick“, Lads Gesicht und  
Amelias, „und schon bekommt sie ein winziges Bisschen davon zurück.“  
„Pass auf“, sagt Lyra, „zum Schluss verstehen die beiden sich noch.“  
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Stirnrunzelnd betrachte ich Lad und Amelia für einige Momente. „Nein“,  
beschließe ich, während Eiswelten zwischen ihnen zu wachsen scheinen.  
„Ganz bestimmt nicht.“  
Mutter ist still geworden. Sie greift bei meinen Chips nicht zu und tut auch  
sonst nichts. Skeptisch beobachte ich sie. Ich wüsste nicht, warum Amelias  
Anblick sie in ein absolutes, gefährliches Schockstadium schicken sollte.  
Die Zusammenschnitte des Tages enden einer öder und kreischender als  
der andere und eine melodische, weibliche Stimme plärrt aus den  
Lautsprechern: „Unsere Glückssuchenden, begebt euch bitte zu unserem  
Festzelt.“  
„Uh“, ich pfeife durch die Zähne, „gleich wissen wir, wie Lad und Amelia  
darauf reagieren, wenn sie erfahren, dass sie von nun an das Traumpaar der  
Zuschauer sind.“  
Stirnrunzelnd sieht Lyra auf. Ich drehe den Handybildschirm zu ihr.  
Fünfundneunzig Prozent der Zuschauer wollen die beiden zusammen sehen.  
Ich scheine nicht die einzige Sadistin auf diesem Planeten zu sein.  
„Das wird explosiv“, sagt Lyra.  
„Vielleicht auch richtig öde“, erwidere ich. „Auf jeden Fall aber höllisch  
spannend.“  
Kichernd und gackernd finden sich die Teilnehmer zusammen. Eine junge  
Frau mit dichten, dunklen Haaren wartet auf sie im Zentrum des Pavillons.  
Bei Nachtbeleuchtung wirkt die Umgebung schon fast erträglich. Um das  
weiße, kitschig gestaltete und verschnörkelte Gestell fließen zarte Quellen,  
die in dem vorherigen Material sicher noch nicht zu sehen waren. Lichter  
wurden in die Steinbetten gelegt und beleuchten das Geschehen auf  
gespenstische Weise. Der Mond hängt voll am Himmel, umgeben von einigen  
Wolken, und die Frau im Zentrum trägt ein weißes Abendkleid, das mit den  
Karteikarten in ihren Händen harmoniert. Die Schuhe sind pink, die langen  
Nägel neongrün. Scheint, als käme man um diesen beißenden Kontrast nicht  
herum.  
„Meine lieben Glückssuchenden.“ Lächelnd breitet sie die Arme aus und mir  
läuft es kalt den Rücken hinunter. Ich kann nicht genau bestimmen, was es  
ist. Vielleicht ihr seltsam mechanisches Auftreten, eventuell diese  
gespenstische Perfektion oder das diffuse Licht. Diese Situation ist mir  
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unheimlicher als der ein oder andere Horrorfilm. Die Kandidaten, von denen  
die Hälfte aussieht, als hätte man sie durch eine Klonmaschine geschickt,  
stehen im Halbkreis vor ihr. Die dünnen Bäche trennen die Moderatorin von  
den Kandidaten. „Ich freue mich, euch auf unserer Insel des Glücks begrüßen  
zu dürfen.“  
Lyra gibt ein leise würgendes Geräusch von sich, ich kratze die letzten Chips  
vom Boden der Schüssel.  
„Heute beginnt für uns alle eine aufregende, eine neue Reise.“ Die  
Teilnehmer klatschen, als hätte man sie darauf abgerichtet. Naserümpfend  
betrachte ich Amelia. Sie wirkt nicht im Mindesten erschöpft, eher, als  
müsste sie nie ein Auge zu tun, um bei Verstand zu bleiben. Ihr Haar liegt  
perfekt, ihr Lächeln ist charmant und ich hasse alles an ihrer verdorbenen,  
hässlichen, uns ins Unglück stürzenden Seele. „Eine Reise, auf der ihr nicht  
nur das Abenteuer, sondern auch eure große Liebe finden werdet.“  
„Wie groß kann die Liebe schon sein, wenn die Kameras sie einfangen?“,  
murmle ich an meinen Chips vorbei.  
Lyra tippt konzentriert und Mutter betrachtet irgendwas auf ihrem  
Handbildschirm. Seufzend verschränke ich die Arme vor der Brust.  
„Anders als in herkömmlichen Shows, sind es die Zuschauer, die über euer  
Glück und euren optimalen Partner entscheiden. Sie haben die Möglichkeit,  
euch vierundzwanzig Stunden lang, jeden Tag der Woche, jede Woche des  
Monats zu beobachten und somit herauszufinden, welche Kandidaten  
füreinander geschaffen wurden.“ Diese Frau trägt mehr Ringe, als ich besitze.  
Von Gold bis Silber, pink bis grün ist alles dabei. „Wir alle sind überglücklich,  
euch hier wissen zu dürfen.“  
Erneuter Applaus, der zwar klingt, als würde man seiner liebsten Rockband  
zujubeln, aber aussieht, als befände man sich auf einer Beerdigung.  
Mindestens die Hälfte der Kandidaten sind betrunken und ich habe mir von  
niemandem außer von Lad und Amelia die Namen gemerkt. Nicht nur, weil  
ich die beiden kenne. Sondern auch, weil sie aus der Menge rausstechen wie  
ein buntes Pony. Dabei tragen sie alle die gleiche Kleidung.  
„Mein Name ist Ilona“, stellt die junge Frau sich endlich vor. Das dunkle Haar  
fließt ihr in einem glatten, langen Pferdeschwanz über den Rücken. Sie hat  
etwas von einer wirklich unheimlichen, wirklich gefährlichen griechischen  
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Göttin. „Ich werde von nun an jeden Tag zu euch kommen und euch die  
Entscheidung der Zuschauer mitteilen.“  
„Fliegt heute überhaupt schon jemand?“, murmle ich desinteressiert. „Ich  
meine, man kennt die noch gar nicht. Wäre doch viel sinnvoller, die alle noch  
drinzulassen.“  
„Die bleiben bestimmt auch noch“, sagt Lyra. Mutter sieht kurz auf.  
„Heute werden die Paare verkündet, die die Zuschauer für die erste Woche  
gewählt haben. Diese Paare werden gemeinsam bei den Challenges antreten,  
alle Entscheidungen gemeinsam treffen und“, Ilona lächelt und ich will mich  
wimmernd unter dem Sofa verkriechen, „in einem Bett miteinander  
schlafen.“  
„Diese Frau ist so verdammt unheimlich“, raune ich. „Es ist fast, als wäre sie  
gar kein Mensch. Ich habe nie jemanden wie die gesehen. Die macht mich  
wahnsinnig!“  
„Wahrscheinlich hat sie einfach ihre Seele verkauft, um das Zeug moderieren  
zu dürfen“, murmelt Lyra.  
Mindestens. Oder kleine Babys geopfert. Ich bekomme einen Würgereiz,  
wenn ich sie nur sehe.  
„Das erste Paar“, sagt Ilona, „und gleichzeitig das Paar mit den meisten  
Stimmabgaben“, bedeutungsschwanger sieht sie durch die Reihen, „besteht  
aus Lad“, er blickt desinteressiert auf und kratzt sich an der Nase, „und  
Amelia.“ Kichernd schlägt sie sich eine Hand vor den Mund. Lad überspielt die  
Szene nicht ansatzweise so gut wie Amelia. Während sie lachend auf ihn  
zugeht und beide Arme um ihn schlingt, steht Lad stocksteif da. „Das ist ein  
Witz, oder?“, entfährt es ihm, während Amelia nach seiner Hand greift und  
sich strahlend den Kameras zuwendet. „Das ist ein Scherz.“  
„Das ist kein Scherz, Lad“, sagt Ilona breit lächelnd. „Die Zuschauer haben zu  
eurem Besten entschieden.“  
Er lacht harsch auf. Ich warte darauf, dass er in die Luft geht. Stattdessen  
drückt er den Rücken durch und starrt auf die Bäche, als würde er sein  
gesamtes Leben hinterfragen. Kichernd lecke ich mir die Krümel von den  
Fingern. Das ist nicht ansatzweise die Reaktion, die ich mir erhofft hatte.  
Das hier ist besser.  
100  
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Silberschimmer (Amelia)  
Ich fühle mich wie betäubt, während ich den anderen Paaren zujuble und  
klatsche, mir Lads Präsenz uns seiner Ablehnung überaus bewusst. Ilona  
spricht, aber ich verstehe nicht, was sie sagt. Widernatürlich wirkt diese Frau,  
als wäre sie nicht aus Fleisch und Blut gemacht, sondern aus Vorwürfen und  
Sünden.  
Lad hält meine Hand noch immer. Ich muss seine mitanheben, wann immer  
ich den anderen applaudieren möchte. Seine Muskeln zucken unkontrolliert.  
Unter dem Makeup ist er kreidebleich geworden und starrt auf die  
beleuchteten Bäche, als hätten die Zuschauer seinen ärgsten Albtraum zum  
Leben erweckt. Ich empfinde keine tiefergehende Verbindung für ihn, kaum  
Sympathien und wenig Freude. Zumindest aber ist es mir möglich, ihm  
respektvoll gegenüberzutreten.  
Womit Ilona sich von uns verabschiedet, höre ich nicht. Sie geht, den langen,  
dunklen Zopf glatt auf ihrem Rücken aufliegend, und lässt uns zwischen  
diffusem Licht und plärrenden Strahlern zurück.  
Lad lässt meine Hand los, als hätte er sich verbrannt. „Was hast du zu der  
Kamera gesagt?“, spuckt er. „Bist du besessen von mir? Bist du irgendwie  
irre?“  
Sie beobachten uns jede freie Minute. „Nein“, erwidere ich schlicht und  
lächle Lad breit an. „Mich überfordert die Situation auch.“  
„So wirkst du aber nicht. Du wirkst nie so, als würde dich überhaupt was  
kümmern. Ich wollte deinen beschissenen Briefkasten in Schutt und Asche  
legen und du hast nur schief geguckt. Bist du überhaupt ein Mensch oder was  
bist du?“  
„Um ihn in Schutt und Asche zu legen“, schmunzle ich, „hätte es mehr  
gebraucht, als nur deinen Fuß.“  
„Die Fresse sollst du halten“, murmelt er und verschränkt stoisch die Arme  
vor der Brust. „Was soll der Scheiß?“  
„Ich habe nicht gewählt.“  
„Ich hätte dich auch nicht gewählt, also spiel dich hier nicht auf.“ Langsam  
erlöschen die Scheinwerfer und tauchen uns in einen diffusen  
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Silberschimmer, der aus den Bachbetten sickert. Lads blaue Augen glitzern  
gefährlich. Ich erkenne einen Gewaltverbrecher, wenn ich einen sehe. Er ist  
keiner von ihnen. Lediglich ein kleiner Junge steckt in diesem Mann, der sich  
nicht auszudrücken weiß und ein funktionierendes Ventil für seine Wut sucht.  
„Wir sollten schlafen gehen“, flüstere ich.  
„Schlafen?“ Er lacht. „Neben dir? Ich weiß, wozu du fähig bist.“  
„Wozu?“, frage ich ihn gelassen. „Nie in meinem Leben habe ich versucht,  
fremden Besitz zu demolieren.“  
„Du sorgst dafür, dass Verbrecher freigesprochen werden“, sagt Lad mit  
bebender Stimme.  
„Ich lasse Gerechtigkeit walten.“ Matt lächelnd biete ich ihm meine Hand an  
und er ignoriert die Geste. „Nur, weil die überwältigende Masse meine  
Mandanten für einen Verbrecher erachten, macht sie das noch lange nicht zu  
jemandem, der es verdient hätte, verurteilt zu werden.“  
„Einen Scheißdreck erzählst du.“  
„Ich beleuchte die Wahrheit von allen Seiten“, beharre ich. „Das ist mein  
Beruf.“  
Abfällig schnaubt Lad. „Klar.“ Anstatt nach meiner Hand zu greifen, geht er  
voran. Nachdenklich beobachte ich ihn, während der Abstand zwischen uns  
wächst. Ich wüsste, wie ich ihn zum Täter formen könnte. Diese Show wird  
ein Opfer wollen, das sich langsam dem annähert, was der Zuschauer in Lad  
zu sehen hofft. Den sensiblen, attraktiven Herzensbrecher, der für seine Liebe  
aufgeben würde, was sich ergibt.  
Menschen darzustellen, ist mein Beruf. Es sollte ein Leichtes sein, ihn zu  
Handlungen zu bewegen, die ihn in das rechte Licht rücken. Wüsste ich mehr  
über ihn, wäre es beinahe simpel.  
Schweigend folge ich ihm.  
„Schon krass.“ Melly berührt meine Schulter plötzlich genug, damit ich  
versucht bin, zusammenzucken. Meine Bauchmuskulatur halte ich starr,  
während ich mich breit lächelnd zu ihr umdrehe. „Jeder wäre  
hammerglücklich gewesen, dich abzubekommen, und der macht daraus so  
ein Drama!“  
„Er versucht sich selbst zu schützen“, sage ich und hake mich bei Melly unter.  
Kurzerhand habe ich sie zu meiner Bezugsperson gekürt. Gemeinsam wirken  
103  
wir natürlicher, offener und ab dem morgigen Tag hoffentlich den anderen  
Mädchen noch zugewandter. Es geht nur um das Bild, nur um den Auftritt,  
nicht um das tatsächliche Empfinden. Die Zuschauer kümmert nicht, wofür  
wir stehen und wer wir sind. Erst wenn wir uns formen, wie es ihnen beliebt,  
werden wir relevant und für sie interessant.  
Wenn sie in mir die Frau sehen wollen, die Lads Herz erobert, werde ich das  
sein. In meinem Leben hat man mich bereits vor größere Herausforderungen  
gestellt.  
„Sich selbst schützen hin oder her“, abfällig winkt Melly ab, „das ist doch voll  
lächerlich gewesen!“  
„Niemand reagiert jederzeit perfekt.“ Breit strahle ich sie an. „Hast du dir die  
Frisur selbst gemacht?“  
„Klar.“ Sie zuckt die Schultern. „Da lasse ich keinen ran. Meine Haare sind  
mein Heiligtum. Sieht man doch.“  
„Hilfst du mir morgen mit meinen?“ Zögernd deute ich auf die öde Frisur. Auf  
den hohen Pferdeschwanz. „Diese Mädchensachen zu machen, das kam  
bisher für mich immer zu kurz.“  
„Klar kam es das!“, ruft Melly aus. „Du bist jünger als ich und schon total drin  
in deinem Beruf. Das ist halt heftig.“  
Ich lächle geschmeichelt und sehe durch meine Wimpern hindurch zu ihr.  
„Meinst du?“  
„Na aber sowasvon.“ Kichernd hickst Melly. „Ich kenne keine, die so schnell  
so heftig in ihrem Berufsleben stand wie du.“  
Sie kennt mit Sicherheit niemanden wie mich. Befänden sich mehr Personen  
wie ich auf dieser Erde, wäre dieser Planet ein trostloserer Ort und würde  
sich von Verbrechen zu Blut zu Tod zu Verderben schaukeln.  
„Bestimmt tust du das.“ Ich kokettiere, kichere, halte mich nah bei Melly,  
während Lad im Gebäude verschwindet. „Wir sind alle gleich!“  
„Das sind wir.“ Melly greift nach einem einsam stehenden, halb gefüllten Glas  
und prostet mir zu. „Auf meine künftige Anwältin.“  
Lediglich unter besonderen Umständen. „Cheers.“ Ich halte kein Getränk in  
den Händen. Der Mond wirkt widernatürlich wie alles an diesem Set. Mir  
rinnen Schauer über den Rücken, während ich ihm entfliehe und das  
Gebäude betrete, das auf seine Weise ebenso öde ist wie alles andere und  
104  
gleichzeitig überladen wie ein Süßigkeitengeschäft in der Innenstadt. Pinke  
Slogans stechen mir entgegen, billiges, neonfarbenes Mobiliar, während ich  
Lad die Treppe hinauffolge.  
„Das ist wirklich die aufregendste Zeit unseres Lebens“, lallt Melly. „Wir  
können alles tun, wir dürfen jeder sein! Hättest du je gedacht, so frei zu  
sein?“  
„Nein“, gestehe ich ihr. „Niemals.“  
Das Schlafzimmer ist hell erleuchtet und erste Paare quartieren sich in ihren  
Betten ein. Kichern und Tuscheln und anzügliche Pfiffe. Lad ist nirgends zu  
sehen. Die Tür zum Badezimmer steht offen.  
„Ich werde versuchen, die Wogen zu glätten“, sage ich.  
Kichernd trinkt Melly. „Pass auf, dass du ihm nicht zu anhänglich wirst. Das  
gefällt den Kerlen auch nicht.“  
„Das kann ich mir vorstellen.“ Die eine Beziehung, die ich pflegte, ging nicht  
in die Brüche, weil ich ihm zu viel Aufmerksamkeit schenkte.  
Ein seltsamer Geruch fängt sich zwischen den bunt gekachelten Wänden.  
Wasser rauscht und Dampfschwaden beschlagen die gläserne Tür der  
Dusche.  
„Ich hätte erwartet, dass du kaltes Wasser dem warmen vorziehst.“  
„Damit mich jeder beglotzen kann oder wie?“  
„Weil es deinem Kreislauf imponiert.“  
„Imponiert klingt hier echt falsch.“ Das Rauschen verstummt und ich höre  
Rascheln, als griffe jemand nach Stoff. Dem Handtuch? „Kannst du dich nicht  
irgendwohin verziehen, wo ich dich nicht sehen muss?“  
Seufzend setze ich mich auf einen der Stühle, die kreisförmig um vier  
aneinanderstehende Schminktische angeordnet wurden. Hier wird auf das  
Äußere reduziert. Selten erhielt ich eine größere Chance, in der Menge  
unterzugehen und zeitgleich zu brillieren. Das Polster ist hart und verströmt  
einen chemischen Geruch. Mühsam versuche ich, den heftigen Kopfschmerz  
und die tanzenden Schemen zu ignorieren.  
„Diese Situation tut mir leid“, sage ich. „Ich möchte dir nichts aufdrängen.“  
Lad schnaubt abfällig. „Die wollen uns leiden sehen. Entschuldige du dich  
nicht für die beschissenen Zuschauer.“  
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„Wer tut es sonst?“  
„Na, hoffentlich die Zuschauer!“  
Ich lache leise auf und stütze eine Wange in meine Hand. Aus dem  
Augenwinkel erkenne ich mein Spiegelbild. Erschöpft bin ich wie nach einem  
langen, zähen Prozess und wirke wach, wie ich es zu sein habe. Winzige  
Härchen kitzeln in meinem Nacken und ich streiche sie fort.  
„Darauf wirst du lange warten können.“  
„Wahrscheinlich.“ Das Handtuch um seine Hüfte gewickelt, steigt Lad aus der  
Dusche. Nach einem zweiten greift er und reibt sich damit über das Haar. „Es  
ist halt echt schräg und nichts so richtig Persönliches, aber ich finde dich  
ätzend. Noch ätzender, seit wir hier sind.“  
„Das ist in Ordnung“, sage ich. „Nur, weil die Zuschauer uns gern zusammen  
sehen, bedeutet das nicht, dass wir Zeit miteinander verbringen müssen,  
Spätestens nach dieser Sendung werden sich unsere Wege trennen.“  
Lad schnauft und fährt sich mit der Hand durchs Haar. „Du bist halt schon  
ziemlich irre.“  
„Warum?“  
„Weil du es bist. Frag einfach nicht, gib es nur zu.“  
Schweigend beobachte ich, wie er das zweite Handtuch sinken lässt und es  
über die orange Halterung legt. Er rollt die Schultern. Tiefe Narben ziehen  
sich über seinen Bauch, Punkte, groß wie meine Fingerkuppen.  
„Es würde mich freuen, wenn wir uns den kommenden Herausforderungen  
als Team stellen könnten“, sage ich. „Wir müssen einander nicht  
bekämpfen.“  
„Ich will dich auch gar nicht bekämpfen oder so.“  
„Das klingt nach einer guten Basis.“  
„Ich werde aber auch nicht in einem Bett mit dir pennen.“  
„Das ist unproblematisch“, sage ich. „Wenn du das möchtest, dann schlafe  
ich auf dem Sofa.  
Über den leicht beschlagenen Spiegel hinweg sieht Lad mich stirnrunzelnd an.  
„So läuft der Hase also.“  
„Gegenseitige Rücksichtsname“, sage ich. „Mir gefällt der Gedanke ebenso  
wenig, mein Bett teilen zu müssen.“  
Lad lacht harsch auf. „Ich penne auf dem Sofa.“  
106  
Nach kurzem Zögern hebe ich die Schultern. „Wenn dir das angenehmer ist.“  
„Ich bin der Mann. Ich werde mir garantiert nicht nachsagen lassen, dass ich  
so ein kleines Püppchen wie dich aufs Sofa verbannt habe.“  
„Toxische Maskulinität.“  
„Was du auch sagst.“ Er winkt ab. „Glaub was du willst, aber mir wurde noch  
gezeigt, wie man zu Menschen ist.“  
Die Narben ziehen sich über seinen gesamten Körper, einige gedehnter als  
andere. Eine Karte der Zeit.  
„Das tröstet mich.“ Ich setze mich aufrechter hin. „Wenn du das möchtest,  
könnten wir uns abwechseln.“ Lad zögert. „Das Sofa sieht nicht allzu bequem  
aus und schlussendlich werden wir die Aufgaben gemeinsam als Team  
bewältigen müssen. Es nutzt niemandem etwas, wenn einer von uns beiden  
stets im Nachteil ist.“  
Nach langer Stille nickt Lad. „Klar. Machen wir halt so.“ Er dreht mir den  
Rücken zu und lässt das Handtuch fallen. Desinteressiert betrachte ich mein  
Spiegelbild. Ein Streich des Schicksals, dass ich inmitten eines Containers  
sicherer zu sein scheine als auf freiem Fuß. Marquoire wird diesen Fall zu  
gewinnen wissen. Verliert er, steht sein Kopf auf dem Spiel und meiner,  
sobald ich mich aus dem Fokus bewege.  
„Du bist echt schräg“, sagt er schließlich.  
„Diese Gemeinsamkeit teilen wir uns.“  
Schnaufend lacht er. „Ich finde dich richtig beschissen. Nur, dass du das  
weißt. Du läufst bei mir mit den perfiden Schlangen mit, die kleine Hamster  
töten.“  
Matt lächelnd drehe ich mich zu ihm um. Lad trägt eine mit Werbeträgern  
bedruckte Jogginghose und ein kreischend oranges T-Shirt. Alles, scheint  
darauf ausgerichtet, unsere Sinne abzutöten. „Du bist der Hamster.“  
„Ich war immer der Hamster.“ Breit grinst er mich an. „Glaub, was du willst,  
aber ich bin echt niedlich.“  
„Davon gehe ich aus. Wem der Mensch auch begegnet, ob er es möchte oder  
nicht, er wird sich an seinen Gegenüber anpassen, bis der Spiegel sich  
richtet.“  
„Was du auch sagst.“ Lad dehnt sich. Unter dem dünnen Stoff des Shirts  
spannt seine Muskulatur. „Hier sitzen wir jetzt also im gleichen Fettnäpfchen  
107  
und versuchen, nicht zu ersaufen. Wer hätte das vor einem Monat noch  
gedacht.“  
„Mein Briefkasten“, scherze ich.  
Lad presst seine Lippen fest aufeinander, bis alles Blut aus ihnen gewichen  
ist. Dennoch kräuseln sich seine Mundwinkel kaum merklich. „Man begegnet  
sich halt immer zweimal oder so.“  
„Ja.“ Die Nacht voll Schneestöbern steht mir vor Augen, während ich ihn  
stirnrunzelnd betrachte. Jede der Informationen, die ich Lad gegeben habe,  
könnte er gegen mich verwenden, und ich erachte es nicht für  
unwahrscheinlich, dass er lediglich auf den rechten Moment wartet.  
„Du bist schräg“, wiederholt er und die bemühte Grimmigkeit verrutscht. „Du  
bist halt schon richtig schräg.“  
„Ich würde gern duschen.“  
Kopfschüttelnd greift Lad nach seinem Handtuch und wirft es sich über die  
Schulter. „Mach halt. Ich bin unten.“  
„Ich werde mich an das Bett halten.“  
„Klar wirst du das, Sugar.“ Sein Grinsen ist schmierig. Ich erwidere es, als  
stände nichts zwischen uns, als wären wir ein weißes Blatt Papier, das wir mit  
jugendlicher, naiver Neugierde zu beschreiben beginnen.  
Mir der Kameras überbewusst, trete ich in Unterwäsche gekleidet unter die  
Dusche. Das Wasser ist brennend heiß und hinterlässt dunkle Striemen auf  
meiner Haut. Angespannt verharre ich unter diesem rauschenden Ruhepol  
und verbiete es mir, den Tag vor meinem inneren Auge abzuspielen. Mein  
einziger Fokus liegt auf der stechenden Hitze, auf dem Dampf und auf der  
Welt, die still geworden ist. Mir wird kalt unter dem Brennen und mein  
Körper puterrot.  
Ich befinde mich länger unter der Dusche, als ich sollte. Grölen zerrt mich aus  
meinem kurzen Traum der Entspannung. Ich greife nach einem Handtuch und  
wende den Kameras den Rücken zu. Zwischen zweien ziehe ich mich um, nah  
genug an der Wand, dass die Linsen bestenfalls Schemen werden einfangen  
können.  
Mir ist zu kalt. Mir ist zu heiß.  
Um mich herum tobt das Leben und mit Sicherheit richtet sich das ein oder  
andere Wort an mich. Ich schmiege mich in die Decke und schließe die  
108  
Augen. Es ist spät. Beherrscht fahre ich meinen Organismus herunter.  
Während sie brüllen und schreien und auf ihren Betten springen wie kleine  
Kinder, beende ich den Tag mit der gleichen Disziplin, die ich von mir kenne  
und erwarte. Die Windungen meines Gehirns scheinen zu brennen, trotzdem  
dieses Gewebe nicht darauf ausgelegt wurde, zu fühlen.  
Meine Zehen sind taub. In diesem Bett liege ich allein.  
Und es ist gut so.  
109  
Schwärzer als die Nacht (Ladislav)  
Mir ist eiskalt. Fluchend wälze ich der Lehne den Rücken zu und versuche zu  
ignorieren, dass das Polster härter ist als der Boden. Die brüllen da oben rum,  
als ginge es um ihr Leben. Affen. Testosterongesteuerte Affen, die sich  
jaulend in ihrem Käfig herumwerfen und sich auf die Brust trommeln.  
Naserümpfend starre ich auf das rote Licht. Aufnahme. Überall. Wetten, dass  
die Nachtsicht haben? Bestimmt sehen die mich deutlich besser als ich die  
Lehne unter meinem Kopf. Amelia bekommt mit Sicherheit kein Auge zu. Tut  
mir jetzt auch nicht leid. Sie wollte da oben schlafen, also schläft sie da oben.  
Ist schon simpel manchmal.  
Die werden nicht leiser. Ich überlege, mir die Decke zu schnappen und zurück  
nach oben zu gehen und jeden einzelnen von ihnen in den Staub zu  
stampfen. Und dann? Schnaufend presse ich mir einen Oberarm aufs Ohr.  
Dann sorgen die Zuschauer dafür, dass ich mit jemandem zusammenarbeiten  
muss, der nicht nur abscheulich ist wie Amelia, sondern gleichzeitig  
strohdumm. Ich starre an die Decke. Überall diese kleinen, roten Punkte. Ich  
werde gefilmt, was ich auch tue. Wie ich auch zucke. Die halten voll drauf  
und zeichnen mich auf. Ich wälze mich auf den Rücken und strecke den  
Mittelfinger in die Kamera. Sollen die Cutter daraus machen, was sie wollen.  
Amelia verreckt da oben, während die jaulen wie eine Herde Affen, die sich  
um ihre Banane prügeln. Ich verrecke hier unten, weil die Wände aus Pappe  
sind.  
Fluchend verlasse ich die Pappmascheevilla und durchquere den chemisch  
stinkenden Garten. Das Gras kratzt künstlich an meinen Fußsohlen, der Mond  
starrt mich an wie das Auge eines unbarmherzigen Riesen. Verdammt wie  
diese seelenlose Moderatorin. Ilona? Netter Name, nettes Aussehen,  
scheußliches Wesen. Jedes Grinsen war dermaßen einstudiert, dass ich das  
Kotzen bekommen habe.  
Ich will durch die Straßen wandern und komme hier nicht raus. Die sind laut.  
Richtig laut. Hat denen niemand gesagt, dass morgen wieder voll  
draufgehalten wird und die mit ihren tiefen Augenringen richtig beschissen  
aussehen? Die Arme vor der Brust verschränkt, lasse ich mich auf eine dieser  
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Plastikliegen fallen. Ein dumpfer Laut erklingt. Angewidert verziehe ich den  
Mund. Ist halt schon beschissen, wenn man sein Geld nicht richtig zu  
investieren wusste und jetzt mit dem Schrott eine Show aufziehen soll.  
Könnte man fast heulen. Könnte man fast Mitleid haben!  
Hier ist es nicht ruhiger. Aber da auf dieser fleckigen Matratze in diesem  
Kellerloch, da war es auch nie still. Entweder der Fernseher röhrte oder die  
Alte brüllte.  
Ich vergrabe das Gesicht in meinen Armen. Die grölen, als ginge es um ihr  
Leben. Sollen sie sich doch besaufen. Sollen sie doch ihre Party schmeißen  
und sich verhalten wie kleine Kinder, denen immer alles in den Arsch  
geschoben wurde. Sollen sie doch machen. Morgen bekommen sie die  
Quittung.  
Halb erwarte ich, dass Amelia zu mir kriecht, um ein paar Ruhemomente zu  
erhaschen. Sie scheint stoisch in ihrem Bett zu bleiben. Soll sie doch machen.  
Ist mir doch egal.  
Ist nicht so, als würde hier die Sonne aufgehen. Strahler an und die Hölle  
bricht los. Stöhnend wälze ich mich auf den Bauch und starre vorwurfsvoll auf  
das neongrüne Plastik. Mir dröhnt der Schädel, als hätte ich mich letzte Nacht  
abgeschossen. Die Luft ist seltsam abgestanden und fühlt sich klebrig feucht  
an, als hätten zwanzig Penner in einem Raum geschlafen und vergessen, zu  
lüften. Vorwurfsvoll sehe ich mich an. Die sollen mal was installieren, sonst  
gehen wir hier alle krachen. Keine echten Pflanzen, die irgendwas  
produzieren könnten. Wir ersticken in diesem Container, wenn die sich nicht  
rühren. Ächzend setze ich mich auf. Uns alle abzumurksen, das können sie  
sich nicht leisten. Die verkrampften Schultern rolle ich, den stechenden  
Rücken strecke ich durch und behalte dabei das pastellfarbene, lieblos  
errichtete Gebäude im Blick. Hinter den Fenstern wandern erste, halbnackte  
Körper vorbei. Abfällig verziehe ich den Mund. Haben wenigstens alle was  
zum Glotzen. Auf Freizügigkeit wurde schon im Casting gesetzt.  
Kopfschüttelnd stapfe ich in Richtung des Eingangs. Nackte Körper auf dem  
Bildschirm und schon ist man sich der Quote sicher. Am besten, sie machen  
miteinander rum oder streiten sich in dieser grellen Talkbox. Was weiß ich.  
Sollen die doch machen, was sie wollen, und sich ausziehen, wie es ihnen  
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gefällt. Ich bin verzweifelt. Vielleicht irgendwann verzweifelt genug, aber  
heute noch nicht.  
Ich biege nach rechts in die provisorische Küche ab, gehalten in grellen  
Farben, die mir die Augäpfel aus dem Schädel brennen. Noch keine  
vierundzwanzig Stunden hier und ich fühle mich, als hätte man mein Hirn  
genommen und in den Mixer geworfen, den Amelia betätigt. Das rote Haar  
hat sie in einem lockeren Pferdeschwanz gebändigt. Es ist feucht und ihre  
Kleidung mit mehr Sponsoren bedruckt, als ich zählen kann.  
Matt lächelnd hebt sie den Kopf. „Wo hast du geschlafen?“  
„Na, nicht in dem Irrenhaus.“ Stirnrunzelnd beobachte ich, wie sie eine halbe  
Gurke hinterherkippt und erneut auf den Knopf drückt. Braune Pampe. Will  
doch keiner.  
„Im Garten?“  
„In dem Teufelsding aus Plastik meinst du?“ Harsch lache ich auf. „Die Nächte  
hier sind beschissen. Es stinkt überall nach Chemie und Schweiß und ich  
warte darauf, dass man mir einfach den Schädel wegsprengt.“  
„Sie werden zeitnah die Lüftung installieren“, sagt Amelia mit einer  
lächerlichen Überzeugung. Woher will sie das wissen? Vielleicht wird das  
unsere Aufgabe. Ihr wollt nicht draufgehen? Dann tut was dafür. Die Türen  
sind verriegelt und verrammelt, aber irgendwo da sind Lüftungen, für die ihr  
euch nur die Beine abhacken müsst, damit sie rotieren.  
„Sollen sie doch machen.“  
Ungefragt schenkt Amelia mir was von ihrem Zeug ein. Mir tut alles genug  
weh, um es einfach zu nehmen.  
„Das ist lächerlich“, sage ich nach einer Weile.  
„Was?“ Sie hat sich auf die Anrichte geschwungen und baumelt nachlässig  
mit den Beinen, während sie an der Pampe nippt. Die schmeckt erstaunlich  
gut und frisch, dafür, dass sie aussieht, als hätte ein Fuchs seine letzten  
Überreste dahinein entleert.  
„Alles hier. Abenteuer für den Idioten. Ich fühle mich, als würden die mich  
mit jedem Atemzug mehr vergiften.“  
„Die Möglichkeit besteht“, räumt Sie ein.  
„Tja, falls wir alle draufgehen und du überlebst, kannst du ja auf unseren  
Gräbern tanzen und ein bisschen Kohle daraus scheffeln.“  
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„Ich bin Pflichtverteidigerin.“  
„Dann lass dich halt verpflichten.“ Ich stütze mich mit den Unterarmen auf  
der Anrichte ab. „Meinen Hals würde ich darauf verwetten, dass die meisten  
hier perspektivlose Penner sind, denen gesagt wurde, dass sie mit ihrem  
nackten Körper ein bisschen Kohle machen können. Ich kapier, warum die  
hier sind. Ich bin ja auch einer von denen. Aber was machst du hier?“  
„Ich suche das Abenteuer“, sagt sie sanft lächelnd.  
Ich schnaufe. „Du hast alles. Du hast mehr Kohle, als du ausgeben kannst, du  
bist ganz hübsch, du hast dein eigenes Haus, du bist nicht ganz bescheuert,  
hast eine reiche Familie. Was willst du?“  
„Ich habe keine Familie“, sagt Amelia knapp.  
„Jeder hat Familie“, widerspreche ich. „Manchmal ist sie halt tot oder einfach  
beschissen, aber jeder hat Familie.“  
„Ich bin für sie gestorben.“  
„Ach?“ Ich rolle die Augen. „Deswegen ziehst du dich vor der Kamera aus?  
Damit Daddy stolz auf dich ist, Sugar?“  
„Ich versuche all das aufzuholen, was ich verpasst habe.“  
„Verpasst?“ Ich schnaufe. „Du lebst den Traum! Du bist jung und reich. Was  
dir gefällt, du kannst es kaufen. Alles kannst du haben! Es gibt keine  
glücklichere Seele auf der Erde als dich.“  
„Wird deine Familie stolz auf dich sein?“, fragt sie mich.  
Ich verziehe abfällig den Mund. Immer mit dem Vorschlaghammer  
gegenhauen. Lächerliche Scheiße.  
„Sicher“, höhne ich. „Vielleicht ist meine Mutter raus aus ihrem Rausch und  
vielleicht ist mein Vater am Leben. Kein Plan.“  
„Dein Vater ist tot?“ Amelia wirkt überrascht.  
„Was weiß ich. Ich weiß ja noch nicht einmal, wer er ist.“ Ich hebe die  
Schultern. Fernsehen ist für peinliche Beichten da, anhand derer die  
Zuschauer einen in Schubladen stopfen. „Es waren immer nur meine Mutter,  
ich und ihre cholerischen Freier. Mein Hund, der draufgegangen ist. Was  
weiß ich schon, wie es den Pennern geht.“  
Amelia hebt kaum merklich eine Braue und ich warte drauf, dass sie in  
Gelächter ausbricht oder mir sagt, ich soll mit dem Lügen aufhören. Gibt ja  
113  
schließlich keine Verlierer des Systems. Sind alles nur Randfiguren, die für  
Bücher und Filme vorgekramt werden. Sind schließlich alles Sieger.  
Was weiß ich.  
Wenn der widerliche Kerl, der keine abbekommt, sich eine Frau kauft, ist das  
voll gut, voll okay und keiner verkrüppelt daran. Hängen ja nie Schicksale an  
den gedankenlosen Taten der Menschen, die nicht einmal kapieren, wovon  
sie sprechen.  
„Ich stelle mir dieses Leben schwierig vor“, sagt Amelia schließlich.  
Ich stürze den Rest von dem Zeug runter. Schmeckt halt echt besser, als es  
aussieht. „Du stellst dir einen Scheiß vor“, murmle ich. „Du bist in einem  
goldenen Bett aufgewachsen, hast dir mit Goldstaub den Arsch abpudern  
lassen und hast dich dann in die besten Institutionen eingekauft. Ist doch so.“  
Ihr winziges Lächeln wirkt irgendwie falsch. Nicht so, als würde sie es nicht  
fühlen. Viel zu traurig. So als würde ich ihr ein Leben malen, das sie gar nicht  
hat oder so.  
„Ungefähr“, sagt Amelia schließlich und greift nach meinem leeren Glas. Sie  
spült es aus und trocknet es ab. Ich will mich nicht beschweren.  
„Wenn du möchtest, kannst du heute Nacht in dem Bett schlafen.“  
„Irgendwann müssen die ja pennen“, entscheide ich und zucke die Achseln.  
„Das Sofa ist beschissen.“  
„Ich kann überall schlafen.“  
„Siehst ziemlich wach aus“, stelle ich fest.  
„Ja.“ Sie hebt eine Schulter. „Ich habe recht gut geschlafen.“  
Schnaufend bette ich das Kinn auf meinen gefalteten Händen, die noch  
immer auf der Anrichte ruhen, und beobachte, wie Amelia sich zurück auf die  
pinke Fläche schwingt. „Die haben gebrüllt, als hinge ihr Leben davon ab.“  
„Ich habe den Geräuschpegel am Rande wahrgenommen.“ Schief lächelt sie.  
„Ich war müde.“  
„Bist du Superman oder so?“ Ich rolle über mich selbst die Augen, dann  
verschränke ich die Arme vor der Brust und lehne mich mit der Hüfte gegen  
die Arbeitsfläche. „Es stinkt ihr, als hätte man uns in eine Chemiefabrik  
gesperrt.“  
Amelia bestreitet das nicht. „Die anderen sind wach“, sagt sie schließlich.  
„Falls du duschen möchtest, solltest du es schnell tun.“  
114  
„Ach, wird schon nicht dauern.“ In Erinnerung an die halbnackten, vielleicht  
nackten Körpern hinter den Fenstern verziehe ich das Gesicht. „Hier geht es  
doch um Quoten und halbgaren Fame. Die werfen sich gemeinsam unter der  
Dusche in Pose und holen sich den ersten Skandal ab.“  
Kokett lächelt Amelia mich an. „Das klingt, als hättest du dir über diese Form  
der Aufmerksamkeit Gedanken gemacht.“  
„Hab kurz überlegt, ob ich blankziehe“, räume ich ein. „Aber dafür bin ich  
noch nicht billig genug.“  
„Womöglich fühlen sie sich lediglich in ihren Körpern wohl und genießen es,  
ihn präsentieren zu dürfen.“  
Schnaufend lege ich den Kopf in den Nacken. Neongrüne Decke. Die sollten  
den Innenarchitekt feuern, bevor er auf die echte Welt losgelassen wird.  
„Klar“, sage ich. „Ist doch heiß, wenn fremde, fette Kerle dich begaffen.“  
Amelia verzieht keine Miene.  
„Würdest du dich ausziehen?“  
„Nein“, sagt sie schlicht. „Ich habe nicht viel zu verlieren, wann aber, dann  
büße ich es durch Aktionen dieser Art ein.“  
„Die werden dermaßen angestrengt versuchen, dich aus deinen Klamotten zu  
bekommen“, prophezeie ich ihr, „das wird peinlich werden.“  
„Es wird ihnen nicht gelingen.“  
„Dann wirst du wahrscheinlich fliegen.“  
„Ich bin weder auf Ruhm noch Geld angewiesen“, sagt Amelia glatt.  
„Du läufst aber schon weg, oder?“, schnaufe ich. „Kein Plan, wie das in deiner  
Welt ist, aber um eine Woche weg zu sein, hättest du dir auch einfach einen  
Flieger holen und dich verpissen können. Dafür braucht es keine Kameras.“  
„Es geschieht, was geschehen soll“, weicht sie mir aus.  
Ich rümpfe die Nase. So dämliche Antworten kenne ich, seit ich klein war. Ist  
halt so. Wird halt oft gesagt. Ich rolle den Kopf. Wird halt immer gesagt und  
dann passiert doch genau das, was nicht geschehen sollte.  
„Ich brauche beides“, sage ich unverhohlen. „Wenn die mich nicht  
genommen hätten, wäre ich in die nächste Burgerbude gegangen und hätte  
denen meine Seele verkauft.“  
„Du bist ein Model“, greift sie meine eigene Schönheitslüge auf. „Davon  
solltest du leben können. Du bist sehr attraktiv.“ Die einzige Frau, die das  
115  
nicht ausspricht, als würde sie mich am liebsten in ihr Bett zerren. Sie wirkt  
eher so, als würde mein Äußeres sie eher weniger interessieren. Sollte mich  
nicht jucken. Tut es doch.  
„Mit der unfähigsten Agentin aller Zeiten.“ Ich breite die Arme aus. „Mit mir  
sollte man Zeitungen füllen können. Die hat mir keinen einzigen Job  
rangeholt.“  
„Man müsste dich nicht direkt oberkörperfrei zeigen“, murmelt Amelia,  
„warum also nicht?“  
Stirnrunzelnd betrachte ich sie. „Ich bin jetzt nicht hässlich oder so. Ich bin  
gut trainiert.“  
„Du bist vernarbt“, stellt sie nüchtern fest.  
Ich will ihr ins Gesicht lachen. Unwillkürlich berühre ich meinen Bauch. Tja,  
lang genug nicht mehr dran gedacht, schon verschwinden sie. Für mich. Für  
jeden anderen bleiben sie da.  
„Ich mag die Selbstsicherheit, mit der du deine Makel präsentierst“, fährt  
Amelia lächelnd fort. „Sie inspiriert mich.“  
„Welche hässlichen Narben hast du denn zu verstecken?“, spotte ich. „Hast  
du dir das Fett mal absaugen oder den Busen machen lassen?“ Falls ja, hätte  
der Chirurg nicht mit seinen Implantaten sparen dürfen. Amelia ist fast so  
flach wie ein Brett. Jeder BH ist an die verschwendet.  
„Ich habe eine in der Kniekehle“, sagt Amelia.  
„Hingefallen oder wie?“  
„In der Art.“ Sie schenkt mir erneut dieses seltsame Lächeln, dann seufzt sie  
und stützt sich mir gegenüber auf der Anrichte auf. „Wir sollten uns zu den  
anderen gesellen. Das hier ist ein Teamabenteuer.“  
„Wir sind doch das Paar“, sage ich. Allein bei dem Gedanken an Mellys  
billiges Parfum wird mir übel. Einer von denen ist hohler als der nächste und  
ich bin echt nicht motiviert, Zeit mit denen zu verbringen. Was sollen die mir  
schon geben? Außer Kopfschmerzen, Verzweiflung und beschissene Nächte.  
„Jedes Paar ist nur ein Bestandteil dieses Zahnrads“, sagt sie. „Dieses Zahnrad  
nur ein Sandkorn im Mechanismus.“  
„Macht also alles kurz und klein?“ Ich lache auf. „Den Techniker müsste man  
dann schon in die Schranken weisen.“  
116  
Amelia bietet mir ihre Hand an. Als hätte ich es nötig, da einzuschlagen. „Die  
zeigen sich wahrscheinlich ihre Ärsche und freuen sich, wenn das Implantat  
gut sitzt“, höhne ich.  
„Das erachte ich für ausgenommen unwahrscheinlich.“ Amelia lacht leise.  
„Selbst wenn genau das vor sich gehen sollte, wäre es unterhaltsam.“  
„Warum haben die uns in ein Team gesperrt?“, stöhne ich. „Du bist doch die  
echte Pest und ich bin auch nicht besser. Wollten die sehen, wie wir uns  
zerfetzen?“  
„Der Mensch besteht auch aus guten Ambitionen.“  
„Wir sind die Witzfiguren in einer Realitysendung, die T-Shirts tragen, auf  
denen mehr Sponsoren kleben, als Stoff vorhanden ist. Die guten Ambitionen  
bekommen wir hier bestimmt nicht mit.“  
Amelia widerspricht nicht. Ihre zarte Hand legt sie auf das grellgrüne  
Geländer und huscht die Treppenstufen hinauf. Ich ziehe ernsthaft in  
Betracht hier zu bleiben und einfach nur den Kühlschrank leer zu fressen. Der  
Hunger bringt mich um. Pampe ist zwar ein guter Anfang, aber ein  
Pappkarton ist sättigender. Wird schon nicht rationiert sein. Ich nehme mir  
Eier raus und brate sie mir an. Ich sollte das Zeug in mich reinstopfen, bevor  
die kommen und mir die Haare vom Kopf fressen wollen.  
Die Pfanne in der Hand, einen Löffel in der anderen, wandere ich von der  
Küche in den Wohnbereich. Hinter einer gläsernen Wand befindet sich ein  
recht hübsch zurechtgemachtes Einzelschlafzimmer. Jeder kann den, der dort  
pennt, anglotzen, als wäre er ein Tier im Zoo.  
Die Eier schmecken seltsam. Mehr Salz und Pfeffer? Dieser Chemiegeruch  
versaut mir hier alles. Als würde man mit einem Stab in meine Windungen  
stechen und mir langsam das Hirn aus der Nase ziehen.  
Frische Kerzen wurden um das Bett verteilt, ein Whirlpool steht matt  
erleuchtet in der Ecke. Wetten, dass es da genauso widerlich stinkt wie hier?  
Die alte Luft macht mich müder, als ich eh schon bin. Die sollen sich rühren  
und den Kram in Ordnung bringen. Was haben die davon, wenn wir japsend  
wie Fische auf dem Boden liegen und dann einfach einpennen? Einen  
epischen Kampf und Luft und Liebe werden sie auf die Weise nicht  
bekommen.  
117  
Ich setze mich auf das neonorange, pelzige Sofa und sehe hinaus in den  
Garten. Jeder Knast wäre besser als das hier. Da stinken die Gänge nicht nach  
Plastik und Schweiß. Mir tut der Magen weh und mir schmerzen die Zähne.  
Meine Ohren klingeln und ich schließe für einen flüchtigen Moment die  
Augen. Ist nicht so, als würde das den Kopfschmerz oder irgendwas  
besänftigen.  
Als ich Schritt höre, hoffe ich halb, dass sie zu Amelia gehören. Träge sehe ich  
auf. Die brünette, kurvige Frau ist alles, aber bestimmt nicht die  
Pflichtverteidigerin. Sie trägt ein gefährlich kurzes Kleid, das mehr zeigt, als  
gut für sie ist. „Was?“, frage ich, während sie schweigend da steht, die Arme  
locker an den Hüften baumelnd und den Po rausgestreckt, als wolle sie einer  
Ente zeigen, wie es geht. „Habe ich was verpasst oder wie?“  
Kichernd spielt sie mit einer Locke. Was das immer soll. „Ich dachte mir, wir  
könnten uns unterhalten“, sagt sie und schenkt mir einen künstlichen  
Augenaufschlag. „Isobel.“  
„Isobel?“, wiederhole ich skeptisch. „Dein Name?“  
Wieder kichert sie. „Natürlich ist das mein Name.“  
„Klar doch.“ Wir könnte es anders sein. Ich ringe mir mein umwerfendstes  
Lächeln ab und stelle die Pfanne neben das Sofa. „Willst du herkommen oder  
was?“  
Rot anlaufend setzt sie sich zu mir, die Beine übereinandergeschlagen und die  
Haare drapiert. Sie stinkt nach billigem Parfum. Das hat nie was Gutes  
verheißen. „Hi“, wiederholt sie leise genug, damit ich ihr die winzige Silbe von  
den dicken Lippen ablesen muss. Zu lange rumgeknutscht oder zu viel  
gespritzt? Ich habe mich in mein ganz persönliches Horrorkabinett sperren  
lassen mit einer skrupellosen Verteidigerin, die mir kein falsches Wort und  
kein harsches Urteil durchgehen lässt.  
„Hi. Nett dich kennenzulernen, Isobel.“ Das Wetter interessiert mich mehr als  
sie. Isobel schmachtet mich an, als hätte ich ein Herz, das erobert werden  
könnte. Als wäre ich nicht völlig kopfgefickt und beziehungsunfähig.  
„Ich wollte nur mal Hi sagen“, wiederholt sie und kichert leise. „Du hast heute  
nicht bei uns geschlafen.“  
„Ihr wart laut.“ Ich verbeiße mir jeden abfälligen Kommentar zu Zoos und  
rückläufiger Evolution.  
118  
„Wir haben gefeiert!“  
„Cool. Partys sind toll.“  
Kichernd schlägt sie sich eine manikürte Hand vor ihr Gesicht. „Wir haben zu  
viel getrunken.“  
„Toll. Passiert halt.“  
„Ich bin noch total besoffen.“ Glucksend späht sie durch ihre dichten  
Wimpern zu mir. Ich versuche dahinter zu kommen, ob sie echt sind.  
Schlussendlich ist das eh egal.  
„Dagegen hilft frische Luft und Bewegung.“ Harsch lache ich auf. „Nicht, dass  
es hier frische Luft gäbe.“  
„Hä?“ Sie kratzt sich am Kinn. „Wie meinst du das?“  
„Es stinkt wie in einem Chemielabor.“  
„Ist doch schon viel besser geworden“, murmelt sie und lehnt sich gegen  
mich. Ich zucke zurück, als hätte ich mich verbrannt.  
„Nicht anfassen.“  
„Ich lehne mich doch nur gegen dich“, kichert sie und versucht es erneut.  
Ich kämpfe mich auf die Beine und verschränke abwehrend die Arme vor der  
Brust. Tatscht mich jemand Fremdes an, ist es, als würde man mich an dieser  
Stelle verbrennen. Langsam veröden, bis ich nur noch ein willenloses  
Tanzepüppchen bin, das macht, was jedem gefällt. Widerliches  
Schergentheater.  
„Was ist denn los?“ Sie rollt die babyblauen Augen. „Ich will nicht mal mit der  
knutschen.“  
„Gut.“  
„Bist du irgendwie schizo?“  
„Schizophrenie hat nichts hiermit zu tun.“ Ich bin nicht wahnhaft, ich bin  
nicht in mir selbst gefangen, ich interpretiere nicht übermäßig viel. Ich erfülle  
so gut wie kein Kriterium einer Psychose. Schräg bin ich halt. Und? Dafür  
hübsch genug, damit die Menschen mich trotzdem mögen.  
„Ach, bist du ein Psycho oder wie?“ Wankend steht sie auf. „Was ist denn  
los? Ich will nicht mal knutschen, ich will nur reden.“  
„Worüber?“  
„Darüber“, sie bringt ihren Mund nah an mein Ohr, „wie verdammt gut du  
aussiehst.“  
119  
„Danke.“ Ich weiche vor ihr zurück. „Du bist auch ausgenommen“, ich suche  
nach einem passenden Wort, verwerfe sie alle zusammen, und ringe mir ein  
schmales Lächeln ab, „attraktiv. Wirklich toll.“  
„Ich weiß“, säuselt sie. „Alle wollen mich.“  
„Toll.“ Ich räuspere mich. Die Frau versucht, mich in die Enge zu treiben. Die  
haben Kameras. Überall. Wenn die mich anfassen will, wird sie damit nicht  
davonkommen. Wenn sie mich schlagen will, wehre ich mich. Ich bin keine  
fünf mehr. Ich habe auch nichts zu verlieren. Sie soll vorsichtig mit dem sein,  
was sie tut, verdammt.  
„Und du?“ Sie legt ihre Hand auf meine Brust und ich will sie wegschlagen.  
Nähe vergiftet. Nähe tötet. Nähe fügt Schmerzen zu. Meine Ohren klingeln.  
Die Muskeln zucken. Warum stinkt die Luft, als wollten sie uns alle mit einem  
Schlag erledigen? Lieber rackere ich in einer Fettbude und verbrenne mir die  
Finger an den labbrigen Pommes, als mich hier zerfleischen zu lassen. Der  
Puls dröhnt mir in den Ohren. „Wer will dich?“  
Die zweite Hand. Ich will sie wegtreten und sie an ihren scheißlanden,  
schwarzen Haaren gegen die Wand schleudern. Blut würde fließen. Viel Blut.  
Sie würde spitze Geräusche von sich geben, die sich in ein raues Jammern  
flüchten. Dann die Lunte. Dann der Schnaps. Licht wird flackern.  
Ich lecke mir nervös über die Lippen. Silberfischchen auf dem Boden.  
Neongelber Fußbodenbelag, als wollte man mir mit der bloßen Farbe die  
Augen aus den Höhlen kratzen.  
„Fass mich nicht an“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen vor.  
„Ich will dich“, wispert sie mir zu. Ihr Atem riecht säuerlich. Nach Zahnpasta  
und säuerlich. Gibt sich, sobald sie was isst. Trotzdem widerlich. „Ich will dich  
mehr als jeden anderen hier im Haus.“  
Die Szene werden sie reinschneiden. Die Tussi, die sich an den schrägen Kerl  
ranmacht. Ich bin Model. Nach dem Ding hier will ich ein reicher  
Geschäftsmann sein und niemand nimmt einen Typen ernst, der vor  
laufender Kamera Frauen prügelt.  
Ich bin ein Eisblock, als ich nach ihren Händen greife und sie zurück an ihre  
Hüften führe. Nicht anfassen. Eine einfache Regel. Einfach nicht anfassen.  
„Die Küche ist unordentlich.“  
120  
Mein Kopf fährt hoch. In der Tür steht Amelia, das Haar inzwischen  
geflochten und Falten in der Stirn. Wenn man glücklich ist, den Teufel zu  
sehen, ist die Hölle wohl verdammt heiß geworden.  
„Hab gekocht.“  
„Räumst du die Küche auf?“  
Ich höre Rumoren. „Da sind doch schon andere. Was soll der Schwachsinn?“  
„Sie ist unordentlich“, sagt Amelia und ihre Stimme zittert kaum merklich. Ich  
öffne den Mund, um ihr ins Gesicht zu lachen. Als wäre das besser gewesen  
nach ihrer grünbraunen Pampe.  
War es. Jede Fläche war sauber, als hätte niemand da gearbeitet.  
„Die wird schon wieder in Ordnung kommen.“ Ich dränge mich an Isobel  
vorbei und ringe mir ein gequältes Lächeln ab. „Nett, geredet zu haben.“  
Sie rollt die krass blauen Augen. „Klar“, schnauft sie. „Als wäre das geredet  
oder so.“  
Ist mir egal, was „oder so“ sein soll. Ich dränge mich an Amelia vorbei und sie  
folgt mir auf den Fuß. „Die Küche ist dreckig“, wiederholt sie und klingt  
redlich verzweifelt. „Das Schlafzimmer ist unordentlich. Alles liegt kreuz und  
quer.“  
„Mach halt sauber.“  
„Das habe ich getan!“ Ihr stehen hier bitte keine Tränen in den Augen.  
Ungläubig sehe ich sie an. Will die gefürchtete Verteidigerin heulen?  
Wirklich? Hier? Wegen einer dreckigen Küche? „Jedes Kissen habe ich  
ausgeklopft, jede Decke drapiert, die Schuhe nach Größe sortiert, die  
Kleidung nach Farbe, aber kaum hatte ich den Raum verlassen, war er wieder  
durchwühlt!“  
„Dann bleib halt da.“  
Amelia steht halb zur Wand, halb zu mir, tiefe Falten in der Stirn und die  
Unterlippe bebend. „Es tut weh“, wispert sie, ohne den Mund zu bewegen.  
„Wie?“  
„Es tut mir im Kopf weh.“ Sie spricht so verdammt leise, dass ich nah an sie  
muss, dass kaum noch ein Stück Papier zwischen uns passt. „Ich weiß es nicht  
recht zu erklären“, sagt sie hastig, „aber es lähmt meine Sinne und lässt mich  
panisch fühlen.“  
121  
„Bisschen zwanghaft, was?“, sage ich in normaler Lautstärke und schüttle  
lachend den Kopf.  
„Wir sind ein Team“, erinnert sie mich gepresst. „Wir funktionieren nur  
zusammen.“  
„Sugar“, seufze ich schwer und stütze mich mit dem Ellbogen an der Wand  
ab. Die Kamera dürfte nicht viel mehr sehen als meine Haut. „Ich bin nicht  
dein Putzsklave.“  
Ihr Blick zuckt zu der verdeckten Linse. „Ich drehe durch, wenn nicht alles  
seine Ordnung hat“, haucht sie. Wer bei der lippenlesen will, bekommt echt  
Probleme. „Mit den Menschen werde ich mich arrangieren können, ebenso  
mit der gewöhnungsbedürftigen Ausstattung. Die Unordnung macht mich  
unzurechnungsfähig.“ Ist halt doof bei einer Verteidigerin. Ich will ihr einfach  
nur ins Gesicht lachen und sie genauso dumm dastehen lassen, wie sie es  
normalerweise mit den anderen Menschen tut. Hätte halt nichts davon. Hier  
drin sind wir ein Team. Zumindest für diese eine, beschissene Woche.  
„Ja, dann putz halt“, sage ich. Wenn ich spreche, bewege ich meine Lippen,  
ob ich es nun möchte oder nicht. Keine Chance, daran etwas zu ändern.  
„Macht bestimmt Spaß.“  
Flehend sieht sie mich an. Als könnte ich irgendwie zaubern und das ganze  
Chaos verschwinden lassen.  
Fluchend greife ich nach ihrer Hand. Aus den Augen, aus dem Sinn? Wie die  
zittert, bestimmt nicht. Dann halt ablenken. Ich zerre sie unsanft aus dem  
Haus, hinein in das Paradies aus Plastik. Die Liegen sind der Länge nach  
geordnet und haben alle die gleiche Farbe. Das Gras ist synthetisch, also  
krampfhaft gleichlang und was weiß ich noch alles.  
Bebend lehnt sie sich an mich und ich brauche jeden Funken meiner  
verfluchten Selbstbeherrschung, um sie nicht fortzustoßen. Ein seltsamer  
Geruch weht mir in die Nase. Zumindest nicht billig. Wahrscheinlich hat sie  
das Sortiment jeder Nobelmarke bei sich rumstehen.  
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie starrt auf die Wand. Hinter uns grölen die  
anderen, als hätten sie keinen Funken Hirn in ihrem leeren Schädel.  
Ich lege ihr einen Arm um die Hüfte und hoffe einfach, dass das ausreicht,  
damit sie nicht zu heulen beginnt. Eine rote Strähne fällt ihr in das  
sommersprossige Gesicht. Wenn man die Kleine sich so anguckt, sieht sie  
122  
nicht so aus, als könnte sie das Leben eines anderen Menschen mal eben  
ruinieren. Sie ist halt niedlich, zierlich, recht hübsch und wenn sie den Mund  
nicht aufmacht, dann wirkt sie wie jede andere Frau auch.  
Ich kapier nicht ganz, warum man sie hierhaben will. Weil sie diesen  
skrupellosen Ruf hat oder weil die Psychologen in Moment eins gesehen  
haben, dass sie zwangsgestört ist wie keine Zweite? Wird bestimmt lustig,  
wenn ständig jemand ausrastet, weil der Boden nicht gewischt wurde. Wie  
zerstört man Karrieren? Genau so. Die wusste bestimmt, worauf sie sich  
einlässt. Macht die ganze Sache noch seltsamer. Neugierde brennt mir auf  
der Seele, aber ich halte die Klappe. Bringt ja auch nichts. Die filmen jedes  
Wort, das unsere Münder verlässt. Vielleicht kann sie reden, ohne die Lippen  
zu bewegen. Ich bin ein ganz normaler Mensch, der die Dinger nicht nur  
braucht, um nett auszusehen, sondern auch, um Worte zu formen.  
„Isobel ist sehr hübsch“, bricht Amelia schließlich das Schweigen. „Sie wäre  
bestimmt glücklich, wenn ihr das nächste Paar bilden könntet.“  
„Ist mir echt egal.“ Ich zucke die Achseln. „Egal, wen sie mir zuteilen, ich  
penne mit niemandem in einem Bett.“  
„Das verlangt man nicht von dir.“  
„Besser so.“ Ich räuspere mich. „Aber ist schon hübsch. Ich mag ihre Augen  
und ihre Haare. Sie ist schon eine Nummer.“  
„Sehr durchtrainiert“, wirft Amelia ein. „Sie hat eine umwerfende  
Ausstrahlung.“  
Wo? „Ja, würde schon ganz okay zu mir passen.“  
„Sie ist dein Gegenstück in diesem Spiel“, sagt sie lächelnd und schenkt mir  
einen Wimpernaufschlag, der verboten sein sollte. Grinsend betrachte ich  
Amelia.  
„Versuchst du mich zu verkuppeln, Sugar?“  
„Wir werden nicht bis ans Ende dieser Zeit ein Paar bleiben“, sagt sie.  
„Spätestens, wenn man die Wahl uns überlässt, werden wir zu jemand  
anderem tendieren.“  
„Wen willst du?“  
„Einige wirken ansprechend.“  
„Du stehst also auf hohle Typen mit fetten Muskeln?“ Ich lache auf. „Hätte  
dir mehr zugetraut.“  
123  
„Nicht jeder Mensch ist sein Gesicht und nicht jeder Mensch sein Körper.“  
„Wohl eher sein Alkoholpegel.“  
„Deine Ablehnung erschreckt mich.“  
„Ach, tu nicht so, als wäre dir nicht von Anfang an klar gewesen, wie ich auf  
den Schwachsinn reagieren werde.“  
„Auf welchen Schwachsinn?“ Ihre Atmung beruhigt sich. Wenn ich jedes Mal  
mit der reden muss, wenn jemand nicht aufräumt, na dann Gute Nacht.  
„Auf die Hampelmänner hier.“  
„Wir sind wie sie.“  
„Wir sind ein Scheiß.“ Ich rolle die Augen. „Die besaufen sich, damit sie am  
nächsten Morgen noch immer nicht wieder funktionieren. Wenn die Kohle  
haben, lassen die sich alles unter die Haut schieben, um mehr auszusehen,  
wie irgendeine austauschbare Tussi.“  
„Jeder Mensch strebt sein eigenes Ideal an.“  
„Macht die nicht weniger billig.“  
„Es wirkt auf mich“, sagt Amelia langsam, „als würdest du recht heftig auf die  
Erscheinungen reagieren, weil du persönliche Verknüpfungen dazu pflegst.“  
„Ach, halt doch den Mund.“ Die Finger ihrer rechten Hand huschen über  
meinen Rücken. Unsanft mache ich mich von ihr los. Der geht es gut, sie soll  
mich in Frieden lassen. „Sollen sie mich davon überzeugen, dass sie nicht nur  
billig und gestellt sind.“  
„Jeder Mensch benötigt eine Chance.“  
„Haben sie. Vierundzwanzig Stunden am Tag.“  
„Niemand lebt, um sich dir zu beweisen.“  
„Würde nur einer leben, den juckt, was ich denke, dann wäre ich schon froh“,  
sage ich harsch und trete noch ein Stück fort von ihr. „Was los? Ärgerst du  
dich darüber, in die falsche Branche gegangen zu sein? Nach der Nummer  
hier, brauchen wir doch alle einen Seelenklempner. Du am meisten!“  
Amelia geht auf mich nicht ein. „Sprich mit ihnen“, sagt sie sanft. „Einige von  
ihnen wirken aufrichtig freundlich.“  
„Die können mich mal.“  
„Niemand möchte dich zu Taten zwingen.“  
„Ach? Nicht einmal du?“  
„Am wenigsten ich.“  
124  
„Ich glaube dir kein Wort.“ Am liebsten würde ich ihr vor die Füße spucken,  
aber zwischen dem Plastikzeug, da verrottet nichts. „Die reden nur Müll.“  
„Das ist nicht wahr“, sagt Amelia entschieden. „Sie sind herzensgut.“  
„Und besoffen.“  
„Das macht sie nicht weniger wertvoll.“  
„Erzähl dir doch jeden Schrott, den du dir erzählen willst.“ Schnaufend  
verschränke ich die Arme vor der Brust. „Ich bin nicht hier, um mich mit  
besoffenen Prollen anzufreunden.“  
„Warum?“, fragt sie mich schlicht.  
Verständnislos sehe ich sie an. „Je einen betrunkenen Mann erlebt?“  
„Gestern.“  
„Auch ohne Kameras?“  
„Hin und wieder.“  
„Die prügeln dir die Seele aus dem Leib“, sage ich gepresst. „Jeder von denen.  
Die zerschmettern deine Knochen, dann treten sie dich gegen die Wand und  
sagen dir, du sollst nicht heulen. Sie sagen dir, du sollst dich nicht so haben,  
und wenn du versuchst, ihre alte Karre kurzzuschließen, um in das nächste  
Krankenhaus zu kommen, dann reißen die dich da raus, schleudern dich auf  
den Asphalt, bis dir alles wegbricht, und versuchen, dich zu überfahren. Das  
sind besoffene Typen. Das machen die. Wenn du dich mit denen anfreunden  
willst“, ich hebe die Schultern, „mach halt, aber heul nicht rum, wenn sie  
anfangen, dir die Knochen zu brechen.“  
Amelia verzieht keine Miene. „Du sprichst aus Erfahrung.“  
„Ist doch scheißegal.“  
„Mutter oder Vater?“  
„Was?“  
„Die Narben.“  
„Ist doch scheißegal.“ Ich hebe harsch die Schultern. „Ich habe gar keine  
Narben.“  
Amelia verzieht keine Miene, während sie weiterhin starr auf die Wand stiert,  
die sich bestimmt kein Stück bewegen wird. „Hoffentlich aktivieren sie bald  
die Lüftung“, murmelt Amelia.  
„Tja, falls nicht, dann gehen wir hier eh bald alle zusammen drauf.“  
„Das wird nicht geschehen.“ Amelia sieht mir fest in die Augen. „Der Mensch  
125  
selbst ist nicht schlecht.“  
„Ausgerechnet aus deinem Munde.“ Ich schnaufe. „Das muss man in deiner  
Position wohl glauben.“  
„Worauf spielst du an?“  
„Du haust die Verbrecher aus dem Knast. Du musst wohl glauben, dass jeder  
Mensch etwas Gutes hat, woran es sich zu glauben lohnt.“  
„Jeder verdient eine zweite Chance“, sagt Amelia schlicht.  
„Auch, wenn er Leute umgebracht hat?“  
Ihre Miene versteinert. Augenrollend verschränke ich die Arme vor der Brust.  
Ist immer so verdammt leicht. Wasser predigen und Wein trinken.  
„Danke für die kurze Auszeit“, sagt Amelia unvermittelt. „Ich habe sie sehr  
genossen.“  
„Ist nicht so, als wärst du nicht selbst dazu in der Lage, das Haus zu  
verlassen.“  
„Ich danke dir“, wiederholt Amelia.  
„Mach halt.“ Achselzuckend stapfe ich fort von ihr. Ich bilde mir ein, dass sich  
jeder ihrer kalkulierten Blicke in meinen Rücken bohrt. Die taktiert wie keine  
Zweite. Möglich, dass ihr Ausraster nicht einmal wirklich war, sondern nur ein  
Teil eines ausgezwickten, genialen Spiels, hinter das ich noch nicht  
gekommen bin. Der traue ich alles zu. Mehr als alles. Nur nicht, dass sie  
harmlos ist.  
Ich drehe mich zu ihr um. Amelia ist verschwunden. Wahrscheinlich rein in  
die Küche, um zu putzen wie der Teufel. Abfällig verziehe ich den Mund. Soll  
sie doch machen. Bei zwanzig Mann ist die in zehn Minuten wieder dreckig,  
als wäre eine Bombe eingeschlagen.  
126  
Herzrasen (Amelia)  
Der helle Glockenton lässt mich aufhorchen. Isobel und Melly kichern beide  
und schlagen sich die Hände vor den Mund. Der Bildschirm im Schlafzimmer  
erwacht zum Leben und ich setze mich aufrechter hin. Leise quietscht die  
Matratze unter meinem Körper.  
In wahrhaftiges, greifbares Sonnenlicht getaucht steht Ilona auf einer  
Veranda, Pflanzen mit kompakten, grünen Blättern hinter sich und das Haar  
zu einem dicken Zopf geflochten, die Karteikarten in der Hand. Ihr Lächeln  
bleibt seelenlos, ihre Bewegungen mechanisch, als sie eine Hand hebt, als  
wolle sie uns halbherzig grüßen.  
„Meine lieben Glückssuchenden“, sagt sie. „Hoffentlich konntet ihr eure erste  
Nacht in der Villa richtig genießen.“ Melly jubelt und stößt mit Isobel an. Seit  
beinahe vierundzwanzig Stunden scheint der Alkoholpegel in ihrem Blut  
gleichbleibend zu sein. Eine unangenehme Beobachtung. Ich schließe mich  
ihnen an, ohne zu trinken. „Nun wartet die erste Aufgabe auf euch. Die  
Zuschauer duften wählen.“  
Ilona wechselt die Karten, ohne einen einzigen Blick darauf geworfen zu  
haben. Noch immer funkeln zahlreiche Ringe an ihren Fingern. Sie alle haben  
gewechselt. „Gemeinsam mit eurem Partner werdet ihr euch einer  
Kusschallenge stellen.“ Mir war bewusst, welche niedrigen Momente auf uns  
warten werden. Dem ersten nun gegenüberzustehen, ist bezeichnend. Ich  
halte das Lächeln aufrecht und applaudiere überschwänglich mit Melly und  
Isobel, während Ilona die Karten erneut tauscht.  
„Mit verbundenen Augen werden die Damen der Reihe nach jeden ihrer  
Mitspieler küssen und die Herren jede ihrer Mitspielerinnen.“ Lad wird über  
diese Aufgabe hinweg den Verstand verlieren. Auf keine gute Weise. Er  
scheint Berührungen zu scheuen wie ich das Chaos. Mir entsteht der  
Eindruck, dass zu Teilen bereits der Geruch eines Parfums genügt, um ihn  
unzurechnungsfähig zu machen. „Das Paar, das die meisten Namen richtig  
errät, hat gewonnen und darf sich auf einen von den Zuschauern gewählten  
Preis freuen.“  
Kichernd schlägt Melly die Hände vor ihr Gesicht. „Da küssen wir ja jeden  
außer unserem Partner!“  
127  
„Dann wissen wir, wer für das nächste Mal zu uns passt.“ Isobel wirft Melly  
einen vieldeutigen Blick zu. Ich lecke mir über die Unterlippe. Niemand hat  
von Küssen auf den Mund gesprochen.  
„Ich freue mich darauf, euch in einigen Tagen endlich wieder in Person zu  
sehen“, sagt Ilona und breitet mechanisch die Arme aus. „Doch bis dahin:  
Versammelt euch sofort auf der Wiese und stellt euch in zwei Reihen auf.  
Einmal die der Frauen, einmal die der Männer. Eine feucht-fröhliche  
Challenge wünschen euch die Zuschauer und ich.“ Ilona applaudiert sich  
selbst und wir fallen johlend mit ein. Die Stimmbänder schmerzen mir. Ich bin  
es nicht gewohnt, die Stimme auf die ein oder andere Weise zu erheben und  
somit unangemessen zu beanspruchen. Meine Füße kribbeln. Niemand hat  
von Küssen auf den Mund gesprochen.  
Lad wird seine liebe Verzweiflung im Rahmen dieses Unterfangens haben.  
Quietschend und strampelnd springt Melly auf die Füße und reißt die Hände  
in die Luft. Menschliche Freude war der tierischen nie fern.  
„Ich errate alle“, sagt Isobel. „Wenn ich Lippen sehe, weiß ich sofort, wie sie  
schmecken.“  
Lachend werfe ich den Kopf in den Nacken. Die Kissen liegen nicht mehr  
korrekt. Ich fokussiere mich auf Isobel. Das dichte, dunkle Haar hat sie in  
einem hohen Pferdeschwanz gebändigt. Sorgfältiges Augenmakeup kitzelt die  
eigentliche Farbe ihrer Iriden hervor himmelblau. Ich bewundere ihr  
Auftreten und ihr Selbstvertrauen. Mit einer königlichen Eleganz bewegt sie  
sich durch den Schlafsaal, die Arme ausgebreitet, als bräuchte es nur einen  
Luftzug, um den Kontakt zum Boden zu verlieren.  
„Deine Chance“, sagt Melly grinsend. „Küss Lad!“  
„Ich werde Lad küssen“, schwört Isobel. „Ich werde ihn solange küssen, bis er  
es bereut, mir nicht im ersten Moment schon verfallen zu sein.“ Kokett  
kichernd wirft sie sich den langen Zopf über die Schulter. „Dann nehme ich  
einen anderen.“  
„So erzieht man sich die Jungs.“ Melly und Isobel schlagen ein. Ich folge  
ihnen. Die flachen Turnschuhe haben beide abgelegt. Isobel steckt noch  
immer in ihrem kurzen Partykleid, Melly und ich haben aus der  
werbeträgerlastigen Kleidung das Beste gemacht. Aktuell fühle ich mich nicht  
in der Verfassung, den Sender herauszufordern. Die Produktion sitzt am  
128  
längeren Hebel. Im Zweifel drehen sie uns die Luftzufuhr vollständig ab. Mit  
jedem Atemzug fühle ich mich schwindeliger. Hinter einer dicken Metallwand  
lockt die Freiheit. Ich verbiete mir diesen Gedanken. Die Freiheit watet mir  
Verbrechern auf, die ich geschworen habe, zu verteidigen. Um ihr Leben und  
somit mein eigenes zu retten.  
In ihren High-Heels sind Melly und Isobel beide deutlich größer als ich,  
während sie glucksend aus dem Schlafsaal stürmen, mich direkt hinter ihnen.  
Ich bilde mir ein, eine sanfte Brise auf meinem Gesicht zu spüren, während  
die übrigen sieben Mädchen aus den Winkeln des Sets hervortauchen und ich  
sich kichernd und gackernd auf der Wiese versammeln. Als spontan nach den  
Händen der jeweils anderen gegriffen wird, lasse ich mich auf die Geste ein.  
Melly steht zu meiner rechten. Ihre Finger sind kühl und pulsieren kaum  
merklich. Zu meiner linken befindet sich nichts als leere Luft.  
Männer werfen uns vielversprechende Blicke zu. Jeder von ihnen ist  
austauschbar, jeder von ihnen zweifelsohne attraktiv. Mindestens zwei teilen  
sich eine Hautfarbe, mindestens zwei die gleiche Statur, mindestens zwei den  
gleichen Akzent. Als hätte man Diversität krampfhaft genug schaffen wollen,  
um sie im nächsten Atemzug zu vermeiden.  
Steif tritt Lad mir gegenüber, der Blick verkniffen und die Arme selbst dann  
noch stoisch vor der Brust verschränkt, als Benni nach seiner Hand zu greifen  
versucht. Der Geruch von Alkohol hängt schwer in der Luft und wickelt uns in  
betäubende Wolken.  
„Ist simpel“, grölt ein Mann, dessen Namen ich noch nicht in Erfahrung  
gebracht habe. Das hellbraune Haar trägt er hinten kurz und vorn lang genug,  
damit ihm eine formvollendete Locke in die sonnengebräunte Stirn fallen  
kann. Seine Zähne sind weißer als mein Porzellan und die Hände groß und  
grob, als wäre er es gewohnt, schwerere Arbeit zu verrichten. Oder  
beträchtliche Gewichte zu heben. „Merkt man sich halt, wo jeder steht.“  
Wir werden nicht ohne Leitung beginnen dürfen. Ich erwarte, dass uns die  
Augen verbunden werden. Das leise Bimmeln eines Glöckchens.  
Lad zuckt herum. Nicht Ilona überschreitet die Wiese mit festem Schritt, das  
Lächeln breit und mechanisch auf den Lippen, sondern ein Mann, der aus  
dem gleichen Holz geschnitzt zu sein scheint wie sie. Die gleiche ebenmäßige,  
sonnengeküsste Hautfarbe teilen sie sich, das gleiche, dichte, dunkle Haar.  
129  
Seine Augen sind tot wie ihre und die Bewegungen gerade fließend genug,  
um sie müßig als natürlich zu akzeptieren.  
„Meine Glückssuchenden!“, ruft er, lange bevor er bei uns angekommen ist.  
Glucksend wippt Melly auf und ab. Ihre Augen glänzen.  
„Ich errate höchstens zwei“, haucht sie. Der Geruch von Alkohol liegt in ihrem  
Atem. „Kannst du dir vorstellen, dass wir sie gleich küssen dürfen? Jeden von  
ihnen?“ Schmachtend betrachtet sie die Männer, die lachen, die starren, die  
feixen. Ich befinde mich auf einer Fleischschau und danke dem Shirt, dass es  
weder eng anliegt noch mir in einer Weise schmeichelt.  
„Ja“, antworte ich gedämpft. „Schier unglaublich.“ Aber bedauerlicherweise  
erwartet. In den Tagen nach der Bekanntgabe meiner Teilnahme habe ich das  
System dieser Sendungen recherchiert, mir einige Folgen angesehen und  
nicht die Muße gefunden, die Teilnehmenden zu belächeln. Die Produktion  
führt Menschen vor, presst sie in Charaktere, spinnt Liebesgeschichten und  
zersprengt Partnerschaften, wenn der Sinn danach steht. Es wird auf die  
Dümmlichkeit der Kandidaten gezielt, um jenen, die ebenso dümmlich vor  
dem Bildschirm sitzen, ein Gefühl der Macht zu vermitteln. Man verdreht die  
Tatsachen, bis sie Blut lecken, und schafft aus ihnen Wahrheiten, mit denen  
die Kandidaten sich im Nachhinein identifizieren müssen, um sich erfolgreich  
zu vermarkten.  
Ein verzerrtes Bild, zu dem sich die Menschen verzerren, um zu gefallen und  
vor dem eigenen Leben zu fliehen.  
„Ich wette, Lad kann küssen“, flüstert Isobel, heiser vor Aufregung. „Ich  
wette, er kann richtig gut küssen.“  
Im besten Fall bewahrt er die Beherrschung. Angespannt beobachte ich jede  
von Lads Bewegungen. Sie sind steif und kantig, während der Moderator die  
letzten Meter überbrückt und sich zwei Meter von Lad und mir entfernt an  
den Kopf der beiden Reihen stellt. Das Lächeln erreicht seine dunklen Augen  
nicht.  
„Heute spielen wir unser erstes Spiel!“  
Überschwänglicher Jubel schwappt ihm entgegen und ich falle mit ein. Ab  
einem bestimmten Punkt sollte mit dem Strom geschwommen werden, um  
nicht unter Wasser gerissen und ertränkt zu werden.  
130  
„Es heißt: Kuss oder Geh.“ Ein Kollektives nach Luftjapsen. „Die vier  
schlechtesten Kandidaten stehen zur Wahl für die Zuschauer. Zwei von ihnen  
werde schon heute Abend die Villa verlassen. Für sie wäre dieses Abenteuer  
vorbei, kaum dass es begonnen hat.“ Lads Augen zucken. Ich rolle leicht  
meine linke Schulter. „Das wollen wir natürlich alle nicht!“, ruft der fremde  
Mann vor, der keine Sekunde verschwendet hat, um sich vorzustellen. Ich  
gehe davon aus, dass man seinen Namen den Zuschauern einblendet. Für  
mich ist er derjenige, der mir die Pistole auf die Brust setzt. Entweder ich  
tanze nach den Regeln oder meine eigenen Entscheidungen ziehen mich  
zurück in den Fall, dem ich entfliehen wollte. Mit katastrophalen Folgen.  
Mir sind die Namen der meisten noch nicht bekannt. Meine Zunge prickelt,  
als würde sie betäubt.  
„Gleich werdet ihr die jungen Männer vor euch der Reihe nach küssen“,  
erklärt er. Mir ist übel. „Dabei werden euch die Augen verbunden und vor  
jeder neuen Teilnehmerin werden die Männer einmal durchtauschen, damit  
niemand einen unfairen Vorteil hat.“ Tuscheln. Neben mir wippt Melly  
aufgeregt. „Auf dem Tisch“, er deutet auf die weiße Fläche, die ich stets zur  
Kenntnis nahm, aber nie als bedeutungsvoll einstufte, „warten die zehn  
Bilder der zehn Kandidaten auf euch. Ohne euch umzudrehen, werdet ihr sie  
der Reihe nach sortieren. Das Bild der ersten Person, die ihr glaubt, geküsst  
zu haben, soll sich ganz links befinden, alle weiteren Bilder werden der Reihe  
nach rechts daneben gelegt. Diejenige mit den meisten Übereinstimmungen  
gewinnt das Spiel.“  
„Ich kann so gut küssen!“, flüstert Isobel aufgeregt. „Ich werde sie bestimmt  
alle erraten. Bestimmt!“  
„Auf den Gewinner wartet eine Überraschung.“ Der Mann lächelt mechanisch  
in die Runde. „Die gleichen Regularien gelten für die Herren. Unsere Damen  
beginnen.“  
Breit lächelnd reicht der Mann mir ein schwarzes Tuch. „Amelia, du beginnst  
das Spiel.“ Niemals links stehen, sich niemals aus der Menge wagen, niemals  
hervorstechen. Bitterschmeckende Galle verätzt mir den Mundraum, als ich  
mich mit dem Rücken zu dem Fremden drehe. Meine Muskulatur verspannt  
sich, während ich Melly und Isobel kichern zuwinke. Der Mann, dessen  
131  
Namen ich nicht kenne, beraubt mich meines Sehsinns. Ich rieche die  
chemischen Ausdünstungen meiner Umgebung.  
„Meine Herren“, höre ich ihn sagen, „tauscht die Plätze.“  
Lad wird sich unter meiner Berührung versteifen, Benni mich an sich ziehen.  
Keine Namen müssen zugeordnet werden, lediglich Bilder. Die Merkfähigkeit  
wird geprüft. Wozu sollen die Ergebnisse im Endeffekt dienen? Keine  
Quotenshow ohne fähige Analytiker. Keine Show, die auf ein Jahr angesetzt  
ist, ohne Änderungen.  
Kleidung raschelt, wirre Stimmen, Jubeln, Johlen.  
Eine fremde Hand greift nach meiner. Es kostet mich meine gesamte  
Selbstbeherrschung, nicht zurückzuzucken. „Ich führe dich nun zu dem ersten  
Herrn“, sagt der Fremde. Gewaltsam entspanne ich mich. Panik ist keine  
Gefühlsregung, die ich mir leisten kann.  
Kichernd lehne ich mich leicht an ihn. „Sag mir wenigstens, mit wem ich  
beginne“, scherze ich.  
Schallend lacht er auf. Alles an diesem Geräusch klingt falsch. „Das Ziel dieses  
Spiels ist es, dass du das selbst herausfindest.“ Es ist die Stimmlage, die ihn  
mechanisch wirken lässt. Sie bleibt statisch. Als spräche eine Maschine durch  
den Körper eines Menschen.  
„Sobald du bereit bist, erklingt eine Glocke“, sagt er. „Sobald du den letzten  
geküsst hast, ertönt sie erneut. Ich werde dich an die Hand nehmen und zu  
dem Tisch führen. Dort darfst du die Augenbinde abnehmen und die Bilder  
sortieren. Hast du das verstanden?“  
„Ja.“  
„Bist du bereit?“  
Meine Muskulatur zuckt und zittert. „Ja.“ Die Glocke erklingt. Ich  
konzentriere mich auf den Hauch von menschlicher Wärme und strecke  
dorthin die Hände aus. Der Geruch liegt mir schwer in der Nase. Ein  
gewaltiges Aftershave, ein anders riechendes Deo. Ich speichere die  
fadenscheinigen Informationen ab und hauche ihm einen kleinen Kuss auf die  
Wange.  
Johlen wird laut.  
„Küss die Jungs richtig!“, ruft Isobel mir zu. „So eine Chance bekommst du nie  
wieder.“  
132  
Ich gehe nach links, warte, bis ich die Körperwärme registrierte, strecke dann  
die Arme aus und speichere jeden Eindruck ab, den ich einfangen kann. Raue  
Haut. Unebenheiten. Muskulatur, Spannung, kleine Geräusche. Raues  
kichern, das ruckartige Wenden des Kopfes, als würde ein Fremder  
versuchen, meinen unwilligen Kuss zu fangen.  
Anstatt mich auf die Nähe zu konzentrieren und die zahllosen  
Grenzüberschreitungen, fokussiere ich mich auf die Informationen. Ich ordne  
ihnen vage Gesichter zu. Meine Lippen streifen eine Wange und derjenige  
zuckt zurück. Finger, die sich um meine Hüfte schließen, Haar, das mich  
kitzelt.  
Als der Glockenton erklingt, erlöst er mich von einem Teil dieses Strauchelns.  
Die fremde Hand führt mich durch Finsternis. Eben fühlt der Boden sich an,  
rau und kantig. Mir wird das Tuch abgenommen und das Licht blendet mich.  
Zehn Fotos sehen mir entgegen.  
Es wäre taktisch unklug, sie alle richtig zuzuordnen. Ich entscheide mich für  
sechs Treffer, ein akzeptables, mittelmäßiges Ergebnis, sortiere Benni und  
Lad als offensichtlichste Kandidaten an die offensichtlichsten Stellen und  
wende mich folgend fremden Gesichtern zu.  
Als ich fertig bin, hebe ich die Hände und trete einen Schritt zurück.  
Der Fremde wartet direkt neben mir. Seine Gegenwart jagt mir Schrecken ein  
wie sonst nur die eines Mörders in meinem Wohnzimmer.  
„Wir blenden Ihnen zu Hause das Ergebnis ein“, sagt der Herr. „Um die  
übrigen Kandidaten nicht zu verunsichern oder in Sicherheit zu wägen,  
werden sie das Ergebnis erst ganz zum Schluss erfahren.“  
Pfiffe werden laut. Mir ist heiß und kalt zugleich, als die Karten wieder  
vermischt und zurückgelegt werden.  
„Amelia, kehr bitte auf deinen ursprünglichen Platz zurück.“ Ich gehorche, ein  
breites Lächeln auf den Lippen und konzentriere mich auf Melly. Mit weit  
geöffnetem Mund sieht sie mich an und fächelt sich Luft zu.  
„Du bist ja eine!“, ruft sie aus. „Das hier ist eine Kusschallenge.“  
„Ich habe jeden von ihnen geküsst“, gluckse ich.  
„Aber nur auf die Wange“, plärrt Isobel überlaut und hakt sich bei Melly  
unter. Einen Wimpernschlag später wird sie zu dem Herrn gebeten. Die  
Aufmerksamkeit richtet sich auf Melly mit ihren blonden Locken und ihrem  
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angeschwipsten Glucksen. Ich fokussiere mich auf Lad. Er ist kreidebleich und  
steht steif da, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt. Sollte er sich  
diesem Spiel nicht verweigern, wird er es gut lösen. Ich weiß nicht, woher ich  
dieses Vertrauen nehme, spüre jedoch bis in meine letzte Faser, dass diese  
Vermutung der Wahrheit entsprechen wird.  
Die Männer tauschen ihren Platz und Lad stellt sich erneut mir gegenüber  
auf. Seine Pupillen wirken übernatürlich groß. Melly wird zu ihm geführt. Er  
fixiert mich und rührt sich nicht von der Stelle, während Melly ihre Lippen auf  
seine presst. Wie paralysiert verharrt Lad in seiner Starre. Runde um Runde,  
Minute um Minute. Auf meine Weise tue ich es ihm gleich, feuere hin und  
wieder Frauen an, deren Namen ich nicht kenne, und juble, wenn sie auf den  
Tisch zugehen und die Bilder zu sortieren beginnen.  
Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich es mir nicht leisten, diese Show zu verlassen.  
Es braucht kein Genie, um zu erkennen, dass es Lad ähnlich geht. Ihm werden  
die Augen verbunden, er nimmt es hin.  
Wie ein Blinder, der das erste Mal sieht, bewegt er sich durch unsere Reihe.  
Er liefert den Zuschauern Material. Küsst die eine heftiger, die andere  
weniger heftig. Woher er die Kontrolle nimmt? Ich rätsle über einen  
Sachverhalt, über den ich bisher lediglich Krumen in Erfahrung bringen  
konnte.  
Mir drückt Lad einen Kuss auf die Wange. Beinahe als wüsste er, wie  
unangenehm mir alles weitere wäre.  
Neun andere Männer betrachten mich, als würden sie mir selbst dann die  
Zunge in den Mund stecken, wenn ich sie auf Knien anflehte, es nicht zu tun.  
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Verscherbelte Seelen (Ladislav)  
Die sollen endlich aufhören, gegen die Tür zu donnern!  
„Verpisst euch!“ Der Geruch meiner eigenen Kotze steigt mir in die Nase. Ich  
kneife die Augen zusammen und versuche mich auf irgendwas zu fokussieren,  
das angenehmer als das alles hier ist. Auf den dunklen Boden oder dieses  
helle Licht.  
Kichern und betrunkene Rufe. Sollen sie sich doch besaufen. Sollen sie sich  
doch abschießen! Nur nicht hier. Nicht hier, während ich mir die Seele aus  
dem Leib kotze, weil die Hälfte der billigen Huren von mir abgeknutscht  
werden wollte, als gäbe es kein Land mehr.  
„Ihr sollt verschwinden!“  
Mein Brustkorb zieht sich gewaltsam zusammen. Ich bekomme keinen  
verdammten Atemzug mehr zustande. Ich verrecke. Auf dem Klo. In einer  
billigen Show. Weil die billigen Schlampen sich mir an den Hals werfen  
mussten wie läufige Hündinnen.  
Ein dumpfer Aufprall ertönt am Türblatt. Würgend wische ich mir den Mund  
ab und setze mich aufrecht hin. „Du sollst abhauen!“  
„Atme tief durch.“  
Amelias gelassene Stimme treibt mich zur Weißglut, während das bloße  
Wissen um ihre verfluchte Gegenwart mich erdet. Wenn ich zwischen all den  
Frauen an diesem Ort wählen müsste, würde ich immer sie nehmen. Den  
Teufel in Person. Das Schicksal zerreißt jeden, wie er es verdient und ich? Ich  
hätte in diesem Drecksloch verrotten müssen, anstatt einem Traum  
nachzujagen, der nie für mich bestimmt war.  
„Hau ab!“  
„Das lindert die Übelkeit.“  
„Woher willst du wissen, dass ich kotzen muss?“, rufe ich quer durch den  
Raum. „Ich bin auf Klo.“  
„Die Wände sind dünn.“  
„Ehrlich? Warum standen die anderen dann an der Tür und wollten rein?“  
„Für die Quote“, sagt Amelia schlicht. Fluchend betätige ich die Spülung.  
Bevor ich da in diesem Zustand wieder rausgehe, reiße ich mir beide Beine  
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aus. Ungelenk setze ich mich, lehne den Rücken gegen das quietschende Holz  
und bilde mir ein, ihre Körperwärme durch diese Tür hindurchspüren zu  
können.  
„Interessiert mich nicht“, murmle ich. „Das kotzt mich hier alles an.“  
„Du hast die Challenge gut gemeistert.“  
„Gut?“ Ich schnaufe ungläubig. „Gut? Nur gut?“  
„Großartig.“ Schmunzelt sie?  
„Du bist eine beschissene Partnerin“, sage ich. „Wer auch immer dich mir  
zugeteilt hat, wollte, dass ich leide.“  
„Soweit keine Überraschung.“  
„Bin ich so ätzend?“  
„Herzlichkeit wird von anderen Menschen personifiziert.“  
„Ach, lass.“  
„Lad.“ Ich hasse alles daran, dass sie mich bei dem gleichen, dummen  
Vornamen nennt wie die anderen. Nur, weil ich nichts von ihr will, bedeutet  
das noch lange nicht, dass sie mich behandeln muss wie alle Frauen, die kein  
gerades Wort über die Lippen bringen.  
„Was Lad? Was soll der Schwachsinn?“  
„Du kannst nicht ewig da drin bleiben.“  
„Hast du eine Ahnung.“ Wenn ich mich in der Kloschüssel ertränke, müsste  
ich nie wieder raus.  
„Möchtest du, dass ich reinkomme?“  
Ungläubig drehe ich den Kopf in Richtung Tür. „Bist du bescheuert?“  
„Ich habe dir lediglich ein Angebot unterbreitet.“  
„Nur, weil ich mit dir reden muss, heißt das nicht, dass ich mit dir reden will.“  
„Deine Abscheu mir gegenüber wirkt unbegründet.“  
„Du bist die Schlampe, die Mörder freispricht und Unschuldige in den Knast  
bringt, oder? Soweit bin ich schon richtig informiert?“  
„Ich glaube an das Beste im Menschen.“  
„Klar.“ Ich rolle die Augen. „Die Kerle, die kleine Kinder missbrauchen, sind im  
Herzen toll. Liegt alles an der schweren Kindheit.“  
„Nicht jeder ist fähig, einen passenden Katalysator für seine Emotionen zu  
finden.“  
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„Also murksen sie Kinder ab?“  
„Nicht jeder Mörder tötet Kinder.“  
Ungläubig lache ich. „Ernsthaft?“, schnaufe ich. „Du verteidigst die? Echt?  
Verurteilte Mörder?“  
„Keiner meiner Mandanten wurde je zu Unrecht verurteilt.“  
„Die sind ja nicht einmal mit Recht in den Knast gewandert.“  
„Du verurteilst mich“, stellt Amelia nüchtern fest.  
„Natürlich verurteile ich dich!“, rufe ich aus. „Du hast eine pechschwarze  
Seele. Frauen wie du wurden früher als Hexe verbrannt und das war gut so.“  
„Über Dinge, die man nicht begreift, sollte niemand urteilen.“  
„Halt einfach die Fresse und verpiss dich.“  
Amelia ist endlich still. Ich warte darauf, das Rascheln ihrer Kleidung zu hören  
oder ihre sich entfernenden Schritte. Es bleibt tödlich ruhig.  
„Ich bin niemand, den du retten musst“, sage ich. „Also hau einfach ab.“  
„Selbst wenn ich wollte“, erwidert Amelia glatt, „wäre ich nicht dazu in der  
Lage, dich in eine andere Richtung zu dirigieren.“  
„Angst oder was?“  
„Ich bin Verteidigerin, keine Psychologin.“  
„Den Therapeuten fallen die Haare aus, wenn die mich nur ansehen.“  
„Hast du dich je in Behandlung begeben?“  
„Sehe ich aus, als hätte ich die Kohle?“  
Die Stille ist seltsam. Im Spiegel wirke ich noch blasser als eh schon.  
Schweißig nass und erbärmlich. Ich bin der Verlierertyp, den ich immer  
belächelt habe. Bei den Straßenprügeleien liege ich wieder im Graben und  
sehe genauso beschissen aus wie damals. Jeder normale Kerl hätte mich  
beneidet. Jeder hätte die Frauen abknutschen wollen. Jeder normale Kerl  
wäre glücklich gewesen. Ich wollte heulen und hing fast eine Stunde kotzend  
über der Kloschüssel. So tief bin ich schon gekommen. So verdammt tief bin  
ich gesunken. Ich sollte mich ertränken.  
„Komm wieder zu uns“, bittet Amelia mich schließlich leise. „Die Produktion  
wird ungeduldig und niemandem ist geholfen, wenn du dich im Badezimmer  
verbarrikadierst.“  
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Sie sitzt im Badezimmer. Ich habe mich neben dem Klo eingesperrt auf einem  
Quadratmeter. Toilette, Spiegel, sonst weiße Fliesen und eine Ahnung von  
frischer Luft.  
„Bist du neuerdings die Produktion oder was?“  
„Du wurdest vorhin in die Talkbox gebeten.“  
„Ich werde einen Scheiß tun.“ Harsch lache ich auf. „Was erwarten die? Dass  
ich heulend in mich zusammensinke und denen eine Szene mache?“  
„Schlussendlich ist diese gesamte Sendung ein Spiel, an dessen Regeln wir  
uns halten sollten.“  
„Ich weigere mich dann halt. Und? Ist nicht mein Problem.“  
„Lad.“  
„Nichts Lad. Lass mich in Ruhe mit deinem dämlichen Lad!“  
„Entschuldige bitte.“ Sie klingt distanziert. Verkrampft beiße ich die Zähne  
fest aufeinander. Das wird diese Schwerverbrecherin lassen. Sie wird es nicht  
wagen, mir ein schlechtes Gewissen einzureden, weil ich mich weigere, nach  
deren Pfeife zu tanzen. Die bezahlen mich eh nur, wenn ich einen Monat  
durchhalte. Nach jetzigem Stand bin ich verrückt geworden, noch ehe diese  
erste Woche endet.  
„Steck dir das sonstwo hin“, murmle ich und schließe die Augen. Wenn ich  
alles ausblende und tief durchatme, dann bekomme ich fast das Gefühl, nicht  
völlig erledigt zu sein. Dann kommt es mir beinahe vor, als wäre ich in  
Sicherheit, könnte normale Luft atmen und würde nicht jede Sekunde des  
Tages aufgezeichnet werden.  
„Man bittet dich in die Talkbox“, wiederholt Amelia.  
Augenrollend setze ich mich aufrechter hin. „Geh du doch. Wir sind Partner.  
Tu mal so, als würdest du Solidarität kennen, und geh dahin.“  
„Man möchte mit dir sprechen.“  
„Denk dir halt was aus!“  
„Lad, so funktioniert das nicht.“  
„Es funktioniert genau so, wie wir es wollen“, sage ich heftig. Meine Hände  
zittern unkontrolliert und ich glaube den bitterschmeckenden Speichel von  
jeder dieser Schlampen noch immer auf meiner Zunge zu spüren. Ich wusste,  
dass das kommt. Ich habe es schon irgendwie geahnt. Wenn man aber in  
einer Schockstarre so dasitzt und nicht mehr weiß, wo rechts ist und wo links,  
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dann wird es schräg. Dann kommt die Kotze und dann die Panik und dann  
geht alles krachen, was ich mir so in den Kopf gesetzt habe. „Mach doch nicht  
immer das, was dir die erbärmlichsten Schlucker sagen“, speie ich. „Wenn du  
ein bisschen mehr Rückgrat hättest, wärst du nicht völlig allein und nicht  
jeder würde dich hassen.“  
„Man hasst mich nicht.“  
„Du wirst verabscheut“, spucke ich. „Als wir da in diesem Warteraum saßen“,  
sage ich, „und du reinkamst, da hatte ich so eine Kleine neben mir, deren  
Vater du fast in den Knast gebracht hättest, obwohl er nichts getan hat.“  
„Niemand kann einen Unschuldigen verurteilen.“  
„Du hast wohl die Indizien gefälscht“, spotte ich. „Und das alles nur, um den  
großen, bösen Buben zu retten.“  
„Ich bin nicht dazu in der Lage, Indizien zu fälschen.“  
Keinen blassen Schimmer warum, aber den Schwachsinn glaube ich ihr sogar.  
„Dann hat das halt einer deiner Handlanger gemacht. Und? Juckt auch  
keinen.“  
„Ich fälsche keine Indizien und lasse keine Indizien fälschen“, erwidert Amelia  
erstaunlich heftig. „Meine Aufgabe ist es lediglich, das Material aufzutreiben,  
das die Gegenpartei krampfhaft verschwinden lassen wollte. Die Beweise  
sprechen für sich und wenn die Fremde behauptete, ich hätte Beweise  
gefälscht, ist sie die Lügnerin und nicht ich.“  
„Schön erbärmlich rausreden“, sage ich. „Das könnt ihr Reichen gut. Immer  
schön eine Ausrede finden und so tun, als würde euch irgendwas auf dieser  
Welt jucken.“  
„Ich kämpfe für Gerechtigkeit.“  
Ich schnaube. „Einen Scheiß tust du.“  
„Wer nie jemanden verteidigen musste, ist schnell in seinem Urteil.“  
„Halt einfach das Maul und verpiss dich.“ Mir kommt wieder alles hoch.  
Amelia ist genau die Sorte Mensch, die meine Erzeugerin schuldig sprechen  
würden. Für alles. Für jeden Scheiß. Die sagt, dass sie selbst daran Schuld  
war, dass sie da in der Gosse verrottet ist, und die sagt, dass ich das, was ich  
lebe, verdient habe. Dass ich genau da bin, wo ich hingehöre und mich doch  
vor allen Kameras bloßstellen lassen soll. Weil es ja richtig ist und so.  
„Man bittet dich in die Talkbox.“  
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„Bist du taub?“ Mein Körper zittert unkontrolliert. „Ich werde einen Scheiß  
tun.“  
„Das sind die Regeln.“  
„Ja, scheiß auf die Regeln.“  
„Man kann dich der Produktion verweisen, wenn du ihnen nicht folgst.“  
„Und?“  
„Vermutlich müsste ich mit dir gehen.“  
„Ist ja zum Heulen.“ Ich lache harsch auf. „Müsstest du wieder in deine  
schicke Villa und dir von deiner teuren Haushälterin den Bauch streicheln  
lassen, während dir die Kohle in den aufgerissenen Mund fällt. Wäre das dein  
furchtbares Schicksal?“  
„Wir alle haben unsere Gründe, hier zu sein.“  
„Du läufst weg“, sage ich eisig. „Darauf verwette ich meinen Hals. Du läufst  
einfach nur weg.“  
„Ich empfinde die Situation auf die Weise, dass du nicht einmal dazu in der  
Lage bist.“  
„Heul doch.“  
„Es ist nicht mein Schicksal, das missbestimmt wird.“  
„Stimmt“, sage ich. „Du hast genug Geld, so oder so. Ich werde einfach  
draufgehen.“  
„Bitte, besuch diese Talkbox. Es sind fünf Minuten.“  
„Einen Scheiß werde ich tun!“  
„Erfolg wird nicht auf Weigerungen gebaut.“  
Fleht sie mich an? Mit diesem Schwachsinn? Als würde mich irgendwas  
davon kümmern. Als wäre jemals irgendwas von dem, was sie sagt, relevant.  
„Wenn du das nächste Mal eine Panikattacke hast“, bringe ich zwischen  
zusammengebissenen Zähnen hervor, „lache ich dir ins Gesicht.“  
„Ich hatte nie eine Panikattacke“, streitet Amelia das Offensichtliche ab.  
Klar. Schließlich geht es ihr nur um die Wahrheit.  
„Du bist ein dreckiger, furchtbarer Mensch.“  
„Es fällt leicht über Personen zu urteilen, die man nicht kennt.“  
„Ich kenne dich“, schnaufe ich. „Ich habe dich angesehen und kannte dich  
von der ersten Sekunde an und versichere dir, du bist das abscheulichste  
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Wesen unter dem Himmel. Du bist die dreckigste Lügnerin von allen und  
suhlst dich in deinem selbstgerechten Tricksen.“  
„Man bittet dich in die Talkbox.“  
Fluchend komme ich auf die Beine. „Einen Dreck werde ich tun!“  
„Lad.“  
„Kein Lad. Ich bin nicht dein Lad, ich bin niemand für dich. Sprich mich nie  
wieder an.“  
„Ich habe dir nicht wehgetan.“  
„Du hast es zugelassen.“ Ich höre selbst, wie dumm ich klinge. Wie lächerlich  
verletzt. Ist nicht so, als würde sie irgendwas verantworten, was mit mir ist.  
Wir sind in einer Show Partner, können uns im Herzen nicht ab und sollten  
uns von dem anderen so fern halten wie irgend möglich.  
„Das tut mir leid“, sagt sie unvermittelt.  
Ungläubig lache ich auf. „Hörst du dir selbst noch zu, Sugar?“  
„Wir sind ein Team“, sagt sie fest. Die Wärme ihres Körpers scheint langsam  
durch die Tür zu sinken. „Wir sollten wie ein Team agieren und ich hätte  
einen Weg finden müssen, die Situation für dich erträglicher zu gestalten.“  
„Ja.“ Ich räuspere mich. „Hättest du.“ Hätte es einen gegeben, hätte ich es  
ihn gefunden. Mir ging so viel Schwachsinn durch den Kopf, es hat mich mehr  
gelähmt als die plötzliche Nähe der vielen, unnützen Frauen, die nichts lieber  
tun, als vor laufender Kamera rumzuhuren.  
„Ich werde dich in der Talkbox entschuldigen“, sagt sie.  
Mir zieht sich alles zusammen. Bevor ich mich von der entschuldigen lasse,  
verbrenne ich mir eigenhändig jeden Zentimeter meines Körpers.  
„Lass.“ Ungelenk komme ich auf die Beine, den Geschmack der Kotze immer  
noch im Mund. „Lass einfach.“  
Ich entriegle die Tür. Als ich sie öffne, sehe ich, wie Amelia sich hastig zur  
Seite schiebt und dann aufsteht. Das rote Haar fällt ihr wirr in das  
kreidebleiche, sommersprossige Gesicht. Die Augen wirken geschwollen, als  
müsste sie Tränen oder so zurückhalten, und ihre Hände zittern kaum  
merklich. Ich sehe mich um. Das Bad ist ein verfluchtes Chaos.  
„Dass die alle nichts ordentlich halten können“, murmle ich und biete ihr  
meine Hand an. Nicht, dass ich sie anfassen wollte oder erwartet hätte, dass  
sie einschlägt. Ihre Finger schließen sich um meine. Sie wirkt so zerbrechlich  
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und niedlich. Wie ein harmloses, nettes Mädchen. Schade, dass sie vom  
Teufel besessen ist und ihre Seele verkauft hat.  
„Sollten wir mal in dieser Scheißbox anprangern.“  
Amelia versteift sich neben mir. „Ich möchte nicht mitkommen.“  
„Du wirst mitkommen“, sage ich. „Wir sind ein Team, kapiert? Wir machen  
den ganzen Dreck gemeinsam und sobald wir in neue Teams gewählt werden,  
ist der Schwachsinn durch.“  
Sie räuspert sich. „Das klingt konsequent.“  
„Ist halt so.“ Ich rolle leicht den Kopf. „Und du so? Was machst du so, wenn  
du keinen Kerlen beim Kotzen zuhörst?“  
„Ich habe gekocht“, sagt Amelia unvermittelt.  
Ungläubig verziehe ich das Gesicht. „Als ob du das kannst.“  
„Ich kann kochen“, beharrt Amelia. „Ich habe vier kleine Geschwister.“  
„Und keiner will mehr mit dir reden?“ Augenrollend führe ich sie durch  
diesen Chaosberg. „Musst du ja eine beschissene Köchin sein.“  
Sie ringt sich ein gequältes Lachen ab. Vier Geschwister und niemand, mit  
dem sie ihre Sorgen teilen kann. Dafür muss sie mitten in der Nacht auf die  
Straße gehen und fremde Typen anquatschen. Schon bitter, was? So richtig  
bitter. Peinlich bitter. Da sollte man alle seine Lebensentscheidungen noch  
mal überdenken.  
„Die anderen mögen es.“  
„Sind ja auch Plastikpuppen. Denen kannst du Hundescheiße verfüttern und  
sie genießen es.“  
„Sprich nicht auf diese Weise über unsere Mitbewohner“, sagt Amelia  
erstaunlich heftig. Ich verziehe den Mund. Wieso? Angst, dass die Zuschauer  
die Sache falsch auffassen und mich bei der erstbesten Gelegenheit  
rauskeulen?  
„Heute sollen schon die ersten gehen“, erinnere ich Amelia. „Tu nicht so, als  
wäre es sich wichtig, die Namen zu merken.“  
Die Talkbox ist ein winziger Raum neben dem Schlafzimmer. Ich wette, sobald  
die sich die Bäuche vollgeschlagen haben, kriechen sie alle wieder hier hoch  
und pressen die Lauscheohren gegen die Wand.  
„Es ist wichtig“, beharrt Amelia, während ich ihr die quietschgrüne Tür  
aufhalte. „Das Merken von Namen zeugt von Achtung.“  
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„Ich habe keine vor ihnen.“  
„Bitte erwarte dir im Gegenzug keine eigene Achtung.“  
„Halt das Maul“, murmle ich. Der Raum ist winzig. Links steht eine weiße  
Vase mit Kunstrosen und das Sofa ist erschreckend neutral gehalten. Braune  
Wände. Fast schon kopfschmerzfrei. Schnaufend setze ich mich, die Arme vor  
der Brust verschränkt, Amelia gesellt sich zu mir, immer schön Platz zwischen  
uns lassend. Ich wette, die meiste Zeit über will sie mich genauso wenig  
berühren wie ich sie.  
„Bin da“, sage ich und warte darauf, dass irgendeine künstliche Stimme  
anfängt, mich vollzutexten. „Was wollt ihr hören? Dass mich eure Spiele  
wortwörtlich ankotzen?“  
Je länger es still bleibt, desto sicherer bin ich mir, dass diese ganze Situation  
auf Amelias Mist gewachsen ist. Ich habe nicht gehört, dass mich jemand hier  
haben wollte, und nun hocke ich hier in der Ecke und hoffe, dass irgendein  
Roboter mich zur Kenntnis nimmt.  
„Eure Spiele kotzen mich an“, sage ich mit direktem Blick in die Kamera. „Von  
eurem Setting bekomme ich Kopfschmerzen und die Luft hier drin ist  
beschissen. Ihr vergiftet uns, wenn ihr nicht bald mal durchlüftet.“  
Neben mir verlagert Amelia ihr Gewicht. Es ist ein Schlag ins Gesicht, dass ihr  
diese werbebedruckten Klamotten stehen. Richtig gut sogar. Sie ist einer  
dieser natürlich hübschen Menschen, die alles tragen können, und ich hasse  
sie genug, um ihr keinen Zentimeter von der Seite weichen zu wollen.  
„Dass du so empfindest, bedauern wir sehr.“ Ich zucke zusammen. Die  
seltsam mechanische Stimme des Spielleiters plärrt aus den Lautsprechern.  
Hier bekommt man das Gefühl, als wäre die Welt von Robotern übernommen  
worden, die uns alle umbringen wollen. „Was können wir tun, um die  
Situation zu deiner Zufriedenheit zu ändern?“  
Die ganze Sache abblasen. „Lüftet durch“, sage ich. „Das Chemiezeug macht  
uns noch krank.“  
„Möchtest du deinen Partner tauschen?“  
„Ich will, dass gelüftet wird.“  
„Wenn du mit deinem Partner unzufrieden bist, können wir dir einen neuen  
zuweisen und Amelia aus der Produktion verweisen.“  
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Hat der Tomaten auf den Ohren? „Ich will keinen neuen Partner“, bringe ich  
zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Fast jede der anderen hat  
mich direkt auf den Mund geküsst und eine hat mir kichernd das Ohr  
abgeleckt. Keine von denen brauche ich. Eine ist furchtbarer als die nächste.  
Amelia ist schon das geringste Übel.  
Neben mir zieht sie ein Bein an die Brust.  
„Ich will frische Luft!“  
„Möchtest du Amelia als deine Partnerin behalten?“  
„Ja.“ Ich rolle die Augen. „Sag ich doch seit Ewigkeiten.“  
„In diesem Fall muss die Produktion darauf bestehen, dass ihr euch  
regelkonform verhaltet.“  
„Machen wir.“ Steif lege ich einen Arm um ihre Schultern. „Guck? Sitzen hier,  
haben uns voll gern, bestreiten die Spiele gemeinsam, werden heute Nacht in  
einem Bett pennen. Wir können gar nicht ohne einander.“ Die Typen sind  
doch alle krank.  
„Du wirkst sehr unzufrieden, Lad, und uns liegt viel daran, diesen Umstand zu  
ändern.“  
„Luft“, wiederhole ich eisig. „Ich brauche frische Luft. Kurbeln Sie Ihre  
Belüftungssysteme an oder was auch immer. Ich brauche Luft!“  
„Soll das darauf hinweisen, dass du die Partnerin tauschen möchtest?“  
Ich spreche mit einer Wand. „Nein“, sage ich heftig. „Ich bin total vernarrt in  
meine Partnerin.“ Krampfhaft umklammere ich Amelias Schultern. Sie  
verspannt sich merklich. Ich hasse sie, ich verabscheue sie, aber Amelia ist die  
einzige, die nach Mensch riecht und nicht nach menschlichem Abfall. Sie ist  
die einzige, die mich ein bisschen bei Verstand halten kann und die auch nur  
einen Hauch von Vernunft in ihrem Hirn zu haben scheint. Ohne sie fliege ich  
binnen der nächsten zwei Tage. Sie mag eine skrupellose Verteidigerin sein,  
aber ich bin ein perspektivloser Penner, der seine drogenabhängige Mutter  
im Stich gelassen hat, um aus diesem Loch rauszukommen. Vom Regen in die  
Traufe. Soll halt passieren, was passiert.  
„Amelia“, sagt die mechanische Stimme, „möchtest du einen neuen Partner  
beantragen?“  
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Sie wirft mir einen flüchtigen Blick zu und ich verspanne mich. Das hier ist nur  
eine Show. Wenn sie nur für die Show mal so tut, als wäre ich gut genug,  
dann wird sie das schon nicht umbringen.  
„Nein“, sagt sie mit fester Stimme. „Ich bin sehr zufrieden mit meiner  
aktuellen Wahl.“  
„In diesem Fall möchten wir euch darum bitten, euch angemessen zu  
verhalten.“  
Meine Brauen schießen in die Höhe. „Angemessen?“, spotte ich. „Was für ein  
Scheiß ist für euch angemessen?“  
„Ihr seid ein Paar.“  
Ich habe höllische Probleme damit, mich von irgendwem antatschen zu  
lassen. Ihre Hand zu nehmen, ist das Höchste der Gefühle. Die Vorstellung,  
mit ihr in einem Bett pennen zu müssen, raubt mir den Schlaf.  
„Und?“ Ich zucke die Achseln. „Wir kommen super klar. Wir lieben uns sehr  
und so.“  
Als wollte Amelia diesen Schwachsinn unterstreichen, lehnt sie sich eng an  
mich. Ich will sie von mir stoßen und reiße mich für diesen Schwachsinn hier  
zusammen.  
„Der Zuschauer erwartet entsprechende Interaktionen.“  
Die Galle steigt mir in den Mund. Ich starre in die Kamera. „Also? Was ist  
entsprechend?“  
Dafür, dass Amelia jeden Penner hier verteidigt, ist sie erstaunlich still.  
Die seltsame Stimme gibt keine Antwort. Ich will alles hier zertrümmern und  
diesen dreckigen Raum verlassen. „Was wollt ihr von uns, damit ihr die  
Belüftung verbessert?“, frage ich. „Sollen wir rumknutschen?“  
„Zärtlichkeiten werden von den Zuschauern gern gesehen.“  
Amelias Blick huscht und sie sinkt in sich zusammen. Mir gefällt der  
Schwachsinn hier auch nicht.  
„Wir sollen also rumknutschen, um drinnen zu bleiben?“, vergewissere ich  
mich. „Weil die anderen das gestern besoffen schon gemacht haben oder  
wie?“  
Keine Antwort.  
Ich presse die Lippen fest aufeinander. Ich verkaufe hier nicht nur meine  
Seele, ich setze meinen gesamten Körper dafür, dass ich hoffentlich ein paar  
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Münzen bekomme, um nicht zurück in diesen verrotteten Keller ziehen zu  
müssen.  
Amelia steht auf, bevor ich einen meiner widerlichen Gedanken in die Tat  
umsetzen muss. Die Arme vor der Brust verschränkt, betrachtet sie mich, ein  
winziges Lächeln auf den Lippen.  
Ich bleibe an Ort und Stelle. „Deswegen wolltet ihr mit mir reden?“, platzt es  
aus mir raus. „Weil ihr wolltet, dass ich nach weniger als vierundzwanzig  
Stunden die Entscheidung der Zuschauer rückgängig mache?“  
„Für unsere Teilnehmer wünschen wir uns nur das Beste.“  
„Oder braucht ihr einfach klebriges Material für die sensationsgeilen Pisser  
vor den Geräten?“  
Keine Antwort. Stocksteif stehe ich auf und greife nach Amelias Arm. Sie wirft  
mir einen warnenden Blick zu. Was? Denkt sie, dass ich sie küsse? Nur über  
meine Leiche. Ich schmecke meine eigene Kotze noch, da brauche ich keinen  
Anlass, neue zu produzieren.  
„Wirken die Paare nicht kompatibel oder glücklich, wird die Redaktion neue  
Partner zuweisen.“  
So ein Schwachsinn. So ein gequirlter Schwachsinn wird da von sich gegeben  
und mir läuft es kalt den Rücken runter. Die Vorstellung, Amelia gegen eine  
tauschen zu müssen, die nach dem billigen Parfum stinkt, macht mir mehr  
Angst als die schlechte Luft hier.  
„Wir sind kompatibel“, sage ich steif. „Wir mögen uns beide sehr gern.“  
„Es ist noch immer kein Kuss gefallen.“  
„Wir kennen uns seit weniger als zwei Tagen!“, rufe ich aus. „Wer nimmt  
euch die billige Lovestory ab, wenn wir jetzt schon loslegen?“  
Amelias Finger streicheln über meinen Unterarm. Jede Berührung ist zu viel.  
Diese Berührung ist gerade gut genug. Ich hasse sie. Ich verabscheue sie, weil  
ich sie hassen sollte und es mir nie ganz gelingt. Einen Teufel werde ich tun,  
sie gehen zu lassen.  
„Ihr alle seid auf der Suche nach der großen Liebe“, beharrt die mechanische  
Stimme. Irgendwas sagt mir, dass alles, was in der Talkbox vor sich geht, nur  
gut zusammengeschnitten an die Öffentlichkeit dringt. Ich frage mich, ob  
Amelia zu dem gleichen Schluss gekommen ist, als sie sich an mich schmiegt  
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und mir einen weichen Blick zuwirft, der so gar nicht zu ihr passt. „Liebe auf  
den ersten Blick entflammt schnell.“  
Wahrscheinlich schneiden die sich hier irgendeinen Kauderwelsch zurecht.  
Entweder sie kicken uns mit diesen Aufnahmen noch heute Nacht raus oder  
wir retten es selbst. Mir ist übel. Ich will Amelia vor die Füße kotzen.  
Irgendwann kommt man genau dort an, von wo man abgehauen ist.  
Irgendwann kniet man wieder ganz, ganz unten und nimmt den Schwachsinn  
hin. Ich bin genauso erbärmlich wie die Frau, die mich aufgezogen hat. Für  
ein bisschen Geld verkauft man doch noch den letzten Zentimeter Haut. Ich  
bin kein Model. Ich bin eine männliche Hure und lasse mich vor der ganzen  
Nation vorführen und wenn ich nicht zurück in das Loch will, aus dem ich  
gekrochen bin, muss ich mitspielen.  
Als Amelia sich auf die Zehenspitzen stellt, küsse ich sie. Kurz nur, aber so,  
dass sie den Schwachsinn auf Kamera haben. Ihre Lippen sind eiskalt. Sie hält  
die Luft an. Wahrscheinlich wirken wir sogar halbwegs verliebt, aber unter  
meinen Händen ist sie stocksteif.  
Schneidet euch halt den Dreck zurecht.  
Sie lässt sich zurück auf die Fußsohlen sinken und ich kämpfe gegen jede  
Scheißpanik an, die in mir aufsteigt. Wir reißen das hier schon. Wir  
bekommen das hin. Kein Grund zur Verzweiflung. Ich werde mit einem  
Haufen Geld aus der Produktion rausgehen und nicht da ansetzen müssen,  
wo ich angefangen habe.  
Ich stürze aus der Talkbox, bevor die mehr als das von uns verlangen können.  
Oder noch mehr davon. Mir ist scheißkalt. Ich will einfach nur weg hier.  
Überall Kameras. Amelia hält meine Hand und lächelt noch immer so  
irritierend zu mir auf. Ich versuche nicht einmal, mir ein Grinsen abzuringen.  
Würde psychotisch wirken. Ich bin eh schon der Freak in der Produktion.  
„Wovor hast du Angst?“, fragt sie mich, als ich mich mitten im Tumult der  
anderen auf das Sofa plumpsen lasse. Immer noch beschissen gefedert und  
die Farbe brennt mir immer noch die Augen aus.  
„Davor, einfach zu verrotten“, erwidere ich schlicht.  
Amelia schenkt mir ein schmallippiges Lächeln. „Da wären wir zwei.“  
Schnaufend lege ich den Kopf in den Nacken und starre an die Decke, sie wie  
eine zwanghafte Klette an meiner Seite. Ihre Situation ist ganz anders als  
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meine. Sie kehrt zurück in ein großes Haus mit goldenen Wasserhähnen und  
fünfzig Schlafzimmern. Ich penne auf einer durchgelegenen, fleckigen  
Matratze, höre das röhrende Fernsehgerät und hoffe, dass die Crackoma  
keinen Besuch bekommt, während ich meinen letzten Pfennig in diese  
Wohnung investiere. Sie ist ganz oben, ich ganz unten. Sie ist eine dieser  
glänzenden Königinnen der Gesellschaft, ich bin einfach nur Schmutz am  
Straßenrand.  
Ihr kleiner Finger streift meinen. In dem Moment will ich nicht einmal mehr  
zurückzucken. „Ist eine ziemlich beschissene Situation“, sage ich.  
Sie lächelt mich schief an. „Danke“, sagt sie dann.  
Ich hebe eine Braue. „Wofür jetzt?“  
„Dafür, dass du mich nicht der Show verwiesen hast.“  
Ich schnaufe. „Pest oder Cholera“, sage ich mit Blick auf die kichernden und  
trinkenden Mädchen. Es ist noch lange nicht Abend. Sie wackeln mit ihren  
Ärschen, als gäbe es darauf eine gesonderte Prämie. „Wenn ich da das Fieber  
wählen kann, wäre ich dumm, es nicht zu nehmen.“  
Amelia lacht auf. Kurz nur. Dieses Geräusch wirkt natürlicher als alles, was ich  
seit achtundvierzig Stunden gesehen habe.  
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Alles für die Show (Kyra)  
„Wir haben einige der Paare vor die Wahl gestellt“, sagt die Moderatorin  
breit lächelnd. „Möchten sie weiterhin zusammen bleiben oder sich neuen  
Alternativen zuwenden?“  
Mir steckt die trashige Kusschallenge noch in den Knochen. Ich hasse Lad, ich  
hasse Amelia. Wir sie die Nummer gerüttelt haben, hat mir schon ein  
winziges Bisschen widerwilligen Respekt abgerungen. Ich greife in die  
Chipsschale und stopfe mir eine Handvoll in den Mund.  
„Wenn sich auch alle getrennt haben“, murmelt Lyra, „ich garantiere dir, dass  
Lad und Amelia noch zusammen sind.“  
Ich mir auch. Die Folge läuft seit einer Stunde und in keiner Frequenz wirkten  
die beiden so, als wollten sie sich zerfleischen. Auch nicht, als fänden sie  
einander besonders toll, aber sie bleiben erstaunlich harmonisch. „Das ist  
doch bescheuert“, sage ich und setze mich aufrecht hin. „Da will man der  
einmal was reinwürgen und plötzlich ist sie mit der einzigen Person  
zusammen, die sie auf Dauer wahrscheinlich richtig gut findet.“  
Lyra wirft mir einen schiefen Blick zu und legt das Buch zur Seite. „Auf  
Dauer?“  
„Ja, auf Dauer.“ Ich nicke in Richtung des Bildschirms. Der blonde Sunnyboy,  
Benni, reißt entsetzt die Augen auf, als man ihn fragt, ob er eine neue Frau an  
seiner Seite will. „Noch wirken die beiden ein wenig wie die neueste Eiszeit,  
aber sie bekommen sich kaum in die Haare! Die beiden sind so verschieden,  
sie hätten längst mit Küchenmessern aufeinander losgehen müssen.“  
„Sie darf ihn berühren, ohne dass er zusammenfährt.“  
Stirnrunzelnd sehe ich Lyra an. „Was zur Hölle? Während der Challenge  
wurde er abgeknutscht und das war okay für ihn.“  
„Die Situation mit Isobel“, sagt Lyra, „hast du die mitbekommen?“  
„Ja.“ Ich nicke vehement. „Sobald das nächste Mal die Möglichkeit besteht,  
werde ich so oft abstimmen, bis die beiden zusammen sein müssen.“  
„Er hat sie angesehen, als wäre sie sein persönlicher Albtraum.“  
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„Deswegen ja“, sage ich achselzuckend. „Amelia hasse ich. Ihn mag ich nicht,  
weil er ein Arsch ist und mit Amelia warm zu werden scheint. Isobel wirkt wie  
das beste Salz für die Wunde.“  
„Mit Amelia verbringt er viel Zeit“, gibt Lyra zu bedenken. „Sie hat ihn sogar  
aus dem Bad rausbekommen.“  
„Wurde ihm wahrscheinlich zu eng“, sage ich achselzuckend.  
„Er hatte eine ausgewachsene Panikattacke“, sagt Lyra.  
Ich werfe ihr einen skeptischen Blick zu. „Du wirst Ärztin. Keine Psychologin.“  
„Er hatte eine Panikattacke“, wiederholt Lyra vehement. „Er hat sich nicht  
übergeben, weil er etwas Schlechtes gegessen hat. Sie hat ihn runtergeholt.“  
„Sie ist einfach nicht weggegangen“, konkretisiere ich, während das nächste  
Paar vor die Kamera gezogen wird. Melly strahlt mit roten Wangen. Ich mag  
sie. Ich mag sie sogar richtig gern. Und wünsche ihr nichts mehr, als dass sie  
sich von Amelia fernhält. Die schafft es auch der glücklichsten Seele die  
Lebensfreude auszusaugen.  
Als sie gefragt wird, ob sie sich einen neuen Partner wünscht, schlägt sie sich  
beide Hände vor den Mund. „Was?“, ruft sie und fächelt sich Luft zu. „Nein!  
Ich liebe ihn.“  
„Wow“, sagt Lyra ausdruckslos. „Das ging schnell.“ Ohne Umschweife greift  
sie erneut zu ihrem Buch. Ich sollte das Gleiche tun. Ich sollte forschen, ich  
sollte Informationen zusammentragen, ich sollte ein liebe, brave Studentin  
sein und all das tun, was Studenten so machen.  
„Niemals“, beteuert Melly. „Ich würde mich niemals von ihm trennen. Nur  
wenn die Zuschauer das wirklich, wirklich wollen.“  
Stöhnend lehnt Lyra sich über das Sofa und greift in meine Chipsschale.  
„Vorsichtig“, sage ich trocken. „Die habe ich alle schon angesabbert.“  
Im nächsten Schnitt betritt Lad die Talkbox, Amelia direkt an seiner Seite.  
Natürlich kletten die zusammen. Wenn man sie sich so ansieht, sind es beides  
einfach üble Gesellen. Was habe ich schon erwartet? Natürlich passen die  
zusammen wie Pech und Schwefel. Schnaufend knabbere ich an dem  
nächsten Chip.  
Die Stimme fragt ihn, ob er seine Partnerin behalten möchte. Ja“, sagt Lad  
vehement. Er wirkt ziemlich entnervt dafür, dass man ihm nur diese eine,  
einfache Frage gestellt hat. „Ich bin total vernarrt in meine Partnerin.“  
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Lyra hebt eine Hand. „Sage ich doch.“  
„Er wirkt aber eher so, als wollte er sie am liebsten erschlagen“, sage ich  
trocken. „So richtig nach Liebe sieht das zwischen den beiden nicht aus.“  
„Amelia“, sagt die Stimme in der Box, „möchtest du einen neuen Partner  
beantragen?“  
Schnaufend stelle ich die Schüssel neben mich. „Warum werden bei denen  
beide gefragt und bei den anderen nicht? Das ist richtig schräg. Das ist richtig  
unfair!“  
Amelia wirft Lad einen flüchtigen Blick zu. „Nein“, sagt sie mit fester Stimme.  
„Ich bin sehr zufrieden mit meiner aktuellen Wahl.“  
Ich schlage die Hände vor dem Gesicht zusammen. Das kann doch nicht wahr  
sein. Ein Mal, ein einziges Mal möchte ich meine dunkle, boshafte Seele  
ausleben und ihnen alle zeigen, dass sie mich mal kreuzweise können. Ein  
einziges Mal.  
Cut.  
Mir klappt die Kinnlade runter. „Die küssen sich“, entfährt es mir.  
Lyra sieht auf und pfeift anerkennend durch die Zähne. „Das dürfte der erste  
Kuss der Staffel sein, oder?“  
Ja. So betrunken die anderen auch waren, so engumschlungen sie getanzt  
haben und so viel Party sie gemacht haben, keiner von denen kam auf die  
Idee, sich zu küssen.  
Ein kleiner, eifersüchtiger Stich durchfährt mich. Die beiden sehen unendlich  
perfekt zusammen aus. Als hätte man Amelia nur für Lad geschaffen. Der  
Kuss scheint ewig zu dauern. Ich presse die Lippen fest aufeinander.  
„Die Kusschallenge“, sage ich schließlich.  
„Das war ja nicht freiwillig“, wirft Lyra ein.  
Ich greife nach meinem Handy. „Kann man schon neue Paare wählen?“  
Sie zuckt die Achseln. „Zuerst müssen doch einige rausgewählt werden,  
oder?“  
„Zwei.“ Zwei der vier, die bei der Challenge am schlechtesten waren. Bilder  
zuordnen? Können Lad und Amelia leider beide verdammt gut.  
„Dann wähl die beiden doch raus.“  
„Sie waren am besten“, murmle ich. Beide sechs von zehn Treffern. Da  
drüber kam keiner mehr. Das Schlimmste? Ich bin mir ziemlich sicher, dass  
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Amelia tiefgestapelt hat und Lad auch. Die standen einfach zu lange da und  
haben so getan, als würden sie sich über was den Kopf zerbrechen, was sie  
viel zu offensichtlich zusammengewürfelt haben.  
„Sie stehen nicht zur Wahl?“, rät Lyra.  
„Genau“, murmle ich. „Ausgerechnet diese beiden sind kein Freiwild.“  
Sie hebt die Schultern. „Dann freu dich für die beiden. Spätestens in der  
realen Welt trennen sie sich.“  
„Freuen?“, frage ich spitz und sehe Lyra ungläubig an. „Wie um alles in der  
Welt soll ich mich über das Glück von Amelia Nahn freuen?“  
„Richtig glücklich wirkt sie nicht.“  
„Das kommt noch!“, rufe ich aus. „Die Frau, die schon so viele Leben zerstört  
hat, die wird dort angenommen, die geht dort rein, die bekommt  
ausgerechnet den einzigen Typen, mit dem sie was ernsthaftes aufbauen  
könnte, die wird wahrscheinlich mit ihm gewinnen und ich soll mich für sie  
freuen?“  
„Du klingst eifersüchtig“, murmelt Lyra.  
„Ich werde von Neid zerfressen“, murre ich und starre stoisch auf den  
Bildschirm. „Das war meine Show, nicht ihre. Ich wollte dahin, unbedingt.  
Wer sitzt auf dem Sofa und frisst sich fett?“  
„Du könntest Gurken essen.“  
„Ich könnte auch da drin sein, aber das bin ich nicht!“  
„Sei froh darüber“, sagt Lyra. „Hättest du wirklich Teil dieser Challenge sein  
wollen?“  
„Ich wäre höllisch gern an Amelias Stelle“, schimpfe ich. „Höllisch gern.“  
„Dieses Geschehen würde nicht zu dir passen.“  
„Passt es denn zu den beiden?“ Ich reiße die Hände in die Luft. „Nein. Aber  
sie werden wahrscheinlich trotzdem als glückliches Paar da rausgehen und  
ein perfektes Leben leben.“  
„Sie ist Amelia Nahn“, erinnert Lyra mich. „Sie vertritt ausreichend  
gefährliche Männer, damit man ihren Körper eines Tages aus einem  
Straßengraben ziehen wird.“  
„Dann leben sie halt bis dahin glücklich. Und? Mich nervt das alles. Alles! Es  
nervt mich richtig. Ich will ihnen allen den Kopf abreißen!“  
Seufzend wendet Lyra sich wieder ihrem bescheuerten Studium zu.  
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„Wie kann das sein, dass sie sich küssen?“  
„Vielleicht wollte es die Produktion.“  
„Aber warum küssen sie sich?“ Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wem mache  
ich hier was vor. Ich wäre liebend gern an Amelias Stelle, weil Lad mich  
beeindruckt hat. Von Sekunde eins an. Weil ich mir ausgemalt habe, wie er  
und ich zumindest mal ein gutes Gespräch führen, ihn dafür bestrafen wollte,  
dass er so ein Arsch war, und jetzt wird niemand von beiden bestraft. Nur ich.  
Weil ich so eine missgünstige, verbitterte Schlange bin.  
Chips sind gut. Die sind gut für meine strapazierten Nerven.  
„Du findest ihn gut“, stellt Lyra fest.  
„Er ist mit Abstand der interessanteste Typ, dem ich je begegnet bin“, räume  
ich ein.  
„Lass die Finger von ihm.“  
Ungläubig sehe ich Lyra an. „Natürlich lasse ich die Finger von ihm! Wie sollte  
ich mit ihm was anfangen? Er ist auf der einen Seite des Fernsehgeräts und  
ich auf der anderen!“  
„Er ist kein guter Mann.“  
„Natürlich nicht! Er findet Amelia toll.“ Dabei ist sie vielleicht hübsch und  
durchtrieben, die klassische Beschreibung eines Männertraums trifft sie  
trotzdem nicht.  
Die Sendung springt live. Ich presse die Lippen fest aufeinander und  
beobachte, wie die Kamera auf genau die beiden Gestalten zoomt, von denen  
ich nie wieder etwas sehen will. Amelia sitzt im Türrahmen zur Küche und  
lehnt mit dem Rücken an der Wand, während Lad kocht. Gut darin, Teil der  
Party zu sein, sind sie wohl beide nicht.  
„Warum sprichst du nicht mehr mit mir?“, höre ich Amelia sagen.  
„Warum sollte ich?“ Lads raue Stimme klingt abweisend. Ich mümmle Chips.  
Wenn ich in dem Tempo weitermache, bin ich fett, sobald die Show endet.  
„Wir sind ein Team.“  
„Und?“ Er hebt die Schultern. „Ich koche.“ Sein Oberkörper ist nackt. In dem  
grellen Licht kann ich die kreisförmigen Unebenheiten nicht übersehen. Sie  
sind überall. Als wäre er als Kind in ein Kaktusfeld gefallen und hätte sich jede  
Stelle ewig aufgekratzt.  
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„Wir sollten zu den anderen gehen.“  
„Mach halt. Ich bin beschäftigt.“  
„Lad.“ Wenn Amelia seinen Namen ausspricht, wirkt sie beinahe sanft und  
nahbar. Ich will mich übergeben. Keine Ahnung, was bei den beiden vor sich  
geht. Wahrscheinlich bieten sie nur die Show des Jahrtausends. Vielleicht ist  
es Liebe auf den ersten Blick und sie kommen nie wieder voneinander los. Ich  
hasse alles an ihnen.  
„Was Lad? Ich bin halt beschäftigt.“  
Schweigend steht sie auf. „Möchtest du mir sagen, was vorgefallen ist?“  
„Was juckt es dich? Du warst dabei.“  
„Genau dieser Umstand stürzt mich in Verwirrung.“  
„Ist dann halt so.“  
„Ärger im Paradies“, flötet Lyra.  
Ich rolle die Augen. Bestimmt nur ein bisschen Drama für die Quote.  
„Wenn es zu deinem Wohlbefinden beigetragen hätte, wäre es mir recht  
gewesen, wenn du dich von mir trennst.“  
„Lass den Scheiß doch nicht klingen, als wären wir zusammen!“  
„Es wäre nicht erforderlich gewesen, dass du mich küsst“, fährt Amelia fort.  
Lad gibt einen erstickten Laut von sich und lehnt sich mit dem unteren  
Rücken gegen die Arbeitsfläche. „Musst du nicht irgendwas putzen?“  
Mir klappt der Mund auf. Hat er nicht gesagt.  
Amelia spitzt kaum merklich die Lippen. „Nein.“  
„Vielleicht solltest du damit anfangen. Es ist echt peinlich, wie du mir an der  
Hacke hängst. Fast, als hättest du niemanden außer mir hier.“  
„Wir stehen füreinander ein.“  
„In welcher Welt?“ Krachend schließt er die grellorange Schublade.  
Lyra rümpft die Nase. „Entweder die beiden sind sehr gute Schauspieler oder  
der Schnitt ist irreführend.“  
In meinem Herzen hüpft ein kindisches Teufelchen auf und ab und freut sich  
diebisch über diese Auseinandersetzung. Diese beiden dürfen meinen Traum  
leben. Dann soll er für sie das Schlimmste bereithalten. Mein Blick verharrt  
auf Amelia. Für sie soll alles zur Hölle werden. Er soll sie fertigmachen. Ich will  
dabei zusehen, wie sie sich in diesen Eisklotz verliebt und er ihr das Herz aus  
der Brust reißt. Vielleicht handelt sie dann ein einziges Mal, wie es jemand in  
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ihrem Alter tun sollte, ist nicht abgeklärt, sondern heult sich die Seele aus  
dem Leib.  
„Das hier ist eine Show“, sagt Amelia ruhig.  
„Ich gebe ihnen eine Show!“, brüllt Lad. Sie weicht vor ihm zurück. Falls  
möglich, klappt mir der Mund noch weiter auf. Er fängt nicht vor laufender  
Kamera an, sie in Grund und Boden zu prügeln. Oder? Meine Finger kribbeln  
vor Aufregung. Oder doch?  
„Lass mich in Frieden und verpiss dich.“  
„Wir sollen raus gehen. Die Zeremonie beginnt bald.“  
„Ich stehe doch eh nicht zur Wahl. Was soll ich da?“  
„Ein Teil der Gruppe sein“, beschwört Amelia ihn. „Wir stehen zusammen  
und sind ein Bestandteil dieser Gruppe.“  
„Ich will ihre Namen nicht kennen und ich will sie nicht kennen. Die sind mir  
alle scheißegal. Mach du doch mit deinen Mädels, was du willst. Ich brauche  
die alle nicht.“  
„Komm zur Vernunft!“  
Ich hätte nie gedacht, dass ich Amelia einmal zustimmen würde. Klar, das ist  
Lad. Heiß und abweisend. Er ist wie ein Fegefeuer im tiefsten Ozean. Das hier  
ist heftiger als alles, was ich erwartet hätte.  
„Wenn die aufhören, sich einzudieseln, dann komme ich zur Vernunft“, sagt  
Lad heftig. „Hier stinkt es. Überall stinkt es!“  
„Wonach?“  
„Ist deine Nase auch schon erledigt?“ Seine Hände zittern kaum merklich.  
„Geh doch zu deinen Freunden, Sugar. Mach mit denen doch, was du willst.  
Du könntest mit denen rumknutschen und es würde dich immer noch jeder  
hassen. Kapier das endlich und hör auf mit diesem Mädchengetue. Du bist  
nicht unschuldig und ich bin nicht hier, um mir Freunde zu machen.“  
Ich fächle mir Luft zu, während Lyra den Ton lauter stellt.  
„Ist es verwerflich, das beste aus der Situation zu machen?“  
„Du bist eine Blenderin!“  
Eine zarte Falte gräbt sich in Amelias Stirn. „Womöglich solltest du die  
kommenden Minuten tatsächlich allein genießen.“  
„Sag ich doch! Hau einfach ab. Hau ein einziges Mal ab, wenn ich es dir sage.  
Ich habe keinen Bock, mit dir Schlange gesehen zu werden und ich finde es  
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ätzend, dich zu küssen.“  
„Niemand zwingt dich dazu.“  
„Du zwingst mich dazu.“  
Lyra und ich tauschen einen kurzen Blick. Die Nummer entwickelt sich gerade  
um einiges brisanter, als ich im ersten Moment erwartet hätte.  
„Was habe ich je getan, damit du mich küsst?“  
„Du warst da?“  
„Ich möchte an dieser Stelle zum Ausdruck bringen, dass es mir ähnlich  
widerstrebt wie dir, vor laufender Kamera zu küssen.“  
„So hat es sich aber nicht angefühlt.“  
„Das kann ich nur zurückgeben“, sagt sie eisig.  
„Du verhältst dich wie ein kleines Kind!“  
„Mit diesem Treiben habe nicht ich begonnen.“  
„Klar hast du das! Du hast mich aus dem Klo geholt und in diese Talkbox  
geschleift. Du wusstest genau, was mich da erwartet. Du bist eine  
berechnende Schlampe.“  
Ich warte auf ihre zweifelsohne feurige Antwort. Schweigend wendet Amelia  
ihm den Rücken zu und verlässt den Raum. Die Kameras folgen ihr. Ich greife  
nach einem Chip.  
„Das war heftig.“  
„Sie kommen nicht miteinander aus“, berichtigt Lyra sich. „Der Schnitt ist nur  
genial gemacht.“  
„Richtig genial“, pflichte ich ihr bei. Der Hass zwischen den beiden ist  
greifbar. Meine Beine kribbeln kaum merklich, während ich sie auf dem Sofa  
verknote und mich näher zum Bildschirm lehne. Ich beobachte Amelia dabei,  
wie sie mit gestrafften Schultern die Villa verlässt und geradewegs auf Melly  
zugeht.  
„Darlin!“, ruft Melly aus und fällt Amelia um den Hals. Die sollte wirklich  
aufpassen, wen sie in ihrer Liebenswürdigkeit ins Herz schließt. Amelia sollte  
niemals ihre erste Wahl sein. Lad hat sie durchschaut. Es ist nur eine Frage  
der Zeit, bis das auch bei Melly kommt. Mit etwas Glück ist es diese Show, die  
Amelia alles nimmt. Mit etwas Glück verlässt sie dieses Format und wird  
genug gehasst, damit die psychisch kranken Typen vor ihrer Wohnungstür  
lauern und sie abstechen wollen.  
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Normalerweise wünsche ich Menschen nicht den Tod. Amelia ist nicht exakt  
die Frau, die man problemlos in normale Kategorien stecken kann.  
Als Melly Amelia ein Glas reicht, nimmt sie es an und trinkt keinen Schluck.  
„Dass die so krampfhaft auf Alkohol verzichtet! Das ist total lächerlich.“  
Lyra gibt einen zustimmenden Laut von sich. Es ist lange her, dass sie nicht  
ihre volle Aufmerksamkeit ihren Büchern geschenkt hat. Das Kinn auf eine  
Hand gestützt, beobachtet sie Amelia.  
„Wirklich getroffen wirkt sie nicht“, merke ich an. „Ich schätze, deine Theorie  
ist einfach nur für den Müll.“  
Lyra wiegt leicht den Kopf.  
„Du musst das probieren.“ Melly greift nach einem weißen, tiefen Löffel, auf  
dem sich irgendeine undefinierbare Pampe befindet. Angewidert verziehe ich  
das Gesicht, während Amelia brav danach greift und isst.  
„Das schmeckt interessant.“  
„Kein Plan, was das ist.“ Melly kichert angetrunken und wirbelt einmal um die  
eigene Achse. Spielen die eine Melodie, die wir hier nicht hören können.  
„Aber es ist richtig genial.“  
„Es ist schmackhaft“, räumt Amelia ein und verschränkt die Arme vor der  
Brust. Unter ihren Ellbogen zappeln die langen Finger. „Womit vertreibt ihr  
euch die Zeit.“  
Melly reißt die geschminkten Augen auf und grinst breit. „Essen!“  
Verrückt, wie glockenhell Amelias Lachen klingen kann. Verrückt, wie absolut  
egal ihr der Streit mit Lad zu sein scheint. Wenn das so weitergeht, dann  
investiert der mehr Emotionen in sie als sie in ihn. Nicht, dass der ignorante  
Typ es nicht auch verdient hätte, das Herz gebrochen zu bekommen. Ich  
wette, hunderte Exfreundinnen sehen sich schniefend das Format an und  
trauern ihm hinterher. Jemand wie Lad bleibt nicht lange allein.  
„Das klingt gut.“  
„Du musst mehr nehmen als nur das!“, ruft Melly entsetzt aus, als Amelias  
Aufmerksamkeit zu einem anderen Punkt schweift. „Du bist doch eh schon so  
dünn. Du musst doch was essen.“  
Alle Frauen haben perfekte Figuren. Einige sind kurvig, alle durchtrainiert, alle  
könnte man auf den nächstbesten Laufsteg schicken. Unter ihnen, da hat  
Melly schon recht, ist Amelia am schmalsten. Ich bin mir nicht sicher, ob das  
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einfach ihrem Körperbau geschuldet ist oder der Tatsache, dass sie vor den  
Verhandlungen alles auskotzen muss. Weil sie sich so verdammt sehr vor sich  
selbst ekelt.  
Kichernd greift Amelia nach einer Cocktailtomate. „Du klingst wie meine  
Großmutter.“  
„Da musst du häufiger auf deine Großmutter hören.“ Glucksend windet sich  
Melly weiter zu einem Beat, den ich nicht hören kann. „Wo ist Lad?“  
„In der Küche.“  
„Wir haben gleich eine wichtige Entscheidung!“  
„Ich weiß.“ Amelia wirkt einsilbig.  
Melly seufzt abgrundschwer auf. Ich bilde mir ein, den Alkoholatem bis auf  
das Sofa riechen zu können und angle nach einem Chip. „Warum ist er dann  
nicht hier?“  
„Das wird er dir beantworten müssen.“  
„Du bist seine Partnerin!“  
„Im Rahmen der Show“, sagt Amelia knapp. „Ja.“  
Melly rollt die Augen. „Bei euch beiden kommt ja auch keiner mehr mit. Ich  
würde euch so gern zusammen sehen, aber ihr habt euch nur in den Haaren.  
Wollt ihr vielleicht tauschen?“  
Schwer seufzend schüttelt Amelia den Kopf. „Nicht zum aktuellen Zeitpunkt.  
Die Zuschauer sehen mehr als wir und werden zu unserem besten wählen.“  
Na, sicher doch. Ich greife nach meinem Handy und öffne die App der Show.  
Immer noch keine Möglichkeit, neue Paare zusammenzubringen. Selbst,  
wenn sie wieder aufblinkt, würde ich die beiden zusammenlassen, bis sie sich  
gegenseitig zermalmt haben.  
„Ich liebe Lad!“, ruft Isobel mit schwerer Zunge von der Seite rein. „Wenn du  
tauschen willst“, vage deutet sie auf den blonden Sunnyboy in ihrer Nähe,  
„können wir tauschen. Ich liebe ihn!“  
„Das überlasse ich Lad.“  
„Selbst ist die Frau.“ Hicksend hakt Isobel sich bei Amelia unter. Der  
Alkoholpegel da ist schon von einem anderen Stern. Die haben ja gar keine  
Zeit einen Kater zu bekommen! Das erste, was sie am Morgen zu sich  
nehmen, ist ein Schnaps. Selbst wenn die meisten von ihnen recht helle  
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waren, als sie reingekommen sind, wird sich das nach einigen Wochen  
erledigt haben.  
„Wenn er doof zu dir ist, dann lass ihn stehen!“ Isobel breitet kichernd die  
Arme aus. „Ich nehme ihn. Ich nehme ihn wahnsinnig gern! Ich will ihn  
küssen.“ Kichernd schlingt sie beide Arme um Amelia und bettet ihr Kinn auf  
Amelias Schulter. „Es war so schön, ihn zu küssen. Ich wusste sofort, dass er  
es ist.“  
„Hat sie ihn nicht irgendwie falsch zugeordnet?“, murmelt Lyra.  
Ich schnaufe. „Schau dir lieber an, wie sie die Nase rümpft“, sage ich. „Diese  
ganze Schüssel“, ich deute auf meine Chips, „verwette ich darauf, dass sie  
Amelia gleich vollkotzt.“  
Amelia räuspert sich und versucht vorsichtig, Isobels Arme von sich zu lösen.  
Isobels dunklen Haare betten sich in Amelias Ausschnitt. „Er ist so süß“,  
murmelt Isobel. „Ich will den. Ich will den!“  
„Davon bin ich überzeugt“, sagt Amelia. „Würdest du mich für einen Moment  
loslassen?“  
Mit verschwommenem Blick nickt Isobel und hält sich fester an Amelia fest.  
Würgt. Ich schlage die Hände vor dem Mund zusammen. „Gleich kotzt sie  
Amelia voll. Gleich kotzt sie sie voll!“  
„Nein.“ Lyra wirkt skeptisch. „Bestimmt nicht.“  
„Gleich!“  
Isobel erbricht sich über Amelias Schulter. Kreischend springe ich vom Sofa  
auf und klatsche in die Hände. Polternd geht die Chipsschale zu Boden. Ist mir  
so egal. Langsam weicht Amelia zurück, während Melly überdreht zu lachen  
beginnt und Isobel erschrocken rückwärts taumelt.  
„Oh Gott! Das wollte ich nicht!“  
„Das ist in Ordnung“, sagt Amelia. Das erste Mal hat sie ihr Gesicht nicht im  
Griff. Amelia hat die Lippen fest aufeinandergepresst. Ihre Nasenflügel  
beben.  
„Das wollte ich nicht.“ Wankend kommt Isobel auf die Beine und macht sich  
daran, mit bloßen Händen ihr Erbrochenes auf Amelias Körper zu  
verschmieren. „Das wollte ich nicht!“  
„Das glaube ich dir. Bitte lass“, Amelia würgt, „bitte lass mich das säubern.“  
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„Ich wollte das nicht!“  
„Das ist doch inszeniert“, keuche ich. Amelia wird immer blasser. Gleich  
übergibt sie sich auch noch. Gleich. Ganz gleich.  
Lyra betrachtet das Geschehen angewidert. „Dazu macht Alkohol euch,  
Kinder“, murmelt sie.  
„Zu Genies?“ Ich lache schallend auf, als Melly Amelia einen der leeren Löffel  
reicht.  
Amelia reißt sich von den beiden los. „Gebt mir einen Moment“, bittet sie.  
„Gebt mir nur einen Moment.“  
Die Kamera folgt ihr, während Amelia beinahe über ihre eigenen Füße fällt  
vor Eile. Ich komm nicht mehr klar. Der Bauch schmerzt mir vor Lachen,  
während ich mich auf meine Knie stütze und ungläubig das Geschehen  
beobachte. Isobel sitzt Rotz und Wasser heulend auf der Wiese und spachtelt  
mit dem Löffel ihr Erbrochenes von links nach rechts, Melly lacht sich schlapp  
und Amelia verschwindet so schnell unter der Dusche, wie sie kann.  
„Ist das eklig“, keuche ich.  
Lyra betrachtet mich mit zusammengezogenen Brauen. „Davon hättest du ein  
Teil sein wollen?“, fragt sie pikiert.  
Gott, ich ersticke hier gleich an meinem eigenen Lachen. „Das fragst du  
noch?“ Ich deute auf die anderen Kandidaten, die kichernd um die  
hinterbliebene Szene herumstehen. Auf die Aktion hätte ich mit jedem von  
ihnen angestoßen.  
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Zufluchtsort (Amelia)  
Das heiße Wasser prasselt auf den besudelten Stoff meiner Kleidung,  
während der Gestank sich langsam im Ausfluss zu verflüchtigen scheint.  
Kaum verdaute Bröckchen werden von meinem Shirt gespült und ich habe  
meine liebe Mühe damit, mich nicht meinerseits zu erbrechen.  
Verschwommen bilde ich mir ein, das Lachen der Umstehenden zu hören,  
während die Säure Löcher in meine Haut zu fressen scheint. Mir ist bewusst,  
dass das einer Unmöglichkeit gleichkommt. Ähnlich unmöglich sollte es sein,  
dass man seinen Mageninhalt über mir ausspeit.  
Woher die Tränen kommen, begreife ich nicht, während das Wasser sich an  
mein Kinn haftet und fröhlich baumelnd dort verharrt. Dieser Fauxpas hätte  
jedem unterlaufen können, mir selbst ebenfalls. Sinnlos darüber die Nerven  
zu verlieren. Ich möchte mich in den heißen Wasserstrom einwickeln und nie  
wieder daraus hervortreten. Die übrige Welt blende ich aus in dem Wissen,  
dass jede Kamera im Umkreis auf mich hält. Träge löst der Schmutz sich aus  
den Fasern und sobald ich mit dem Duschgel, stechend nach Erdbeeren  
riechend, darüber reibe, glaube ich, den Vorfall binnen von Moment  
vergessen zu können. Jedem hätte dieser Fauxpas unterlaufen können. Im  
Endeffekt wird er Isobel unangenehm sein wie mir selbst. Es ist nicht  
zielführend, auf einen Moment wie diesen zu pochen und ihn wiederholt in  
das Gedächtnis zu rufen, wenn alle Beteiligten das größte Interesse daran  
haben, ihn zu vergessen.  
Triefend löse ich mich aus der sicheren Umarmung des Wassers und husche  
zu meinem Schlafplatz. Am Fußende des Bettes befindet sich eine Truhe, in  
deren Inneren sich theoretisch alle Habseligkeiten der betreffenden Person  
befinden sollten. Halte ich mich an dieses Regularium, wird es von allen  
Übrigen ignoriert. Ich ringe mir Verständnis ab und versuche, das Chaos zu  
ignorieren, während frische Panik in mir aufsteigt. Chaos bedeutet  
entgleitende Kontrolle. Kontrollverlust könnte den raschen Sturz mit sich  
führen. Ich verschließe die Augen vor dieser Möglichkeit und ziehe mich in  
dem kleinen Toilettenraum um. Er stinkt stechend nach Urin. Ich spüle, ohne  
einen Blick hineinzuwerfen. Klebrig haftet der nasse Stoff an den weißen  
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Fliesen und rau greifen die Fasern der frischen Kleidung nach meiner Haut,  
um sich langsam dorthinein zu graben. Kribbelnd.  
Das Haar bändige ich zu einem einfachen Knoten, ehe ich nach der triefenden  
Kleidung greife, den Raum verlasse, sie über einem der Waschbecken  
auswringe und barfuß zu den Übrigen zurückkehre. Weder Ilona noch ein  
anderer Moderator hat sich zu uns gesellt. Der Geruch von Alkohol badet die  
Nacht und überdrehte Rufe hallen mir entgegen. Lad ist nirgends zu sehen.  
Als Isobel mich sieht, bricht sie in Tränen aus. „Das tut mir alles so leid!“, lallt  
sie.  
Neben ihr befindet sich noch immer ihr Erbrochenes und der Löffel, der  
ursprünglich das Buffet vervollständigte, liegt befleckt daneben. Eine  
widerwärtige Arbeit, der sich niemand hingeben sollte.  
„Das hätte jedem passieren können.“ Auf Isobels glitzerndem Kleid sind  
einige Spuren ihres eigenen Mageninhalts zurückgeblieben. Ich scheue die  
verkrusteten Hinterlassenschaften nicht und umarme sie. Der Geruch ihres  
süßlichen, stechenden Parfums weht mir in die Nase und ihre Arme krampfen  
sich um meinen Körper. Unwillkürlich versteife ich mich. Wie wahrscheinlich  
ist es, dass sie sich zweimal binnen von zehn Minuten erbrechen muss?  
Ich habe zu wenig Zeit mit frivolen Menschen verbracht, um diese Frage  
beantworten zu können.  
Bestimmt löse ich mich von ihr, noch immer lächelnd, und berühre sacht ihre  
Wange. „Wir sollten zu den Übrigen gehen“, sage ich.  
Kichernd zupft Melly an ihrer Unterlippe. „Die spielen Wahrheit oder Pflicht.  
Ohne Pflicht.“  
Mein Leben lang war es mir möglich, mich von Momenten dieser Form  
fernzuhalten, nun werden sie ein Teil meines Lebens, den ich nie bedurfte.  
Melly sieht sich um und verzieht das Gesicht. „Lad ist langweilig!“, krakelt sie.  
Ihr enganliegendes Oberteil mit dem tiefen Ausschnitt betont ihre  
vergrößerten Brüste, als sie sich nach vorn lehnt, als wollte sie, dass die  
Kameras einen Blick erhaschen auf die Mühen, die die Chirurgen an ihrem  
Körper auf sich genommen haben. „Hättest du ihn nicht mitbringen können?“  
Mein Blick schweift zu den anderen. Sie sitzen im Kreis, haben direkt auf dem  
künstlichen Rasen Platz genommen. Vor ihnen stehen die schimmernden  
162  
Gläser, zur Hälfte gefüllt. Leere Flaschen liegen um sie herum. Möge der Suff  
uns beherrschen.  
Benni reckt triumphierend eine Faust in die Höhe. Was er sagt, verstehe ich  
nicht, und geselle mich dennoch zu ihm, ohne Mellys Frage zu beantworten.  
Lad tut, was Lad für richtig erachtet. Wäre er mein Mandant, würde ich erst  
ein weiteres Wort mit ihm wechseln, wenn mir zugesichert wurde, dass er  
sich von nun an zielorientiert verhalten würde.  
Lachend setze ich mich neben Benni und hake mich bei ihm unter. Sein  
Lächeln ist anzüglich, der Alkohol scheint in jeder seiner Poren zu sitzen, als  
ich mich an ihn lehne und breit in die Runde grinse. „Was treibt ihr?“  
„Was wohl?“ Ich kenne den Namen des Mannes nicht, der sich zu mir beugt.  
„Wir schließen Wetten darauf ab, welche beiden heute fliegen.“ Leise  
glucksend lehnt er sich zurück. „Ich hätte auf dich und Lad getippt, aber ihr  
seid erstaunlich gut gewesen.“  
„Es war ein lustiges Spiel“, sage ich. Eine unterschwellige Abneigung schlägt  
mir entgegen, die ich nicht recht einzuordnen weiß. „Darf ich mitmachen?“  
„Mitmachen? Du?“, ruft er aus und reibt die Hände aneinander. „Wie  
kommt´s? Sind dir deine kotzenden Freundinnen zu langweilig geworden  
oder hat Lad dich abgeschossen?“  
„Ich möchte Zeit mit euch verbringen“, sage ich schlicht. „Ich möchte euch  
kennenlernen.“  
„Plötzlich?“  
„Wir befinden uns erst seit einem Tag hier“, erinnere ich ihn sanft. „Es würde  
mich freuen, wenn ich Teil eurer Runde sein dürfte.“  
„Das bist du doch längst.“ Gönnerhaft klopft Benni mir auf den Rücken. „Wer  
lügt, trinkt.“  
Überrascht hebe ich eine Braue. „Ihr entscheidet, ob ich gelogen habe?“  
„Nein“, sagt er gedehnt und rollt die Augen, als wäre ich schwer von Begriff,  
mich rückzuversichern. „Wenn du lügst, musst du trinken. Wir wissen doch  
nicht, ob du lügst.“  
Ein Spiel mit zahlreichen Lücken, das mit Sicherheit nur amüsant wird, sobald  
der Pegel passt.  
163  
Kichernd lege ich den Kopf auf Bennis Schulter ab und, in seiner Gewohnheit,  
schlingt er einen Arm um mich. „Sag was Wahres über dich“, sagt er. Das  
Kichern um mich herum ist beunruhigend.  
„Ich mag es, bei euch zu sein.“  
„Was Interessantes“, sagt der Mann mir gegenüber und sucht meinen Blick.  
Seine Augen wirken nicht verschleiert, nicht alkoholgetrübt, nicht müde. Er  
ist ebenso wach wie ich und was in ihm auch schwelt, es ist dicht genug,  
damit es mir einen Eisengurt um den Brustkorb schnallt.  
„Das ist die erste Show, an der ich teilnehme.“  
„Etwas Interessantes“, wiederholt er leise. Ich fühle mich in die Enge  
getrieben. Bennis Arm liegt fest um meine Hüfte und ich will mich von ihm  
losmachen.  
„Ich bin Strafverteidigerin.“  
„Ja, genau.“ Eine blonde, junge Frau lacht schallend auf und stürzt den Inhalt  
ihres Glases hinunter, als verdurstete sie andererseits. „Als wärst du durch  
das Studium gekommen.“  
„Das bin ich.“  
„Mit wie vielen Professoren musstest du dafür schlafen?“  
„Mit keinem.“ Ich bin perplex. „Hauptsächlich Professorinnen haben mich  
unterrichtet.“  
„Hast du die dann bestochen oder wie?“  
Ich verstehe nicht recht, worauf die Frau mir gegenüber hinaus will. Ähnlich  
wie ich trägt sie die uns gestellte Kleidung, ein Shirt, das mit den Logos der  
Sponsoren bedruckt ist und eine Hose, die grell strahlt wie jeder Gegenstand  
an diesem Set. Die braunen Haare hat sie sich zusammengesteckt und ihre  
Lippen wirken unangenehm geschwollen. Die langen, violetten Nägel klicken,  
als sie nach der nächsten Flasche greift und sie entkorkt. Der Alkohol fließt in  
Strömen und frisst alles, was von der Moral gelassen wurde.  
„Nein“, sage ich ratlos. „Ich besteche niemanden.“  
Kichernd deutet sie mit ihrem langen Nagel auf mich. „Da muss jemand  
trinken!“  
Grölen wird laut. Ich habe kein Glas hier. Selbst wenn es anders wäre, würde  
ich es nicht anrühren.  
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„Ich lüge nicht.“  
„Und noch einmal trinken!“  
Diese Situation sollte mich kaltlassen. Betrunkene junge Erwachsene leben  
ihre düstersten Seiten aus und treiben mich dabei unwissentlich in die  
Nische, aus der ich meinen Lebtag lang zu entfliehen versuchte. Sie wissen,  
nicht, was sie tun.  
Was doch? Was, wenn jeder dieser Momente wohlkalkuliert wurde?  
Der Alkohol fließt in Strömen. Dieser Augenblick wird nur dann  
verhängnisvoll, wenn ich es zulasse. Also falle ich in das Lachen ein und  
streife mit den Lippen Bennis Wange. Die düsteren Blicke des Mannes vor mir  
verfolgen mich. Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Mit hoher Sicherheit war er  
in keinem meiner Prozesse anwesend, hat nie gegen einen meiner  
Mandanten ausgesagt. Womöglich verfolgte er das Geschehen von  
anderswo?  
„Ich will, dass Amelia fliegt“, sagt der Mann leise und grinst breit in die  
Menge. Er trinkt nicht. Sie grölen mit ihm.  
„Ich will, dass Jacob fliegt!“, ruft Benni aus. Lachen und Benni wird  
zugestimmt. Die Augen des Mannes vor mir werden schmal. Jacob. Nie hatte  
ich mit einem zu tun. Er ähnelt keinem meiner Mandanten.  
Die schlanke Frau neben ihm bietet Jacob ein Glas an. Er nimmt es entgegen  
und trinkt, ohne den Blick von mir zu lösen. Er ist mir näher, als gut für uns  
beide ist. Den Abstand von vier Metern könnte mit zwei Sätzen überspringen.  
Mit diesem Mann schlafe ich in einem Saal.  
Eine Strähne löst sich aus dem Knoten und kitzelt mich im Nacken.  
„Ich habe zehntausend Dollar für meine Brüste ausgegeben“, kichert eine  
blonde Schönheit mit braunen Augen. Als sie trinkt, grölt die Menge.  
„Die sind nie echt“, ruft ein Mann, den ich nicht kenne.  
„Ich habe aber zwanzigtausend bezahlt!“  
Der falsche Himmel über uns lässt einen vollen Mond strahlen wie in der  
Nacht zuvor. Mir fällt das Atmen schwer, während ich mich enger an Benni  
schmiege und den Alkohol inhaliere, der in jeder seiner Poren sitzt. Seine  
Körperwärme spüre ich nicht, seine Nähe ist eine mich verhöhnende  
Chimäre. Wer davonläuft, wird eingeholt. Das Wild wird geschossen und der  
Jäger würde nicht fliehen.  
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Skrupel hat noch jeden Mann in die Knie gezwungen.  
Ich habe Skrupel gezeigt. Die Welt weiß es. Deswegen bin ich hier. Um mich  
herum wird gerufen und gelacht, getrunken und gehöhnt. Jedes Wort geht in  
einem schrillen Strudel an mir vorbei. Träge wirbelt mein Bewusstsein durch  
jede meiner Fasern und stürzt sich geifernd auf mich.  
Mir ist kalt. Ich fürchte mich. Mehr, als ich mich je zuvor gefürchtet habe.  
Jacob lässt mich nicht aus den Augen. Jedes Lachen gleicht einem  
Zähnefletschen. Angespannt warte ich darauf, dass Ilona oder der fremde  
Haar den Container betreten, um diese Situation aufzulösen. Prickelnd, wie  
sie mich verzehrt, wird sie live übertragen. Jacob lauert auf mich und ich habe  
ihm nichts entgegenzusetzen. Ich bin winzig, ich bin verloren, ich bin allein.  
Bennis Hand reibt über meinen bedeckten Oberschenkel und ich will sie  
fortschlagen. Der betäubende Geruch von Alkohol und billigem Parfum hüllt  
mich in eine stinkende Wolke. Als ich aufstehe, kann ich kaum aufrecht  
gehen. Der Lärmpegel verfolgt mich, der Gestank betäubt mich. Was Melly  
und Isobel rufen, verstehe ich nicht. Strauchelnd betrete ich die Villa,  
durchquere die chaotische Küche, in deren Inneren ich jeden Gegenstand  
nach Größe und Farbe, dann nach Anfangsbuchstaben und nach  
Herstellungsdatum sortieren möchte. Mir knickt das linke Bein leicht ein,  
während ich die Treppe hinaufhast und die Talkbox betrete. Die künstlichen  
Blumen stehen in den Vasen und die Farben sind gedeckter. Ich verschließe  
die Tür hinter mir und setze mich schwer atmend auf das Sofa. Es ist stiller  
hier, die Luft wirkt frischer und das Blinken der Kameras erinnert mich daran,  
dass man mich für keinen Atemzug aus den Augen lässt. Ein Bein ziehe ich  
mir an die Brust. Von dem künstlichen Rasen fühlen meine Fußsohlen sich  
wund an, während ich in die hellen Scheinwerfer blicke, die von links und  
rechts her leuchten. Meine Finger zucken unkontrolliert, also schenke ich  
ihnen Halt.  
Mir ist nicht ganz klar, worüber ich sprechen will. Also schweige ich. Hülle  
mich in Schweigen und akzeptiere, dass die blanke Überforderung mich  
überrollt. Meine Sinne sind zum Zerreißen gespannt. Die Farben zersprengen  
meine Wahrnehmung, die vielen, verschiedenen Menschen treiben mich an  
meine Grenzen und die Unordnung lässt mich zwanghaft und panisch fühlen.  
Ich vermisse mein eigenes Bett und die absolute Stille meines Hauses. Mir  
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fehlt die Herausforderung, während ich mich Momenten gegenübersehe,  
gegen die ich nicht ankomme.  
Heiß laufen die Tränen und ich sage kein Wort. Thematisiere nicht Lad, nicht  
das Chaos, nicht die grölenden, jungen Menschen dort draußen, zu denen ich  
nicht gehöre. Klein mache ich mich. Als wäre es auf diese Weise möglich,  
mich in mir selbst zu vergraben. Mir ist zu kalt und zu heiß zugleich. Meine  
Gedanken rasen und je schneller sie wirbeln, desto mehr wenden sich gegen  
mich. Marquoire braucht mich in meiner Kanzlei. Anstatt ihm eine  
angemessene Erklärung zu liefern, bin ich von der Bildfläche verschwunden,  
um an einem Ort wie diesem wieder aufzutauchen. Jacobs Blicke jagen mich.  
Die Intensität in ihnen. Der blanke Hass. So betrachtet mich niemand, dem  
ich nicht bereits die Hölle auf Erden bereitet habe. Je angestrengter ich  
versuche, mich an ihn zu erinnern, desto wirrer wirbeln meine Gedanken. Ich  
bin eine Raupe, die ihren Kokon verloren hat, ehe ihr Flügel gewachsen sind.  
Der gierigen Aufmerksamkeit der Kameras weiche ich so gut wie möglich aus.  
In der Ferne erklingt der helle Glockenton. Ich sollte ihm folgen, aus der  
Talkbox treten und mich dem geisterhaften Moderator stellen, in dessen  
Stimme weniger Emotion schwingt als in meiner, wenn ich die Lüge zur  
Wahrheit drehe und die Wahrheit zu Staub zerfallen lasse. Die Inhalte des  
Vertrags bereiteten mir keine Sorgen, weil ich die Menschen kenne, die fähig  
sind, mich aus einer Misere wie dieser zu klagen. Ich selbst könnte mich  
verteidigen! Die kurze Zeit, die man mich hier gefangen hält, hat mich  
nachhaltiger das Fürchten gelehrt als jeder Verbrecher, für den ich einstand.  
Ich bilde mir ein, dass ich die Stimme des fremden Herren höre, der sich uns  
nicht vorstellte. Schweigend sinke ich tiefer in mich zusammen und wische  
mir mit dem Handrücken über die Nase. Es ist viel. Alles zu viel.  
Keine mechanische Stimme fordert mich dazu auf, Stellung zu beziehen oder  
den Raum zu verlassen. Also tue ich nichts davon. Ich rolle mich auf dem Sofa  
zusammen und starre an die Wand. Die Strahler sind hell, der Bezug  
unangenehm klebrig und den chemischen Herstellungsgeruch verströmend.  
Zitternd und zuckend verharre ich an Ort und Stelle. Gut  
zusammengeschnitten, können sie eine Geschichte spinnen, die den Quoten  
imponiert. Mich kümmert nicht, zu wem ich gemacht werde. Der Hass in  
Jacobs Augen war aufrichtig und gefährlicher als jeder Trotz Lads.  
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Wenn man mal was braucht (Ladislav)  
Mit vor der Brust verschränkten Armen bleibe ich neben diesem hässlichen  
Pavillon stehen. Tränenreich werden zwei Gestalten verabschiedet, deren  
Namen ich nicht einmal kenne. Amelia ist weit und breit nicht zu sehen.  
Vielleicht hat man sie unauffällig rausgekickt, nachdem ich klargemacht habe,  
dass ich sie nicht will. Höchstens als Notlösung.  
Etwas weniger Stolz im Leib und ich hätte mich bei einer ihrer beiden Puppen  
nach ihr erkundigt. Die wird schon wieder auftauchen. Einen skeptischen  
Blick werfe ich in Richtung des Buffets. Nichts davon wirkt, als würde ich es  
kennen oder dringend essen wollen. Pürierte Fischpampe und anderes Zeug.  
Wenn ich mich nur von Tomaten ernähre, bin ich am Ende des Tages  
hungriger als vorher. Ich sollte mir noch ein paar Nudeln aufsetzen und die  
roh löffeln. Alles besser als der Schwachsinn.  
Die fremde Frau torkelt auf mich zu und schlingt ihre knochigen Arme um  
mich. Brünett, hübsch, austauschbar. „Ich hätte dich so gern noch besser  
kennengelernt“, jammert sie. Muss peinlich sein, in so eine Show zu gehen,  
sich bloßzustellen und keinen Cent dafür zu bekommen.  
„Klar“, sage ich. „Auch so. Ich hätte so gern noch mehr mit dir erlebt.“  
Während dieser beschissenen Challenge hat sie versucht, mir die Zunge in  
den Hals zu stecken. Macht mich schon glücklich, dass ich die morgen Früh  
nicht mehr sehen muss.  
„Wir sehen uns draußen wieder“, sagt sie entschieden und schnieft leise.  
„Wir sehen uns unbedingt draußen wieder.“  
„Bestimmt.“  
„Wir gehen einen Kaffee trinken“, sagt sie.  
Warum wollen die alle mit mir Kaffee trinken? Das Zeug ist heiß. Wenn man  
es verschüttet, verbrüht es die Haut. Nichts, was mich hammermäßig reizen  
würde.  
„Klar“, verspreche ich ihr. „Unbedingt. Würde mich freuen.“  
Schniefend nickt sie und schlingt ein weiteres Mal ihre Arme um meinen Hals,  
ehe sie verschwindet. Der fremde Kerl erlässt mir diesen Schwachsinn. Salopp  
hebt er eine Hand und ich erwidere die Geste emotionslos, ehe er und die  
Kleine entlassen werden. Um ein Haar wäre ich mitgegangen und hätte  
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vorher allen von denen noch einmal ins Gesicht gespuckt. Wenn ich jetzt  
gehe, gibt es keine Kohle. Ohne Kohle bleibe ich der gleiche, dreckige  
Versager, der ich vorher war. Also wird ausgebadet. Ich rolle die Schultern,  
ehe ich mich zu einem dunkelhaarigen Kerl geselle, den ich nicht kenne. Er  
säuft nicht. Macht ihn sympathischer als alle anderen. „Tränenreicher  
Abend“, versuche ich steif ein Gespräch zu beginnen. Desinteressiert dreht er  
sich zu mir um. „Lad, oder?“  
Ich zucke die Achseln. „Sorry, hab deinen Namen vergessen.“  
„Jacob.“  
„Cool. Guter Name.“  
„Danke.“  
„Klar doch.“ Ich sehe mich ratlos um und vergrabe die Hände in meinen  
Hosentaschen. „Ist ja auch so.“  
Feixend folgt er meinem Blick. „Suchst du wen?“  
„Nicht so, nein.“ Ich betrachte skeptisch die zahllosen Sektflaschen und suche  
nach Wasser. Wahrscheinlich wieder aus der Leitung. Das gechlorte Zeug  
vergiftet mich noch, bevor die Luft es schafft. „Hättest du gedacht, dass die  
gehen müssen?“, frage ich.  
Jacob greift nach einer Krabbe und schiebt sie sich in den Mund, ehe er  
antwortet. „Wir sind erst den zweiten Tag hier. Schwer das Publikum jetzt  
schon einzuschätzen.“  
„Deine Kleine ist noch da?“  
Jacob nickt auf eine kurvige, durchtrainierte Schönheit mit hellbraunen  
Haaren und übervollen Lippen.  
„Cool. Schon cool.“  
„Wusste nicht, dass du so gesprächig bist.“  
„Hab gerade nichts besseres zu tun“, antworte ich.  
Als er lacht, legt er den Kopf dabei in den Nacken. Schräger Typ. „Geht uns  
doch allen so. Ich vermisse mein Handy.“  
„Klar. Verstehe ich.“ Meines ist gerade gut genug, um eine Nachricht damit  
schreiben zu können. Schwer so einen Schrott zu vermissen.  
„Du bist doch mit der kleinen, rothaarigen Hexe zusammen, oder?“  
„Amelia?“  
„Genau, ja.“  
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„Scheint so.“  
„Nicht so glücklich mit der Wahl?“  
„Ist halt eine Frau.“  
Jacobs Grinsen wird breiter. „Stehst du auf Typen oder was?“  
„Was geht falsch bei dir?“ Ich rolle die Augen. „Nein. Typen sind nur  
entspannter als die ganzen kreischenden Frauen.“  
„Stimmt schon.“ Jacob schiebt sich die nächste Krabbe in den Mund und  
grinst breit. „Verrückt das alles, was?“  
„Was genau?“  
„Dass wir alle hier sind und so.“  
„Ja, schon. Ziemlich durchgeknallt. Große Show und so.“  
„Ja.“ Jacob nickt langsam. „Willst du was essen?“  
„Nicht so.“ Ich hebe die Schultern. „Koch mir nachher noch Nudeln und dann  
penne ich.“  
„Keine Angst, dass die rothaarige Hexe dich im Schlaf ersticht?“  
„Nicht wirklich.“ Freudlos lache ich auf. „Aber auch nur, weil sie bei dem  
Dreck, das mein Blut anrichten würde, eine Panikattacke oder so Scheiß  
bekommen würde.“  
„Panikattacke?“ Jacob lacht auf. „Die? Kann ich mir kaum vorstellen.“  
„Wir sind hier doch alle durchgeknallt.“ Die Abschiedstrauer ist schneller  
verflogen, als ich es mir erträumt habe. Zwei Mädels, deren Namen ich nicht  
kenne, tanzen enganeinandergeschmiegt, ihren Sekt im Glas. Das Zeug ist  
widerlich. Muss ätzend sein, sich die ganze Zeit damit zu zukippen.  
„Aber nicht alle so durchgeknallt wie sie.“ Sich räuspernd nimmt Jacob sich  
einen Löffel mit Fischpampe. „Du weißt schon, was man sich über deine  
kleine Hexe sagt?“  
„Kein Plan.“  
„Sie verteidigt die ganz üblen Jungs.“  
„Darüber haben wir mal gesprochen, ja.“  
„Keine Angst, dass sie dich irgendwann fertigmacht?“  
„Hier drin?“ Ich lache harsch auf. „Wohl kaum.“  
„Draußen.“ Jacob wirkt todernst.  
Ich schnalze mit der Zunge gegen den Gaumen. „Soll sie doch. Hab hier nichts  
zu verlieren.“  
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„Richtige Einstellung.“  
„Absolut.“ Ich fahre mir mit der Hand durch das Haar. „Nett, mal mit dir  
geredet zu haben.“  
„Klar.“ Stirnrunzelnd beobachtet Jacob die beiden Frauen, die sich im Takt  
der Musik aneinanderschmiegen. „Ist schon verdammt heiß, was?“  
„Was?“  
„Die beiden.“  
„Bestimmt.“ Ich betrachte sie desinteressiert. Solange die nicht auf die Idee  
kommen, mich anzufassen, sollen sie doch treiben, was sie wollen. Hier drin  
lebt alles von Huren und Freiern. Die finstersten Winkel der Welt wurden in  
grelle Pastellfarben getaucht und werden jetzt als beschissene, hippe Show  
verkauft.  
Schief grinsend betrachtet Jacob mich. „Stehst doch nicht so auf Frauen.“  
„Hab halt besseres zu tun.“  
Ein widerliches Lächeln auf den Lippen schlägt er mir auf den Rücken. „Kann  
dir niemand verübeln. Bist wohl am besten dran mit der kleinen Hexe.“  
„Bestimmt.“ Zu dem Schluss bin ich schon ein paar Stunden vorher  
gekommen. Jacob gesellt sich zu den zwei Frauen, die sich  
aneinanderschmiegen, als hinge ihr billiges Leben davon ab. Naserümpfend  
schiebe ich mich durch die feiernden Gespenster hindurch und stapfe zurück  
in die Villa. Ein beschissenes Plastikhaus mit der erbärmlichsten Einrichtung  
der Welt. Die Treppen knarzen, als wollten sie direkt wieder zerfallen. Die  
beiden, die hier raus sind, sollten die größte Party feiern. Mit einem blauen  
Auge sind die noch einmal davongekommen. Der Rest? Hockt halt immer  
noch hier und verrottet mit jedem Tag mehr.  
Amelia liegt nicht im Bett. Stirnrunzelnd klopfe ich an die Toilettentür. Keine  
Antwort. Nicht, dass man sie echt rausgekickt hat. Wäre ziemlich ärgerlich.  
Nicht, dass es mich kümmern würde. Wäre halt ärgerlich. Die, die frei  
geworden ist, ödet mich an, ohne dass ich je ein Wort mit ihr gewechselt  
habe. Lieber verbringe ich meine Zeit mit einem skrupellosen Miststück, als  
mich mit einem leeren Blatt Papier zufriedengeben zu müssen.  
Mit einem kurzen Blick aus dem Fenster vergewissere ich mich, dass die  
ganze, verkorkste Welt noch auf der Plastikwiese johlt, dann greife ich nach  
meinem Handtuch und verschwinde unter die Dusche. Es stinkt nach  
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chemischen Erdbeeren. Das Licht ist zu grell und die ganze Welt scheint in  
brennenden Farben zu ersticken. Mit geschlossenen Augen massiere ich mir  
den ätzenden Tag aus der Haut. Als ich zurückkehre, ist Amelia noch immer  
nicht aufgetaucht.  
„Habt ihr sie weggeschickt?“, frage ich niemand Bestimmten und sehe  
fragend von links nach rechts. Mehr Kameras, als ich zählen kann und  
niemand, der mir eine Antwort schuldet. Ächzend setze ich mich auf die  
seltsame Matratze. Sie ist zu hart und zu weich zugleich. Die Kissen fühlen  
sich an wie aus Stoff gesponnene Steine. Für einen fatalen Moment wünsche  
ich mich zurück in das versiffte Loch unter der Wohnung der Crackoma. Dort  
zu pennen, war die Pest. Hier zu atmen, ist schlimmer.  
Es ist nicht so, als würde es je wirklich ruhig werden, aber während die da  
draußen die Sau rauslassen, zieht in den weiten, grell erleuchteten Raum eine  
gewisse Stille ein. Die von einem gedämpften Wimmern unterbrochen wird,  
als versuchte man, das nächstbeste Tier ohne Betäubung zu häuten.  
Stöhnend wälze ich mich auf den Bauch und ziehe mir das Kissen über den  
Kopf. Ich habe nicht nachgezählt, aber da draußen sind ziemlich viele. Mir  
würde nur eine Person einfallen, die einen Grund hätte, sich die Augen  
auszuheulen. Mit ihr reden? Nicht heute, nicht morgen. Die bloße Vorstellung  
nervt mich bis ins Mark. Ich bekomme das Jammern nicht aus dem Kopf.  
Meine Muskulatur verkrampft sich. Gleich kommt der besoffene Typ um die  
Ecke und drischt auf mich ein.  
Schwachsinn. Hier stinkt es nicht nach Pisse, sondern nach billiger Chemie.  
Solange sie nicht zu flennen aufhört, bekomme ich kein Auge zu. Ich spiele  
mit dem Gedanken, zu Melly rauszugehen und sie in diese dämliche Talkbox  
zu schicken. Soll sie sich doch um die Dramaqueen kümmern. Juckt mich  
nicht, was mit ihr ist.  
Das Heulen hört nicht auf. Die Wände dicker zu machen, das wäre zu viel  
verlangt gewesen, was? Das wäre nicht möglich gewesen.  
Schnaufend wälze ich mich aus dem Bett, greife nach einer der Decken und  
überquere den schmalen Korridor. Als ich gegen die Tür zur Talkbox  
hämmere, bekomme ich keine Antwort. Natürlich nicht. Wäre ja auch zu  
einfach.  
173  
„Hör auf zu flennen und nimm dir die Decke“, sage ich. Es wird nicht ruhiger.  
„Ich sagte, du sollst aufhören, dich selbst zu bemitleiden und die Decke  
nehmen.“ Ich betätige die Klinke und nichts rührt sich. Fluchend mache ich  
einen Schritt zurück. „Hör auf rumzuheulen. Ich will pennen.“  
Ignoriert sie mich? „Sugar, mach schon auf. Ich habe hier eine Decke für dich,  
mit der kannst du es dir da bequem machen und musst bis morgen nicht  
mehr rauskommen.“ Als die Situation sich weiterhin nicht verändert, schlucke  
ich krampfhaft gegen den glühenden Zorn in meinem Bauch an. Einmal will  
ich was Nettes machen. Und sie? Bekommt es vor Tränen nicht mit. „Musst  
natürlich auch so nicht rauskommen!“, rufe ich aus. „Wird wahrscheinlich  
nervig, aber niemand zwingt dich zu irgendwas.“ Ich bin mir verdammt sicher,  
dass sie noch heftiger weint als zuvor. Fluchend schleudere ich die Decke  
gegen die Tür und wende Amelia den Rücken zu. Soll sie doch machen, was  
ihr gefällt. Wir bekommen ja nur beide Stress, wenn wir nicht brav in einem  
Bett pennen. Sie kann mir die Kohle auszahlen, wenn wir rausgeschmissen  
werden. Ich werde gegen ihren dämlichen Briefkasten treten, bis sie bereit  
ist, irgendwas Vernünftiges zu tun oder mich irgendwo einbuchten zu lassen.  
Da muss ich wenigstens nichts für ein Dach über dem Kopf tun.  
Wenn ich eingebuchtet werde, hat es hier angefangen. Genau in dieser  
Sekunde.  
Ich höre das leise Quietschen der Tür. Mit vor der Brust verschränkten Armen  
drehe ich mich um. Blind angelt Amelia nach der Decke. Ich will sie schütteln,  
bis sie wieder zur Vernunft kommt.  
„So machen das die reichen Kids also?“, frage ich trocken. „Sie verkriechen  
sich vor laufender Kamera und heulen? Weil sie angekotzt wurden?“  
Anstatt einer Antwort, zerrt Amelia sich den Stoffberg in die Talkbox und  
schließt die Tür. Ich will das Holz eintreten und ihr den Kopf zurechtrücken.  
Schwachsinn.  
„Die werden dich bestimmt alle nicht vermissen“, sage ich. „Du bist ätzend.  
Niemand hier mag dich.“ Auf meine Provokationen geht sie nicht ein. Ich  
sollte mich einfach mit Schwung auf das Bett fallen lassen und genießen, dass  
ich es mit niemandem teilen muss. Nicht mit ihr, nicht mit irgendeiner  
anderen Schnepfe. Blöd, dass die Produktion uns eine ganz klare Anweisung  
174  
gegeben hat und ich lieber auf dem Boden in der Talkbox penne, als morgen  
zu fliegen.  
Ich betätige die Klinke. Amelia hat die Tür nicht verriegelt. Übellaunig stapfe  
ich zu ihr, schließe hinter mir ab und lege mich demonstrativ auf den Boden  
zu ihren Füßen. Soll sie dramatisieren, was sie will. Ich zieh das Ding hier  
durch und verlasse die Villa als reicher Mann.  
„Was los?“, frage ich sie. „Kommst du nicht mit Kotze klar?“  
„Nein.“  
„Offensichtlich.“  
„Darum geht es nicht.“ Schniefend fährt sie sich mit beiden Händen über die  
geschwollenen Augen. „Was ich in meinem Leben getan habe, habe ich aus  
den falschen Gründen getan.“  
„Einsicht ist der erste Weg zur Besserung oder so.“ Schulterrollend lehne ich  
mich gegen das Sofa und sehe auf zu ihr. In sich zusammengesunken wirkt  
Amelia wie ein winziges, lächerliches Häufchen Nichts. Ein jammerndes,  
wimmerndes Etwas, das mir den Schlaf und die Geduld raubt.  
„Wir sind einander nicht allzu verschieden“, sagt sie leise. „Wir beide scheuen  
keine Mittel, um unseren Status quo zu verlassen.“  
„Ist dir das Reichsein auf den Geist gegangen oder wie?“  
„Wir hatten nie viel Geld.“  
Abfällig rolle ich die Augen. „Verarsch mich nicht. Du sitzt in dem größten  
Schloss der Stadt und lässt dir wahrscheinlich von dressierten Eichhörnchen  
die Nägel lackieren. Was ist dein Problem?“  
„Das alles habe ich mir erarbeitet.“  
„Ja, mach halt.“  
Kopfschüttelnd zieht sie die Knie an die Brust. Was? Bringt nichts, mit mir zu  
reden, oder was? Da hat sie Recht. Da hat sie verdammtes Recht. Wenn mir  
eine verzogene Göre vorjammern will, wie viele Entbehrungen sie bisher auf  
sich nehmen musste, da kommt mir alles hoch. Sie weiß nichts. Sie hat keine  
Ahnung. Sie weiß nicht, was es bedeutet, nichts zu essen zu haben oder über  
leere Flaschen zu fallen, weil niemand sich um das Haus schert. Sie hat keine  
Ahnung, wie es ist, wenn die Mutter rauchend dabei zusieht, wie man  
windelweich geprügelt wird und sie musste nie mit gebrochenen Rippen ins  
Krankenhaus kriechen, weil der Penner seine Wut noch woanders ablassen  
175  
wollte. Keinen blassen Schimmer hat sie. Überhaupt keinen. Sie sollte einfach  
mal die Klappe halten, wenn es um Dinge geht, die reiche Leute nicht  
verstehen.  
„Ist es möglich, einem Menschen Schaden zuzufügen, ohne ihn zu kennen?“,  
wispert Amelia.  
Spöttisch ziehe ich die Brauen hoch. Als würde es sie kümmern, was  
schlussendlich bei ihren Prozessen rauskommt, solange vorher die Kohle  
floss. Geld regiert die Welt und ihre stinkt vor Reichtum.  
„Ohne diesem Menschen jemals begegnet zu sein.“  
„Mit Sicherheit“, sage ich achselzuckend. „Mach dich nicht irre oder so. Ist ja  
auch egal.“  
„Es ist nicht egal.“  
Augenrollend setze ich mich zur ihr auf das Sofa und halte einen guten  
Abstand ein. Wenn sie mich anfasst, drehe ich durch. Bei mir ist jede einzelne  
Faser überbeansprucht. „Es ist scheißegal“, beharre ich. „Niemand kümmert  
sich um diesen Stuss.“  
„Mich kümmert es.“  
„Ja, dann mach halt, dass das aufhört.“  
Verständnislos sieht Amelia mich an. Die Tränen machen sie hässlich. Sie  
quillt überall auf, die Unterlippe hat sie seltsam vorgeschoben und die  
Augäpfel sind von dicken, roten Adern durchzogen. Fleckig ist ihre Haut und  
ihre ganze Haltung wirkt unterwürfig und völlig erbärmlich. Diese Frau gibt  
niemandem mehr Halt.  
„Wäre es simpel, wäre es vorüber.“  
„Dann mach es halt einfach.“  
Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu. „Du scheust Berührungen, ich das  
Ausmaß meines Handelns.“  
„Wir sind beide Freaks und deswegen in dieser Scheißshow gefangen. Kein  
Grund sich die Augen auszuheulen.“  
„Es ist der einzige Grund.“  
„Dann wärst du halt nicht hergekommen.“ Ich rolle die Augen. „Steig doch  
aus, dann kannst du zurück in deinen Palast und weiter unschuldige Leute in  
den Knast bringen und die ganzen bösen Jungs zurück auf die Straße setzen.“  
„So ist das nicht.“  
176  
Schnaufend lehne ich mich zurück. „Klar. Wahrscheinlich ist das alles viel  
komplizierter und bürokratischer und stumpfer.“  
Amelia öffnet den Mund, als wollte sie dieses dumme Thema tatsächlich vor  
der Kamera platttreten. „Mach halt, was du willst“, murmle ich. „Juckt mich  
nicht. Wir sind beide hier, wir sollten uns beide besaufen und die Zeit unseres  
Lebens haben.“  
„Warum trinkst du nicht mit den anderen?“  
„Ja, warum du nicht?“  
„Ich fürchte den Kontrollverlust“, wispert Amelia.  
„Ich hasse betrunkene Menschen. Ziemlich klar alles, was?“  
Seufzend vergräbt sie das Gesicht in den Händen. Besser so. Sie sieht wirklich  
beschissen aus.  
„Würde es dir viel ausmachen, mich allein zu lassen?“  
„Ja?“ Verständnislos sehe ich auf ihren gekrümmten Rücken. „Die Produktion  
hat da eine ganz klare Ansage gemacht.“  
„Seit wann kümmert dich, was eine Autoritätsperson sagt?“  
„Ich brauche das Geld“, spreche ich das Offensichtliche aus. „Dringend.“  
„Verdien es dir.“  
„Wie?“ Ich rolle die Augen. „Mit einem Studium, um einen guten Job zu  
bekommen? Ich habe keine Kohle.“  
„Verdien dir die Mittel.“  
„Indem ich rumhure oder wie?“  
Amelia runzelt die Stirn. „Nein“, sagt sie. „Es gibt Berufe, die du dir in deinen  
Lebenslauf eintragen lassen kannst. Bewirb dich als Praktikant.“  
„Da gibt es kein Geld.“  
„Nur in wenigen Situationen.“  
„Ich brauche Kohle“, betone ich. „Jetzt. Auf der Stelle.“  
„Bestimmt nicht erst seit Kurzem.“ Ihre dämliche, reiche, blasierte Art geht  
mir auf den Senkel.  
„Stimmt, nicht erst seit Kurzem“, pflichte ich ihr zwischen  
zusammengebissenen Zähnen bei. „Schon mein ganzes Leben lang. Ich hatte  
nie Geld!“  
„Verdien dir welches.“  
Ich explodiere. „Deswegen bin ich hier!“ Amelia bleibt still. „Ich bin hier, weil  
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ich keinen Pfennig habe, weil niemand mich als Model will und weil ich auf  
einer fleckigen Matratze im Keller einer abgehalfterten Crackoma lebe. Ich  
bin von einem Loch ins nächste gefallen und das hier ist meine einzige  
Chance, da rauszukommen.“  
„Es gibt immer zwei Wege.“  
„Wenn man Geld hat?“ Ich lache auf. „Dann gibt es nicht nur zwei Wege.  
Dann gibt es Hunderte und alle liegen dir zu Füßen. Du kannst tun und lassen,  
was du willst, und wenn dir die Mittel ausgehen, pumpst du deinen  
Sugardaddy an und der regelt das halt.“  
„Meine Eltern haben über wenige finanzielle Mittel verfügt.“  
„Du weißt doch nicht mal, was wenig bedeutet.“ Ich deute mit dem Daumen  
auf sie. „Wenig ist, wenn du Mitte des Monats noch fünf Kröten hast. Nicht,  
weil du die ganze Zeit alles aus dem Fenster geworfen hast, sondern weil du  
einfach einen Dreck verdienst. Das ist wenig. Da hungerst du dann nämlich  
und frisst Nudeln und Kartoffeln.“  
„Wenn du auf diese Weise aufgewachsen bist“, sagt Amelia zögernd, „warum  
hast du nie Perspektiven gesucht.“  
Ungläubig lache ich auf. Nicht ihr verdammter Ernst. „Was tue ich hier wohl?“  
„Das hier ist keine Perspektive.“  
„Es ist meine einzige Perspektive“, sage ich. „Mich hat man geboren, damit  
ich auf den großen Magazinen zu sehen bin.“  
„Wäre dem so, wäre dir der Durchbruch längst gelungen.“  
„Meine Agentin ist völlig unnötig. Eine Halsabschneiderin!“  
„Dem eigenen Erfolg liegt die eigene Arbeit zu Grunde.“  
„Wenn ich mich auslachen lassen will, gehe ich zum Arbeitsamt und zeige  
meinen Abschluss.“  
„Du hast einen?“  
„Nein!“, rufe ich aus. „Nein, ich habe keinen, weil ich versucht habe, die  
Situation halbwegs zu deeskalieren und als ich nicht mehr konnte, bin ich in  
den nächsten Bus gesprungen und weggefahren.“  
„Diesen Abschluss solltest du nachholen.“  
Sie kapiert nicht. Sie sieht es gar nicht. Reiche Menschen. Das ist das Problem  
mit reichen Menschen. Die sehen den Elefanten im Raum nicht einmal, wenn  
man ihn direkt vor ihre Nase führt.  
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„Klar.“ Ich winke ab. „Geht ja auch so einfach.“  
Amelia öffnet den Mund, ist dann aber doch helle genug, einfach ihre  
verdammte Klappe zu halten. Das bringt uns doch alle nicht weiter.  
„Wenn du aussteigst, wird dir kein Geld ausgezahlt“, sagt Amelia schließlich.  
„Das steht schwarz auf weiß in dem Vertrag.“  
„Ist schon klar“, murmle ich. „Deswegen bin ich hier. Auch wenn ich zu früh  
fliege, gehe ich leer aus.“  
„Nur der Sieger wird entlohnt.“  
Schnaufend schließe ich die Augen. „Klar doch.“ Die Hitze der Strahler brennt  
sich in meine Haut.  
„Diese Klausel ist Vertragsbestandteil.“  
„Immer doch.“  
„Hast du ihn gelesen?“  
„Wozu?“ Ich werfe ihr einen abfälligen Blick zu. „Nach der Show bin ich reich.  
Das ist alles, was ich wissen muss.“  
„Nur, wenn du gewinnst“, beharrt sie.  
„Schaffe ich schon“, murmle ich. So ein Schwachsinn. Als würden die das Geld  
nur an einen auszahlen.  
„Ich bin hier, um mich einigen Vorgängen zu entziehen“, sagt Amelia leise.  
„Was du nicht sagst.“  
„Ab einem bestimmten Punkt, sollte mich das Weltgeschehen nicht mehr  
kümmern und ich sollte mir vor Augen führen können, dass auch ich nur ein  
Bestandteil einer Fügung bin, gegen die es sich nicht anzuarbeiten lohnt.“  
„Skrupel bekommen oder was?“  
Amelia presst die rosa Lippen fest aufeinander.  
„Musst nichts sagen.“ Ich dehne meinen rechten Arm. „Steht dir ins Gesicht  
geschrieben.“  
„Geld“, flüstert sie. „Angst. Ruhm. Nichts von dem, was hier aufeinandertrifft,  
könnte fruchtbaren Boden bewirtschaften.“  
„Wir gehen trotzdem als gute Leute hier raus.“  
„Hast du den Vertrag gelesen?“, wiederholt Amelia leise.  
„Warum sollte ich?“ Träge blinzle ich zur ihr. Das Licht ist beschissen hell.  
„Das Wichtigste haben sie mir gesagt. Es gibt Geld. Geld brauche ich. Alles  
gut.“  
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„Die besten Fünf eines jeden Formats werden automatisch in das nächste  
Format übernommen.“  
„Ist halt so.“  
„Der Sieger aller Formate erhält die Gage.“  
„Klar doch.“  
„Der Vertrag ist an Dreistigkeit kaum zu übertreffen.“  
„Was machst du dann hier?“ Ich rolle leicht den Kopf. „Auf so ein Zeug nicht  
reinzufallen, das ist dein Job. Warum heulst du rum? Wenn das wirklich so  
schlimm ist, wärst du nicht hier.“  
„Ich sollte einen Raubmörder vertreten“, sagt Amelia. „Es ist deutlich  
komplizierter, sich einem solchen Auftrag zu entziehen, als es auf dich wirken  
mag. Diese grelle Umgebung war mein einziger Ausweg.“  
„Angst abgestochen zu werden oder was?“  
„Ja“, wispert Amelia. „Furchtbare Angst.“  
Ungläubig sehe ich sie an. Nicht ihr Ernst. „Hast du mir zu vielen bösen Typen  
was angefangen oder wo ist das Problem?“  
„Ich möchte diesen Prozess nicht gewinnen“, sagt sie rau. „Dieser Prozess  
hätte uns viel Geld eingebracht und mir die letzten Reste meines Gewissens  
genommen.“  
„Heul leise“, murmle ich. „Dann ist das Geld halt dreckig. Und? Kannst weiter  
gut davon leben.“  
„Wenn ich nicht gewinne, wird der Clan es als persönlichen Angriff gegen sich  
verstehen.“  
„Dann lass dich halt nicht mit solchen Leuten ein.“  
„Ich hatte nie eine Wahl.“  
Abfällig verziehe ich den Mund. Da sind wir uns einig. Manchmal ist es  
beschissen und man hat einfach keine Chance. Man ist einfach durch. Man  
kommt nicht raus, man kommt nicht rein, man steht halt mitten auf der  
Straße und der erste Laster, der einen mitnimmt, ist der richtige.  
„Soll dein Daddy dich halt freikaufen.“  
„Selbst wenn er die finanziellen Möglichkeiten hätte, täte er das nicht.“  
Ich rolle die Augen. „Klar doch. Zieh für die Kameras dein Theater ab, ich  
brauche das nicht.“  
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Diese Falten kehren auf ihre Stirn zurück. Damit sieht sie alt aus und noch  
nerviger. „Ich spreche nicht mit den Kameras.“  
„Sind aber hier überall. Die zeichnen alles auf, schneiden es zurecht und  
schon wetzen die Kerle da draußen das Messer und warten auf dich.“  
„Ich spreche mit dir“, flüstert Amelia. „In meinem Leben möchte ich einem  
Menschen vertrauen.“  
„Furchtbare Wahl, Sugar. Furchtbare Wahl.“  
„Warum?“, haucht sie. „Wie könntest du jemals schlimmer sein als ich?“  
„Ich muss nicht schlimmer als du sein“, sage ich augenrollend. „Ich muss nur  
ein ganz normaler Mann sein, der keine Lust auf dein Drama und deine  
Messerstecher und Schwerverbrecher hat.“  
„Hättest du es getan?“, fragt sie mich unvermittelt.  
„Was?“  
„Für Geld den nächsten Schwerverbrecher von seiner Schuld befreit.“  
„Kommt drauf an, wie gut es bezahlt wird.“  
„Wir sind einander ähnlicher, als uns beiden lieb sein sollte.“  
„Juckt mich nicht“, murmle ich und verschränke die Arme hinter dem Kopf.  
„Ich sag dir, was ich will. Ich will heute nur noch schlafen, weil ich gestern  
kaum ein Auge zubekommen habe.“  
„Dann schlafen wir.“  
„Die Dinger sind hell.“  
„Ich möchte nicht rübergehen.“  
„Gefällt dir das Livekonzept nicht oder wie?“  
„Ja.“  
„Hättest du halt vorher drüber nachdenken müssen“, murmle ich.  
„Dir sagt es auch nicht zu“, flüstert Amelia. „Ich sehe es dir an. Am liebsten  
würdest du jedem folgen, der diesen Container verlässt.“  
„Ich brauche Geld“, erinnere ich sie. „Dafür schufte ich mir hier den Arsch ab.  
Habe ich kein Problem mit.“  
„Wenn du nicht gewinnst und es dir nicht ausgezahlt wird, was dann?“  
„Dann bin ich wenigstens begehrt und berühmt.“  
„Wie kommst du darauf?“  
„Die strahlen das groß aus“, sage ich. „Die Leute gucken das.“  
„Aktuell wirkst du wenig sympathisch auf mich. Gut möglich, dass der Schnitt  
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gegen dich arbeitet.“  
„Ich muss nicht nett sein“, antworte ich schlicht. „Ich bin heiß. Jede will  
mich.“  
„Wie kommst du darauf?“  
Achselzuckend strecke ich mich so weit wie möglich aus. Amelia sitzt im Weg.  
Wahrscheinlich sollte ich zurück auf den Boden gehen und die Decke  
mitnehmen. „Sie zeigen es mir. Jede will mit mir einen Kaffee trinken, jede  
will mir an die Wäsche. Die sehen mich und wollen ein Kind von mir und so.“  
Ein winziges Lächeln hebt Amelias Lippen. Schon seltsam. Gerade heult sie,  
jetzt grinst sie. Die Frau kann sich auch nicht entscheiden, was sie will. „Die  
Frauen verlieren Interesse, wenn sie ihr Objekt der Begierde nicht berühren  
dürfen.“  
„Ist dann halt so“, sage ich. „Sollen sie nicht rumheulen. Die nächste kommt  
bestimmt.“  
„Um von Menschen gemocht zu werden, hilft es, freundlich zu sein.“  
„Ich mag sie nicht, ich will nicht nett sein. Ich will einfach nur meine Ruhe  
haben.“  
„Auf Social Media müsstest du mit deinen Followern interagieren.“  
„Weißt du, weil du darüber so viel machst oder wie.“  
Schwer seufzend dreht sie mir den Rücken zu und rollt sich zu einer kleinen  
Kugel zusammen. Seltsames Mädchen. Weiß nicht, was es will. Weiß nicht,  
was es tut. Erzählt nur Stuss.  
„Ich brauche das Geld“, beharre ich. „Sonst bin ich erledigt.“  
„Verdien es dir“, wiederholt Amelia gedämpft.  
„Mache ich.“ Schnaufend rolle ich die Augen. „Ich verdiene es mir schwer.  
Wahrscheinlich gehe ich hier nicht nur stinkreich raus, sondern auch  
traumatisiert.“  
Amelia wirft mir einen kurzen Blick über die Schulter zu. „Auf mich wirkt es,  
als wärst du längst traumatisiert.“  
„Erzähl keinen Scheiß.“ Ächzend mache ich es mir in meiner Ecke bequem  
und schließe die Augen. Die Decke liegt als schützender Hügel zwischen uns.  
Dass sie mich berührt, darüber muss ich mir hier binnen der nächsten  
Minuten keinen Kopf machen.  
„Die Aufgaben werden nicht einfacher werden“, sagt Amelia leise.  
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„Müssen sie auch nicht.“ Ich vergrabe die Hände in dem weichen Stoff und  
konzentriere mich auf die Festigkeit der Fasern. Gut so. Verdammt gut so.  
„Möchtest du das wirklich?“, flüstert Amelia. „Möchtest du wirklich Teil  
dieses gesamten Konzepts werden, das du dir nicht erlesen hast?“  
„Hat sich doch keiner außer dir durchgelesen.“  
„Womöglich“, wispert Amelia. Sie klingt winzig klein. „Womöglich.“  
183  
Sonnenglitzern (Amelia)  
Ein kühler Luftzug weckt mich. Die Tür steht offen und in dem Schatten der  
grellen Leuchten baut sich eine finstere Gestalt auf. Mir stellen sich die  
Nackenhaare auf, während ich zurückweiche und mit dem Fuß gegen Lads  
Oberschenkel stoße. Das Licht blendet mich. Wer auch immer uns dort  
beobachtet, ich erkenne ihn nicht. Jacobs stechender Blick kriecht zurück in  
meine Erinnerung. Lad rührt sich nicht. Mir schnürt sich der Brustkorb  
zusammen. Zu schreien, wäre Zeitverschwendung. Ich trete Lad heftiger. Er  
fährt auf, mit einem Krachen verriegelt sich das Schloss. Wir sind allein.  
„Was zur Hölle?“, murmelt Lad. Seine Stimme ist rau vom Schlaf. Mit dem  
Unterarm wischt er sich über die Augen. „Was ist schief mit dir?“  
„Da war jemand.“  
„Es ist abgeschlossen, verdammte Scheiße.“  
„Da war jemand!“ Ich fühle mich wie erstarrt. Meine Muskeln zucken  
unkontrolliert, die Luft schmeckt seltsam. Ich bilde mir ein, dass sie meine  
Glieder lähmt und mich hilflos zurücklässt. Müdigkeit. Die Müdigkeit  
schwächt mich.  
„Wo?“ Wankend kommt Lad auf die Beine. „Bist du schizo?“  
„Was?“ Mein Verstand ist träge. „Nein. Da war jemand. Ich versichere dir“,  
stockend lehne ich mir zurück, „dass wir nicht allein waren.“  
Langsam geht Lad auf die Tür zu und rüttelt an ihr. Verschlossen. „Da ist  
niemand“, sagt er. „Es ist zu, hier kommt niemand rein und niemand raus.“  
Niemand raus. Der Schlüssel steckt nicht mehr. Eiseskälte kriecht mir die  
Wirbelsäule hinauf.  
„Wir kommen hier nicht raus“, wispere ich.  
„Aufschließen?“ Lad reibt sich erneut über die Augen und lehnt sich mit dem  
Rücken gegen die Tür.  
„Kein Schlüssel“, bringe ich heiser über die Lippen. Die Pflanzen sind  
künstlich, es gibt kein Fenster, der Spalt nach draußen ist hauchschmal. Zwei  
Personen? Werden hier nicht allzu lang überleben können.  
Träge greift Lad in seine Hosentasche. „Konnte nicht pennen, als der da  
gesteckt hat. Will ja nicht, dass wir hier eingeschlossen werden oder so.“  
184  
Ich wimmre auf. Jede Spannung weicht aus mir und ich ziehe die Knie zurück  
an meine Brust. „Lad“, wispere ich rau, „da war jemand. Ich bin nicht  
verrückt.“  
„Vielleicht müde?“ Leise ächzend kehrt er zu dem Sofa zurück und kauert sich  
neben mich. Die Schatten unter seinen Augen wirken tief, seine Muskeln  
zucken ähnlich wie meine. „Was weiß ich. Wir sollten einfach pennen.“  
„Hier war jemand.“ Diese Gewissheit treibt mich an den Rand des Wahnsinns.  
Es sollte nicht möglich sein, diesen Container zu betreten. Er ist Teil der  
Produktion. Wie viel müsste ein Mann zahlen, um hier Zutritt zu erhalten.  
„Ein Scheiß war hier“, sagt Lad entschieden. „Es ist dunkel. Es ist nachts.“  
„Es ist nicht dunkel.“  
„Mach die Augen zu, dann ist es dunkel.“  
„Lad!“ Er hört mir nicht zu. Ich will mich an ihn schmiegen und in Sicherheit  
wiegen. Jede Berührung widerstrebt ihm und, obwohl wir gemeinsam in  
diesem Raum sind, bin ich allein. Ein Teil von mir möchte ausbrechen, fliehen,  
sich unter einem fremden Bett verkriechen. Ich sehne mich nach  
menschlicher Nähe und Sicherheit. Mit Lad bin ich einsam wie in meinem  
Haus, komme nach meiner Haushälter Heim, gehe, ehe sie zurückkehrt.  
„Was soll der Terz?“, fragt er mich heftig. „Die Tür ist zu. Wie soll hier jemand  
reinkommen? Siehst du Geister?“  
„Manchmal finden Menschen Wege, um andere Menschen zu töten.“  
„Müssten sie nur die Lampen hochgehen lassen“, murmelt er.  
„Bitte“, wispere ich, unsicher, was ich damit bezwecken möchte. „Bitte.“  
„Was?“ Er setzt sich auf. „Was willst du von mir? Ich penne mit dir auf einem  
Sofa und verrenke mir die Knochen, damit du nicht zu den anderen musst.  
Was ist falsch mit dir?“  
„Da war ein Mann hinter den Lampen.“  
„Wie soll hier ein Mann hinter den Lampen sein?“  
„Ich weiß es nicht“, sage ich heiser. „Ich weiß es doch nicht!“  
Ruckartig zieht er mich an sich, für einen flüchtigen Moment nur, dann  
schiebt Lad mich von sich. „Willst du woanders hin?“  
„Er wartet draußen“, sage ich rau.  
„Wer denn?“  
„Der, der hierein gekommen ist.“  
185  
Lad betrachtet mich aus seinen unwirklich blauen Augen, als hätte ich den  
Verstand verloren. „Bei dir ist doch jede Platte gesprungen, die springen  
kann“, murmelt er schließlich. „Du bist nicht hübsch genug, um so heftig  
durchgeknallt zu sein.“  
„Da war jemand“, beharre ich nur. Die Panik schnürt mir die Kehle zu. Sie  
lauern. Ehe sie zuschlagen, lauern sie. Den Fehler, zu lang zu warten, werden  
sie kein zweites Mal begehen. Wieder verfolgen mich Schatten, die gleichen  
wie seit Jahren, und es gelingt mir nicht, sie zu verbannen. Sie sind real wie  
ich, grausam wie ich. Sie warten hinter jedem Winkel, mich zu schächten.  
Schweigend öffnet Lad die Decke und bedeutet mir, den Platz mit ihm zu  
tauschen. Ich rücke in Richtung der Wand. Er hüllt mich in einen Berg aus  
Stoff, ehe er die Arme vor der Brust verschränkt und sich mit stoischem Blick  
Richtung Tür wendet.  
„Was tust du?“  
„Aufpassen, dass du nichts mehr zum Heulen hast.“  
„Sie waren hier!“  
„Jetzt schon mehr als einer oder wie?“  
„Nein.“ Ich schlucke das hysterische Schluchzen. „Sie sind immer da. Sie  
waren weg, aber jetzt sind sie wieder da und sie verschwinden nicht. Sie  
gehen nie weg.“  
Mit einer ruckartigen Bewegung fährt Lad sich durch das dunkle Haar. „Bist  
du irre?“  
Verzweifelt versuche ich, meine Gedanken zu ordnen. Die Angst schnürt mich  
ein. Sie sperrt mich in ein Korsett aus Fehlern und lässt mich nicht mehr frei.  
„Nur, weil ich einen Clan zufriedenstelle, bedeutet das nicht, dass kein  
anderer Jagd auf mich macht.“  
„Jagd?“ Lad schnauft. „Du nimmst dich schon für verdammt wichtig.“  
Ich vergrabe mich in der Decke. Sie riecht fremd, nach Chemie und nach  
beißendem Putzmittel. „Für Geld habe ich einige Menschen freisprechen  
lassen, die nicht frei sein sollten“, gestehe ich rau. „Für Geld habe ich einige  
Menschen bestrafen lassen, die keine Strafe verdient hätten.“  
„Ja, die kommen aber nicht einfach so her und stechen uns ab.“  
„Er war hier“, beharre ich. Dieser Schatten, der dort stand und die Tür zurück  
ins Schloss zog. Der uns beobachtete und mich mit seinen stechenden Blicken  
186  
weckte. Jacob? Niemand aus der Produktion wird den Mut besitzen, sich  
gegen mich zu wenden. Während die Kameras laufen.  
In diesem Raum existiert keine Liveübertragung.  
„Klar. Wir sind alle hier und wir werden alle abgestochen.“ Die Erschöpfung  
steht Lad ins Gesicht geschrieben, als er sich zu mir umdreht. „Hör auf zu  
heulen und schlaf. Ich pass schon auf dich auf.“  
„Er kommt wieder.“ Meine Stimme klingt winzig und spitz.  
„Heul nicht“, murmelt Lad. „Ich pass doch auf. Schlaf einfach.“  
Schniefend rücke ich in seine Richtung und er weicht von mir zurück. „Eine  
Umarmung?“, wispere ich rau. Flehend.  
„Vergiss es.“  
„Durch die Decke hindurch“, bitte ich. „Ich würde dich nicht berühren. Nur  
für einen Moment.“  
„Vergiss es!“  
Wimmernd schließe ich die Augen. Wohin ich auch gehe, wer mich auch  
umgibt, in Gesellschaft befinde ich mich nie. Unter dem grellen  
Scheinwerferlicht kauere ich mich zusammen. Die Decke ist eine schützende  
Idee, die sich um mich schmiegt und die Hitze in diesem Raum vervielfacht.  
Es ist zu warm. Zu stickig. Ich bekomme keine Luft mehr.  
Lad scheint ein ähnlicher Gedanke zu kommen. „Ich mach mal die Tür auf.“  
Unwillkürlich verkrampfe ich mich. „Nein!“  
„Hör auf zu heulen, verdammt.“ Lad steht auf. Reflexartig greife ich nach dem  
Stoff seines Oberteils und halte ihm fest. Er versteht nicht. Er sieht nicht. Da  
war jemand. Es mag tausendfach verschlossen gewesen zu sein, dort war  
jemand. Ich habe gelernt, diesen Sorgen Glauben zu schenken. Sie haben  
mich bis hierher gebracht.  
„Lass mich los.“ Er zerrt das Shirt aus meinem Griff. „Bist du irre?“  
„Ich habe Angst.“  
„Vor Schatten?“ Er rollt die Augen. „Sei mal ein Moment kein Mädchen,  
sondern ein richtiger Mensch.“  
„Sie töten Menschen.“  
„Einen Scheiß tun sie.“ Er zieht den Schlüssel aus seiner Tasche. Er darf nicht  
öffnen. Unter keinen Umständen. Darauf warten sie. Dafür kauern sie an Ort  
und Stelle.  
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„Bitte“, beharre ich. Ein letztes, verzweifeltes Flehen. Er öffnet. Kühle Luft  
strömt uns entgegen. Frisch. Haben sie die Belüftung aktiviert? Für einen  
Sekundenbruchteil glaube ich, in meinem Schlafzimmer zu sitzen und die  
Fenster geöffnet zu haben, bereit die Schreckgespenster zu vertreiben.  
„Kein Mörder.“ Schneidender Spott schwingt in Lads Stimme mit. „Pennst du  
weiter oder was soll der Schwachsinn?“  
„Ich habe Angst.“ Mehr bringe ich nicht über die Lippen. Ich fühle mich  
beobachtet und die winzigen Lämpchen leuchten. Zahlreiche Kameras haben  
ihre Linsen auf mich gerichtet. Nichts entgeht ihnen. Kein Zucken, kein  
Zögern.  
Lad setzt sich zurück auf das Sofa und nickt zu mir. „Schlaf einfach.“  
„Er kommt zurück.“  
„Dann bringe ich ihn halt um.“ Achselzuckend lehnt Lad sich in das weiche  
Polster zurück. „Ich pass schon auf dich auf, Sugar.“  
„Das musst du nicht.“  
„Mache ich trotzdem.“ Gönnerhaft grinst er. „Da sieht man erst, was für ein  
toller Kerl ich bin, was?“  
Unter anderen Umständen würde ich ihm ein Lächeln schenken. So kauere  
ich mich so nah an ihn, wie Lad es zulässt, und vergrabe mich in der Decke.  
„Sie haben versucht, mich zu töten“, vertraue ich Lad gedämpft an. „Ich habe  
mich verkalkuliert.“  
„Und einen Haufen Kohle dafür eingesackt, also hör auf zu heulen.“  
Er versteht nicht. Schniefend starre ich auf den hellen Stoff der Decke. Selbst  
wenn er wollte, könnte er es nicht verstehen. Nur wenn man einmal das  
eigene Haus betrat, durch die eigenen Räume ging, die einem bekannt sind  
wie das eigene Spiegelbild, und vor dem eigenen Schlafzimmer von fremden  
Händen umklammert wurde, ahnt, was es bedeutet, nicht sicher zu sein.  
Nirgendwo. Zu keiner Zeit. Jemals.  
„Irgendwann gewinnen sie“, flüstere ich.  
„Wenn du so rumheulst, dann mit Sicherheit.“ Beinahe nebensächlich legt  
Lad einen Arm über die Decke. „Mach einfach die Augen zu, Sugar. Ich pass  
schon auf.“  
„Du selbst bist müde“, erinnere ich ihn.  
188  
Achselzuckend schlägt er die Beine übereinander. „War ich schon oft.“  
Gähnend starrt er in das Licht. „Du würdest das Gleiche für mich tun.“  
„Ja“, wispere ich, ohne zu zögern. „Täte ich.“  
Knapp nickt Lad. „Dann sind wir doch quitt. Das hier ist eine Show. Dann  
machen wir halt eine Show.“ Als er mich ansieht, suche ich nach einem  
Menschen, der mich aus tiefstem Herzen verabscheut. Der mich ablehnt wie  
jeder, dem ich auf meinem Weg begegne. Eine warme Gleichgültigkeit  
schlägt mir entgegen. Ich will mich in ihr verlieren, bis ich vergessen habe,  
wie unwichtig meine Taten sind. Wie gewichtig. Wie unabänderlich.  
Wie fehlerhaft.  
Wie falsch.  
„Schlaf“, beharrt er. „Schlaf einfach. Ich pass schon auf.“  
„Ja“, wispere ich. „Du passt auf.“  
„Besiegt man Schatten mit Silberkugeln oder wie läuft das?“  
Bebend hebe ich einen Mundwinkel. „Mit Licht“, sage ich. „Das weiß man  
doch.“  
189  
Wir für die Show (Ladislav)  
Dieses ätzende, künstliche Sonnenlicht strahlt durch die glaslosen Fenster, als  
ich mich von dem Sofa schiebe. Mir tut jede Faser weh. Amelia ist ein  
bibberndes Häufchen Elend in ihrer Decke. Die roten Haare stehen ihr kreuz  
und quer ab. Kleines Miststück.  
Seufzend lehne ich mich zu ihr und zupfe den Stoff so, dass er auch ihre Füße  
bedeckt. Ist zwar verdammt heiß hier drin, aber offenbar nicht heiß genug.  
Amelia zuckt zusammen, als hätte ich mich hinter einen der Scheinwerfer  
gestellt und so getan, als würde ich sie abstechen wollen. „Was?“  
„Was willst du von mir?“, frage ich rau und verknote die Beine. „Ich wollte  
dich zudecken. Heul mal nicht rum.“  
Verständnislos blinzelnd rückt sie von mir ab und wirft einen Blick durch den  
Türspalt. „Es ist morgens.“  
„Was du nicht sagst. War eine Scheißnacht.“  
„Entschuldige bitte.“  
„Passt schon.“ Als sie unter der Decke hervorkriecht, schnappe ich sie mir  
und lege sie über meine Beine. Schon warm. Die Scheinwerfer machen mich  
hier noch irre. Mein Mund ist trocken, als hätte ich seit Wochen nichts  
getrunken. Wäre ja was trinken gegangen. Falls was an Amelias Paranoia dran  
sein sollte, will ich nicht der Kerl sein, der verantwortlich dafür ist, dass es sie  
erledigt.  
„Danke.“  
„Ja, passt.“ Ich rolle den Kopf. Jeder einzelne Muskel ist ein verkrampfter  
Scheißbrocken. Muss ein bisschen Sport her. Ein bisschen Bewegung. Später  
Schlaf. Wird schon. Hier haben wir eh nichts zu tun.  
„Möchtest du, dass ich dir etwas koche?“  
Zu müde, um hungrig zu sein. Wenn ich nichts zwischen die Kiefer bekomme,  
will ich nur noch jeden umbringen. „Klar. Mach was Ordentliches.“  
Ein winziges Lächeln umspielt Amelias Lippen. Wenn sie nicht gerade heult,  
ist sie niedlich. Schade, dass Frauen so verdammt übersensibel sind und nur  
jammern.  
Auf meinem Weg zum Bad stoße ich auf verschlafene Gestalten, die sich wie  
dicke Raupen aus ihren Betten wälzen.  
190  
„He!“ Verschwommen wedelt Melly mit einer Hand. „Hast du Aspirin?“  
„Nein.“  
„Holst du mir welches?“  
Verständnislos sehe ich sie an. Wenn sie sich besäuft, soll sie sich gefälligst  
selbst um ihre Probleme kümmern. „Nein.“  
Ihr dämliches, überdramatisches Seufzen treibt mich an den Rand meiner  
Geduld. Frauen sind da, um zu quälen. Rauben Schlaf und Nerven. Keine  
Ahnung, wer auf die Idee kam, dass die nützlich sein könnten.  
Melly folgt mir wie ein angetrunkener, schläfriger Schatten. „Wo wart ihr?“  
Sie hält sich den Kopf. Besäuft man sich, sollte man ganz genau wissen, wo  
die Schmerzen anfangen. Sonst wird der nächste Morgen ätzend. Sie ist blass  
um die Nase und ihr Makeup ist verschmiert. Toll. Sieht man vierundzwanzig  
sieben. Alles an ihr. Jede müde, jämmerliche Facette. Die Wimperntusche  
malt ihr schwarze Schlieren unter die Augen und auf die Wangen.  
„Pennen.“  
„Wo?“  
„In dieser Talkbox.“ Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Macht auch  
nichts besser. An einigen Tagen sollte man einfach im Bett bleiben.  
Melly nickt vielwissend und zwinkert mir zu. „Sie ist schon süß, oder?“  
„Nein.“ Ich reibe mir etwas von dem kühlen Nass in die Haare. „Sie ist die  
Pest.“  
Lachend knufft sie mich in die Seite und ich versteife mich. Nicht anfassen.  
Nicht anfassen! Wie verdammt schwer kann es sein, die Hände bei sich selbst  
zu halten? Wie verdammt schwierig, einfach mal niemanden anzutatschen?  
„Komm, gib es schon zu, du bist total verknallt in sie.“  
Nein. „Du bist betrunken.“  
„Verkatert“, jammert Melly. „Ich brauche dringend was zum Draufkippen.“  
„Nimm Aspirin und Wasser“, sage ich trocken. „Besser für die Graue Masse.“  
„Betrunken ist die Welt aber so viel schöner!“  
„Sobald du nüchtern wirst, bist du nur auch so viel dümmer.“  
Sie streckt mir die Zunge raus. Eine gelbliche, widerliche Schicht liegt darauf.  
Ich greife nach meiner Zahnbürste.  
„Hast du das irgendwo aufgeschnappt oder wie?“  
„Hab es erlebt.“  
191  
Melly lacht auf, nur um zusammenzuzucken und sich den Schädel zu halten.  
Schwer seufzend setzt sie sich auf einen der pinken Hocker an den  
Schminktischen, die Knie aneinandergelehnt. „Hattest auch eine gute Jugend,  
was?“  
„Nein.“ Ich betrachte mein Spiegelbild. Jeder Vampir hat mehr Farbe im  
Gesicht als ich. „Meine Jugend war ätzend und jeder Tag danach auch.“  
„Zu viel getrunken?“, kichert sie.  
„Nicht wirklich.“ Nie einen Tropfen. Ich weiß, was Kerle tun, wenn sie sich  
besaufen. Sie stürzen sich auf wehrlose Frauen und nehmen ihnen alles, was  
sie noch haben. Sie prügeln kleine Kinder, sie zerschmettern sich die eigenen  
Knochen. Alkohol macht Menschen zu Bestien und ich verspüre kein  
Bedürfnis, zu einer von ihnen zu werden. „Ich mag das Zeug halt nicht.“  
„Misch es dir“, seufzt Melly. „Am Anfang fand ich es auch furchtbar aber  
wenn du es dir gut zusammenmixt, ist alles gut.“ Mit den Handrücken  
massiert sie sich die Wangen. „Irgendwann trinkt man eh nur noch, um  
betrunken zu werden.“  
„Und um am nächsten Morgen so dazusitzen, was?“  
„Ach, sei doch still.“ Die blonden Haare stehen ihr wirr ab. Furchtbar. Wozu  
diese ganzen Eingriffe einen machen, wenn man sich nicht drum gekümmert.  
Einfach nur zu einem Haufen Abfall. Plastikmüll mit organischem Zubehör.  
Schwachsinn. Alles ein großer Schwachsinn. Hätte ich die Kohle gehabt, die  
sie sich in den Körper gesteckt hat, ich hätte mir eine neue Jacke zugelegt.  
Dann neue Schuhe. Und vielleicht eine Matratze, die nicht nach den fünfzig  
Kerlen stinkt, die vor mir darauf geschlafen haben.  
„Sicher, dass du keine Aspirin hast?“, murmelt Melly. Die blauen Augen hat  
sie weit aufgerissen. Ich spüle mir den Mund aus und lege die Zahnbürste  
zurück ganz oben auf die Ablage. Etwas Glück und keiner der Idioten entdeckt  
sie je. „Mein Kopf bringt mich um.“  
„Alkohol ist Gift“, sage ich. „Was hast du erwartet.“  
Sie streckt mir schon wieder die Zunge raus. „Du klingst echt wie meine  
Mutter.“  
„Schön, dass deine Mutter nicht ganz so dumm ist wie du.“  
192  
Melly übergeht meinen Kommentar. Ich will mich streiten. Ich will jemandem  
wehtun, wie die Müdigkeit mir. Verfluchter Schwachsinn. Man sollte diesen  
Container in die Luft jagen.  
Der Geruch von gebratenen Eiern quält sich durch die Tür. „Mein Essen ist  
fertig“, sage ich.  
Melly presst sich die Hand auf den Mund. „Mir ist schlecht.“  
Mein Zeichen, zu verschwinden.  
Ihre Finger bohren sich in meinen Unterarm. „Hältst du mir die Haare aus  
dem Gesicht?“  
„Nein.“  
„Bitte!“  
„Nein!“  
Sie zerrt mich mit sich, als hätte ich nichts gesagt. Fluchend versuche ich mich  
von ihr loszumachen, als sie würgend über der Kloschüssel in sich  
zusammensinkt. Die blonden Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Schimpfend  
fasse ich sie zu einem Zopf zusammen und halte sie hoch, während Melly sich  
die Seele aus dem Leib kotzt. Widerlich. Widerlich bis überallhin. Da unten  
warten meine Eier auf mich und ich? Muss einer fremden Schnapsdrossel  
dabei zusehen, wie sie ihren gesamten Mageninhalt umverteilt.  
Sie wimmert, während die Säure ihr die Speiseröhre verätzt. Weniger saufen.  
Soll helfen.  
Ich sage kein Wort, halte nur die Haare fest. Ist nicht so, als hätte ich darin  
keine Übung. Wie viele Stunden meines Lebens habe ich wohl damit  
vergeudet, genau das zu machen und die leidenden Geräusche zu ignorieren.  
Dann Wasser und Aspirin. Wenn ich Glück hatte. Mit etwas Pech war die  
Schnapsflasche schneller, um das klapprige Skelett noch weiter auszusaugen.  
Wenn der Tag richtig übel war, wurden bunte Pillen eingeworfen. Dann  
konnte sie schon mal einfach für Stunden verschwinden und nicht  
zurückkommen. Egal, ob ihre Typen an die Tür gehämmert haben. Egal, ob  
ihre Typen mich windelweich geprügelt haben, damit ich ihnen etwas  
erzählen, wovon ich nichts wusste.  
Ist doch scheißegal.  
Jetzt tue ich vor laufender Kamera das Gleiche wie immer.  
Ich könnte kotzen.  
193  
„Wasser“, japst Melly zwischen zwei Würgestößen.  
„Vergiss es. Ist noch vergeudet.“  
„Das kannst du nicht …“ Galle. Das Zeug ist grau geworden. Ich presse die  
Lippen fest aufeinander. Die Tür steht einen Spalt breit offen. Garantiert  
halten sie voll drauf. Sollen sie doch. Ein wenig Ekel, damit die Leute  
abschalten und mich in Frieden lassen.  
Ich bin gefühlte Stunden mit ihr in dem kleinen Raum eingesperrt, bis Melly  
still wird und sich mit beiden Unterarmen auf der Toilettenschüssel abstützt.  
Unsanft drücke ich ihren Oberkörper zurück, betätige die Spülung, klappe den  
Deckel zu und lasse sie zurückfallen. „Hol dir deine Aspirin allein.“  
Keine verdammte Antwort. Graues Zeug um den Mund liegt sie da, die Augen  
geschlossen. Morgensport scheint nichts für sie zu sein.  
Kopfschüttelnd schiebe ich mich bis zu einem der Waschbecken, mach mir  
die Hände sauber und spüle mir den Mund mit Minzwasser aus. Der Geruch  
von gebratenen Eiern liegt stärker in der Luft als zuvor. Ohne Mellys Kotze in  
der Nase würde ich mich mehr darüber freuen.  
Die im Schlafraum sind noch nicht weiter als vor fünf Ewigkeiten. Ich stapfe  
durch die müden Saufnasen und trample die Treppe hinunter. In der Küche  
wartet Essen auf mich. Mehr als nur braune Pampe. Richtiges, gutes Essen.  
Hab ich mir nach dieser beschissenen Nacht verdient.  
Amelia sitzt am Fuß des grellgrünen Schranks und schlurft ihr Obst-Gemüse-  
Matschzeug. Neben den Herdplatten warten zwei Spiegeleier und gebräuntes  
Toast auf mich.  
„Danke“, sage ich. Kein Grund irgendwie die Sache runterzuspielen.  
„Keine Ursache.“ Amelia schenkt mir ein schwaches Lächeln. „Ich danke dir.“  
Achselzuckend greife ich nach einer Gabel und stopfe mir so viel, wie ich  
bekommen kann, in den Hals. Abends gibt’s nichts Vernünftiges, sonst auch  
nicht. Wenn ich nicht gerade selbst koche, muss ich Etepetetezeug vom  
Buffet essen, das ich nicht mal benennen kann. Die könnten den anderen  
Rattenschwänze verfüttern, die würden es nicht merken. Ich bleibe bei Ei und  
Nudeln und was es hier sonst noch gibt.  
„Jeder hat halt seinen Schuss weg.“  
Sie seufzt leise und setzt das Glas von ihren Lippen ab. Wie man das Zeug  
trinken kann. Unbegreiflich. Schmeckt, sieht aber aus, als hätte Melly sich in  
194  
den Mixer erbrochen. „Da war jemand.“  
„Klar.“ Ich rolle die Augen. „In einem verschlossenen Raum am Set. Ist klar.“  
Zu einer weißen Linie presst Amelia ihre Lippen zusammen. Sie kann darauf  
bestehen wie sie will. Da glaube ich ihr kein Wort. Was würde es denen  
bringen, einen blutrünstigen Spinner hierein zu lassen? Zum Schluss  
bekommen sie nur Stress, weil ihre Leute vor laufender Kamera  
draufgegangen sind.  
„Ich bin hier, weil es für mich keine Alternativen gab“, sagt Amelia schlicht.  
„Hätte ich den aktuellen Fall gewonnen, hätte sich die eine Partei auf mich  
angesetzt, hätte ich verloren, wäre ich Opfer der anderen gewesen.“  
„Hättest du den Stuss halt nicht angenommen.“  
„Das stand nie zur Diskussion.“  
„Warum nicht?“ Ich zucke die Achseln. „Bist doch angeblich ganz gut und hast  
Kohle ohne Ende. Warum nicht ausschlagen?“  
„Mein Kollege hat den Fall angenommen.“  
„Hättest du ihn das halt machen lassen.“  
„Das ist schwierig.“  
„Ich dachte, es gibt immer einen Weg und so“, frotzle ich.  
Stumm schüttelt Amelia den Kopf und trinkt ihre Pampe. Ist immer  
verdammt leicht, so Zeug zu anderen zu sagen, was? Wird nur schwer, sobald  
man sich an die eigene Nase fassen muss.  
„Es wäre nicht das erste Mal, dass ein fremder Mann in meinem  
Schlafzimmer auf mich wartet.“  
„Dann hol dir halt Sicherheitsleute“, sage ich.  
„Die hatte ich!“, beteuert Amelia. „Niemand hat sich blicken lassen, solange  
ich sie um mich hatte. Sobald ich mich in Sicherheit wiege, kehren sie  
zurück.“  
„Ja, dann lass das doch. Bisschen Vorsicht hat noch keiner geschadet.“ Amelia  
seufzt, als wäre ich dumm. Soll sie doch von mir halten, was sie will. Geht  
mich eh nichts an. „Ziemlich ätzend alles, was?“  
„Diese Produktion ist eine neue Form der Herausforderung“, räumt sie ein.  
„Ist doch gut.“ Ich zucke die Achseln. „Haben andere was zu lachen.“  
Dieses seltsame Lächeln kehrt auf ihre Lippen zurück. „Für mich ist  
unerklärlich, wie sich jede Minute intensiver anfühlen kann als auf offener  
195  
Straße.“  
„Wir sind in dieses Ding hier gepfercht worden wie Vieh“, sage ich. „Was  
erwartest du denn, warum sich alles anfühlt, als würden wir morgen  
draufgehen?“ Ich rolle die Schultern und löffle mein Ei.  
„Nie zuvor war ich vollständig von der Außenwelt abgeschirmt“, murmelt  
Amelia.  
„War niemand, was?“ Harsch lache ich auf. „Es sei denn, man hat sich schon  
einbuchten lassen. Dann war man genau so allein wie jeder, der hier drinnen  
ist und sich besäuft.“  
Amelia gibt einen zustimmenden Laut von sich. „Der Alkoholfluss besorgt  
mich.“  
„Macht doch keiner was“, sage ich. „Sollen sie sich doch volllaufen lassen.  
Wenn sie nur dümmer werden, kümmert es mich nicht.“ Es widert mich nur  
an. Auf jeder möglichen Ebene.  
„Womöglich könnte jemand die Kontrolle über sich verlieren.“ Amelia kämpft  
sich auf die Beine und spült ihr Pampeglas aus. „Womöglich könnte eine  
Person eine andere attackieren.“  
„Wir werden gefilmt“, sage ich. „Jeder weiß das. Heul nicht rum.“  
„Ich bin besorgt.“  
Ist mehr als offensichtlich. Langsam bezweifle ich, dass Isobels Erbrochenes  
Auslöser für Amelias Geheule war. Das Mädel hat genug einen an der Waffel,  
damit sie jedem Therapeuten graue Haare wachsen lassen könnte. Wenn ich  
hinter der mit den Fingern schnippe, ohne dass sie es sieht, denkt sie doch  
bestimmt, dass jemand sie erschießen will.  
Amelia räuspert sich. „Jacob verzichtet auf Alkohol.“  
„Nicht wirklich“, sage ich. Gestern hat er nach dem Zeug gestunken wie jeder  
andere auch. „Ist vielleicht nicht ganz so durch wie alle anderen, macht aber  
gut mit.“  
„Du hast mit ihm gesprochen?“ Amelia wirkt überrascht.  
Ich zucke die Achseln. „Hat sich halt ergeben. Netter Kerl nehme ich an. Die  
Frauen lieben ihn.“  
„Dich auch.“  
„Ich bin ja auch nett.“ Das Toastbrot ist erstaunlich gut. Wahrscheinlich sollte  
ich Amelia schon allein als Partnerin behalten, weil sie kochen kann. Mehr,  
196  
als ich der kleinen Panikhexe zugetraut hätte. „Vorhin habe ich Melly die  
Haare aus dem Gesicht gehalten, während sie sich übergeben hat.“  
Amelias Brauen schießen in die Höhe. „Du?“  
„Ja, ich. Ich bin ein netter Kerl, weißt du? Ich mache was, für andere  
Menschen.“  
„Wenn du fremder Menschen Haare anfassen musst, hast du also kein  
Problem?“  
„Ich habe eh kein Problem.“  
Amelia schnauft leise und trinkt einen tiefen Schluck Wasser.  
„Ich habe kein Problem“, beharre ich. „Echt nicht.“  
„Sondern?“  
„Kein Plan. Ein Problem auf jeden Fall nicht.“ Angespannt rolle ich die  
Schultern. Wenn die mir noch eine Nacht den Schlaf rauben, gehe ich  
langsam auf dem Zahnfleisch. „Ich mag es eben nicht, Menschen anzufassen.  
Ist das so ein Problem?“  
„Menschen benötigen menschliche Nähe.“  
„Klar.“ Ich rolle die Augen. „Erzähl das deinem Plüschtier.“  
„Ich habe keines.“  
„Klar. Bist schließlich eine erfolgreiche Geschäftsfrau.“ Die Arme vor der  
Brust verschränkt, betrachte ich sie nachdenklich. „Hast du überhaupt  
irgendwas, was andere Menschen als normal bezeichnen würden?“  
„Ein Haus.“  
„Dein Haus ist nicht normal für jemanden in deinem Alter.“  
Leise seufzt Amelia. „Schlussendlich ist alles an mir ebenso gewöhnlich wie an  
jedem anderen in diesem Haus.“  
„Wahrscheinlich gewöhnlicher.“ Ich lehne mich gegen die Anrichte. „Warum  
hast du nie was an dir machen lassen? Die Kohle hättest du.“  
Amelia zögert. „Mir war nie bewusst, dass etwas an mir nicht richtig sein  
könnte.“  
„Du hast kaum Brüste“, sage ich. „Da hätte jede andere hier schon was  
gemacht.“  
Ihr schießt das Blut in die Wangen. Überrascht hebe ich die Brauen. Das juckt  
sie? Wirklich? Ob ein Kerl denkt, dass sie Brüste hat?  
197  
„Ich wollte wohl einfach nicht das Bewusstsein verlieren.“  
„Versteh ich.“ Ich setze die leere Pfanne unter Wasser. „Narkosen sind  
ätzend. Operationen noch schlimmer.“  
„Du hattest bereits eine?“  
„Eine?“ Ich dehne meinen Hals, indem ich den Kopf in den Nacken lege und  
dann langsam nach links drehe. „Fünfzig. Ungefähr.“  
„Warum?“  
„Unfälle und so.“  
„Welche Unfälle?“  
„Unfälle halt.“  
Amelia öffnet den Mund. Ich werfe ihr einen warnenden Blick zu. Einmal  
sollte sie die Klappe halten. Wenn ich mit ihr über diese Sachen reden will,  
dann tue ich es. Jetzt habe ich keinen Bock auf irgendwas der Art. Wir  
arbeiten zusammen, wir halten den Mund, wir wuppen das hier irgendwie.  
Mehr muss hierbei nicht rauskommen. Wenn ich ihr meine Lebensgeschichte  
erzähle, kennt jeder vor den Bildschirmen sie. Nichts, was ich an die große  
Glocke hängen will. Ein gestörter Penner bekommt auch keine Jobs. Wird  
höchstens bemitleidet. Ich brauche kein Mitleid. Kein verdammtes Mitleid.  
Durchgeknallte Welt.  
„Ich habe mir als Kind das Handgelenk verstaucht“, sagt Amelia schließlich.  
„Toll. Heul doch.“  
Sie presst die Lippen fest aufeinander, ehe sie sich daran macht, das Zeug  
abzuwaschen. Hätte ich auch getan. Sie macht mir Essen, ich sorge dafür,  
dass sie nicht anfängt, zwanghaft durch die Gegend zu weinen. Schweigend  
greife ich nach einem Tuch und reibe das Glas trocken und stelle es zurück in  
den Schrank. Perfekt in die Reihe. Ich sollte sie hier rausschaffen, bevor die  
anderen kommen und alles auf den Kopf stellen.  
„Es ist nicht notwendig, dass du mir gegenüber ausfallend wirst.“  
„Macht mir Spaß.“  
„Das ist bedauerlich.“  
„Heul doch.“  
Kopfschüttelnd reicht sie mir die saubere Pfanne und schüttelt sich Schaum  
und Wasser von den Fingern. „Wir sehen uns später.“  
„Was machst du?“  
198  
„Ich gehe raus.“  
„Hier geht es nirgends raus“, erinnere ich Amelia. „Wir sind in einen  
hässlichen Container gesperrt.“  
„Raus“, wiederholt sie leise. „Auf die Wiese. Ich möchte mich ein wenig  
sonnen.“  
Klar doch. Auf dem Plastikzeug. Unter den Scheinwerfern. Muss wunderbar  
erholsam sein.  
„Ich komme dann nach.“  
„Das ist nicht nötig.“  
„Will ich aber.“  
Sie hebt die Schultern. „Wenn es dich glücklich macht.“ Zögernd sieht Amelia  
mich an. „Sind wir wegen der letzten Nacht quitt?“  
Sind wir wohl. Ist nicht so, als würde ich die Welt dafür erwarten, dass ich ein  
paar Gespenster vor der Tür halte. „Passt schon.“  
„Danke.“  
„Ja, komm, hör auf mit dem Scheiß.“ Ich rolle die Augen. „Wenn ich wollen  
würde, dass du dich ständig bedankst, würde ich noch ganz andere Sachen  
machen.“  
„Was zum Beispiel?“  
Mit zusammengezogenen Brauen betrachte ich sie. „Sachen halt.“  
Kopfschüttelnd verlässt sie den Raum. Ich werfe den Kameras einen  
vorwurfsvollen Blick zu. Sollen sie sich doch daran aufgeilen, dass sie uns jede  
Sekunde beobachten können. Ich fühle mich schäbig in den Klamotten,  
während die oben langsam zum Leben erwachen. Ich höre Grölen und  
Jammern. Die Dusche ist in zwei Stunden wieder frei. Der Pool draußen wirkt  
genauso chemisch und falsch wie alles andere. Einen Teufel werde ich tun, da  
nackt reinzuspringen. Mir gehen die schweißgetränkten Sachen auf die  
Nerven wie alles andere auch. Dahinten sind die Scheinwerfer stark genug,  
um Kleidung schnell zu trocknen.  
Ich trinke was, bevor ich in Richtung Wasser gehe. Lieber zwei Runden  
schwimmen, als mich mit verkaterten Fremden um die Dusche streiten zu  
müssen.  
199  
Hitzewellen (Amelia)  
„Ihr werdet diesen Parcours nicht einfach so durchlaufen.“ Neben mir bebt  
Lad vor Anspannung. Die Schatten unter seinen Augen sind tief und zeugen  
von meinen Sorgen der letzten Nacht. Der Mann, der sich noch immer nicht  
vorgestellt hat, verschränkt die manikürten Finger auf Höhe seines  
schwarzen, glänzenden Gürtels. „Die Herren werden vom Rand aus ihre  
Partnerinnen dirigieren. Den Damen werden die Augen verbunden werden.“  
Meine Muskeln zucken leicht. Blindes Vertrauen. Lad und ich tauschen einen  
kurzen Blick. „Das Paar, das den Parcours zuerst hinter sich gebracht hat,  
gewinnt das Spiel und eine Belohnung.“  
„Heute fliegt also keiner?“, grölt Benni. Sein Grinsen ist breit und  
angetrunken.  
Der Moderator schenkt ihm ein verbindliches Lächeln, das menschlich ist wie  
diese Wiese natürlich. „Am heutigen Tag wird um eine Belohnung gespielt.“  
Die Hitze der Strahler frisst sich in meine Haut. „Die Damen werden sich  
gleich in einer Reihe aufstellen. Es ist den Herren untersagt, den Parcours zu  
betreten, um ihre Partnerin zu unterstützen.“ Es sollte simpel sein. Einige  
Seile wurden gespannt, maximal einen halben Meter über dem Boden.  
Niemand beharrt darauf, dass man sie überspringen muss. Über einen Bock  
müssen wir springen, gut einen Meter hoch, und uns über einen Wassertrog  
hangeln, den wir problemlos durchschwimmen könnten. Am Ende erwartet  
uns ein Maislabyrinth. Die Kolben reichen mir schätzungsweise bis zum Hals.  
Es obliegt Lad, den Überblick zu behalten.  
„Ist halt echt beschissen“, murmelt er leise.  
„Ich habe wenig Kraft in den Armen.“  
„Was du nicht sagst.“  
„Erst wenn ein Pfiff ertönt, dürfen alle Teilnehmer starten.“  
„Müssen die Frauen da rein?“, fragt Isobel. In Anbetracht ihres gestrigen  
Alkoholkonsums wirkt sie nüchtern. Die dunklen haare hat sie zu einem  
hohen Pferdeschwant gebändigt, der ihr markantes Gesicht zum Vorschein  
bringt. „Es wäre doch viel sinnvoller, wenn die Männer das machen. Ich  
würde nicht einmal über das Ding rüberkommen.“ Sie deutet auf den Bock.  
200  
„Bei der Bewältigung der Hindernisse sind euch als Team keine Grenzen  
gesetzt. Wichtig ist nur, dass die Herren den Parcours nicht betreten dürfen.“  
Die Tonlage des Moderators verändert sich nicht. Seine Augen bleiben starr.  
„War Isobel gestern da?“, murmle ich.  
Lad wirft mir einen verständnislosen Blick zu. „Nein. Der da.“  
„Warum wurden sie gegeneinander getauscht?“  
Er hebt eine Schulter. „Ist doch echt egal. Sind beide unheimlich.“  
Unwillkürlich stimme ich ihm zu. Als hätte man ihnen die Seele aus dem Leib  
gespachtelt und nichts als eine gehorsame Hülle zurückgelassen.  
„Gibt es noch Fragen?“ Die weißen Karteikarten hält der Moderator grinsend  
von sich, einen Arm gehoben, als wolle er die gesamte Szene umfassen.  
Kopfschütteln und Schweigen. „Dann bitte ich die Damen, sich an der Linie  
der Reihe nach aufzustellen.“  
„Geh nach links“, weist Lad mich leise an. „Ich glaube den Pennern nicht, dass  
die Verlierer keine Probleme bekommen.“  
Achselzuckend komme ich seiner Bitte nach. Die Linie besteht aus einem  
weißen Seil, das in das grelle Gras gebettet wurde. Der Moderator reicht uns  
Tücher. Es sind die Herren, die hinter den Kameras stehen, die hervortreten,  
in Schwarz gekleidet, schattenhaft, die uns den Stoff um die Augen schlingen  
und mich in niederschmetternde Finsternis tauchen. Ich höre sie. Das  
Mädchen neben mir, das aufgeregte Reden der Männer. Kühle Finger streifen  
meinen Nacken und ich schaudere.  
„Das Ding sitzt“, höre ich Lad harsch sagen. „Kein Grund, ihr den Hals  
umzudrehen.“ Ich beiße mir auf die Zunge. Mitglieder der Produktion wären  
fähig, jeden Raum zu betreten, ganz gleich ob man ihn zuvor verschlossen  
hat.  
Das wäre zu simpel.  
In einigen Fällen ist der einfachste Weg der richtige.  
Schaudernd schließe ich die Augen. Gefangen in meinem Körper verharre ich  
und warte darauf, dass der hohe Pfeifton ertönt. Er bleibt aus. Ich meine,  
Melly kichern zu hören und Isobels beißendsüßes Vanilleparfum zu riechen.  
Meine Zehen prickeln. Die Atmung geht schwer.  
Die Hitze der Scheinwerfer treibt mir den Schweiß auf die Stirn und ich  
verstaue die Hände in den Taschen meiner Hose. Solange niemand sieht, dass  
201  
sie unkontrolliert zittern, fühle ich mich am wohlsten. Jemand scheint näher  
an mich heranzutreten. Jeder meiner Muskeln verkrampft sich. Ich vibriere,  
wo ich stehe. Blind bin ich hilflos. Ich will schreien. Ich will dieses Spiel für  
beendet erklären und mich unter einem fremden Bett verstecken.  
Der hohe Pfeifton. „Fünf Schritte geradeaus“, höre ich Lad sagen. Bis zu dem  
Labyrinth sind seine Anweisungen überflüssig. Jedes Detail habe ich mir  
eingeprägt, jede Biegung, jede mögliche Schwierigkeit. Fröhliches Kreischen  
und gebrüllte Anweisungen schwellen zu einem erdrückenden Tumult an.  
„Zwei Schritte nach links“, sagt Lad. Überrascht runzle ich die Stirn. Exakt. Er  
bemisst die Strecke nicht mit seinen eigenen Maßstäben. Er nutzt meine,  
automatisch. „Ducken.“  
Ich lasse mich auf den Bauch sinken und schiebe mich unter dem Hindernis  
hindurch. Das Rufen blende ich aus, das Rempeln auch. Lads Stimme ist mein  
Leuchtfeuer, das mich durch die finsterste Nacht leitet. „Sieben Schritte nach  
vorn, dann drei nach rechts. Leicht stumpfer Winkel.“  
Meine Mundwinkel zucken. Seine Anweisungen gefallen mir. Knapp, sachlich,  
keine Sekunde hebt er die Stimme. Ich fühle mich an die Hand genommen  
und sicher, während ich nach vorn gehe, dann nach rechts. „Da musst du  
gleich rüber. Es müssen so um die zehn Schritte gerade aus sein.“  
Der Bock. Ungefähr einen Meter hoch. Ich war gut im Turnen. Mit Schwung.  
„Jetzt oder in zwanzig Sekunden.“  
Ich entscheide mich für das Jetzt. Der Moderator spricht und ich verstehe  
kein Wort. Die Hände habe ich von mir gestreckt. Als sie das raue Leder zu  
fassen bekommen, springe ich und stemme mich in die Höhe. Meine Muskeln  
arbeiten.  
Ich komme zum Stehen und warte auf den nächsten Hinweis.  
„Knapp vier Schritte nach links“, sagt Lad. „Dann zwei nach vorn und sieben  
nach rechts.“ Er erfragt nicht, ob ich in der Lage bin, mir seine Anweisungen  
zu merken. Sie fressen sich in mein Bewusstsein und nehmen mich an die  
Hand. Während das künstliche Gras unter meinen Sohlen knistert, meine ich  
meinen Sehsinn zurückzuerlangen.  
„Kannst du hangeln?“  
Ich schüttle den Kopf.  
202  
„Dann wirst du dich nass machen müssen. Ich kann die Tiefe nicht  
einschätzen, aber es müssten um die zwölf Schritte sein.“ Wann? Er scheint  
meine stumme Frage zu hören. „Noch zwei Schritte. Jetzt.“  
Ich mache mich bereit für die Kühle des Wassers. Es frisst sich in den Stoff  
meiner Hose und ich gehe unter. Keuchend kämpfe ich mich zurück an die  
Oberfläche. „Gut. Ich habe keine Ahnung, wie viele Züge das sind. Ich gebe  
dir Bescheid, wenn es noch ein halber Meter ist.“ Blind schwimme ich. Selten  
habe ich Lad ruhiger erlebt und fokussierter. Wir gehen Stück für Stück,  
Meter für Meter Seite an Seite, ohne dass er die gleichen Gefilde wie ich  
betritt.  
„Gleich musst du raus.“  
Die Kühle des Wassers ist zu angenehm, um sie so bald schon zu missen. Eine  
gestohlene Sekunde sauge ich in mich auf, dann stütze ich mich auf den Rand  
und kämpfe mich zurück auf die Wiese.  
„Zwanzig Schritte geradeaus“, sagt Lad. „Du wirst dabei gegen den Rand  
stoßen, aber dieses Zickzacklaufen ist Schwachsinn.“ Erst streift meine linke  
Wade die Absperrung, dann meine rechte. „Jetzt wird es interessant. Es sieht  
aus, als wären es immer ungefähr zwei Schritte. Versuch es zuerst mit links,  
links, links, rechts.“  
Ich folge seiner Anweisung. Blätter kitzeln an meinen Armen und der  
intensive Geruch von Pflanzen steigt mir in die Nase. Niemanden außer ihm  
höre ich. Niemanden außer ihm nehme ich wahr. Er schenkt mir eine ähnliche  
Sicherheit wie in der letzten Nacht.  
„Lass mich kurz nachdenken.“ Ich verharre regungslos. „Versuch mal vier  
nach vorn zu machen, einen nach links, sechs nach vorn, einen nach rechts.“  
Ich komme seiner Bitte nach. Winzige Zweige stechen in meine Wange.  
„Das ist gut“, sagt Lad. „Vier nach links, dann vier nach vorn.“  
Blind vertraue ich ihm.  
„So. Das lief doch gut. Siebzehn nach vorn, dann haben wir es. Stress dich  
nicht. Ist eh kein anderer da.“  
Unwillkürlich lächle ich. Seine Blicke ruhen auf mir und ich spüre jeden  
Funken seiner Aufmerksamkeit.  
203  
„Soll sie den Buzzer drücken?“, höre ich Lad fragen. Die Antwort des  
Moderators höre ich. Meine gesamte Wahrnehmung habe ich auf einen  
Mann konzentriert und der besitzt Lads Stimme.  
„Einen Schritt nach links, dann heb den Arm auf Schulterhöhe und mach noch  
einen halben Schritt vor.“  
Ich gehorche.  
„Und drücken.“  
Eine glatte, erhitzte Plastikoberfläche schmiegt sich an meine Haut. Ein  
brüllender, kreischender Ton erklingt. Ich fahre zusammen und verharre an  
Ort und Stelle. Die nächste Anweisung? Lad jubelt nicht, ich ebenso wenig.  
Seine Stimme bleibt verschwunden.  
„Lad?“  
„Klar. Komm her.“ Komm her?  
„Wohin?“  
„Sieben Schritte nach links halt.“  
Mit der Hüfte stoße ich gegen einen Pfeiler, dann kann ich mich frei  
bewegen. Sieben Schritte.  
„Ja, komm, reicht. Musst mir nicht um den Hals fallen oder so.“  
Eine tiefe Zufriedenheit ruht in seiner Stimme. Unwillkürlich hebe ich die  
Mundwinkel und drehe ihm den Rücken zu. Er soll das Tuch entwirren. Lad  
rührt sich nicht. „Wart mal noch. Keinen Schimmer, ob nicht erst alle  
ankommen müssen.“ Das Herz donnert mir in der Brust.  
„Du wirst es mir abnehmen“, bitte ich Lad.  
„Von mir aus.“  
„Danke.“  
„Ja, ist schon gut. Musst nicht immer Danke und so sagen.“  
„Gut.“  
„Ja, lass halt.“ Die Luft zwischen uns scheint vor Anspannung zu vibrieren. Sie  
verzehrt uns beide, ist bitter und gefährlich wie jede Hitze, die sich zwischen  
zwei Menschen stehlen könnte. Er räuspert sich und ich glaube, seine  
Körperwärme durch mein klammes Oberteil hindurchzuspüren. „Kanntest du  
den Kerl?“  
„Welchen?“  
„Der, der dir die Augen verbunden hat?“  
204  
„Ich konnte ihn nicht sehen.“  
„Sah durchgeknallt aus.“  
Mir schnürt sich die Kehle zu. „Es ist fahrlässig, in jedem Menschen eine  
Gefahr zu sehen.“  
„Ach.“  
Kreischender Jubel ertönt. „Und auch die Letzte ist über die Linie gestolpert.  
Ist ja toll“, murmelt Lad.  
„Unser Siegerpaar steht fest!“, ruft der Moderator. Zwar hebt er die Stimme,  
der Tonfall bleibt gleich. „Zuerst ins Ziel gekommen sind Amelia und Lad.“  
Eine schwierige Formulierung in Anbetracht dessen, dass Lad sich kaum von  
der Stelle gerührt hat. „Auf diese beiden wartet heute Abend eine prickelnde  
Überraschung.“  
„Wenn die uns Schnaps geben, zertrümmere ich denen die Kameras“,  
murmelt Lad.  
Wäre es mir möglich, würde ich ihn vorwurfsvoll ansehen. Nur, weil ein  
Geschenk nicht gefällt, raubt es der Geste nicht die Bedeutung.  
„Ihr dürft die Augenbinden nun wieder abnehmen.“  
Mein Haar ziept. Ich verkrampfe mich, während das Tuch gegen meine  
geschlossenen Lider gepresst wird. Gleißendes Licht. Geblendet blinzle ich.  
„Für alle außer Amelia und Lad werden die Zuschauer heute Abend eine ganz  
eigene Überraschung bereithalten.“  
„Sag ich doch“, murmelt er.  
„Jedes der übrigen Paare kann nun getauscht werden, da Nicolaus und Mini  
aktuell ohne offiziellen Partner auskommen müssen.“ Mini, die zierliche,  
brünette Frau mit dem breiten Lächeln. Nicolaus, der durchtrainierte Hüne  
mit der sonnengeküssten Haut. Zwei weitere Namen zu zwei Gesichtern. Der  
Moderator lächelt mechanisch. „Während Lad und Amelia ihren Abend  
gemeinsam genießen, werdet ihr anderen einen neuen Partner zugewiesen  
bekommen.“  
„Und wegen so einem Scheiß wollte ich gewinnen.“  
Ich gebe einen zustimmenden Laut von mir. In Lads Händen liegt das Tuch.  
Einige meiner Haare baumeln daran, unsanft herausgerissen.  
Um uns herum bricht Getuschel los.  
205  
„Was, wenn ich nicht will?“ Benni lacht auf. „Ich mag meine Partnerin. Ich will  
sie behalten!“  
„Die Zuschauer werden dir richtige Entscheidung treffen“, sagt der  
Moderator. „Am Abend wird Ilona euch die neuen Paarungen verkünden.“  
Benni schiebt sich beide Zeigefinger in die Mundwinkel und gibt einen  
scharfen Pfeifton von sich. „So ein Schwachsinn!“  
„Das sind die Regeln“, sagt der Moderator unberührt.  
„Dann schreibt sie halt um.“  
Er geht nicht weiter auf Bennis Proteste ein. „Genießt die letzten Stunden mit  
eurem aktuellen Partner, meine lieben Glückssuchenden. Heute Abend wird  
getauscht.“  
Ich drehe mich halb zu Lad um. Seine Mundwinkel hängen tief, die Schatten  
unter seinen Augen wirken dunkel. „Gewinnen scheint hier die einzige  
Möglichkeit zu sein, nicht völlig unterzugehen“, murmelt er. Ich weise das  
nicht von der Hand.  
„Ist das bescheuert!“ Mellys Wangen sind rot. Dunkle Striemen ziehen sich  
über ihre Oberarme. „Es kann doch nicht deren Ernst sein, dass sie jeden  
bestrafen, der nicht gewinnt.“  
„Sie eröffnen euch neue Möglichkeiten“, sage ich sacht. „Dir wird die Chance  
gegeben, jemand Neuen nah kennenzulernen.“  
„Will ich vielleicht nicht?“ Melly verschränkt die dünnen Arme vor ihrer Brust.  
„Sowas hasse ich. Ich dachte immer, ich könnte das gut einkalkulieren, wenn  
ich selbst in so einer Show sind, aber die machen das ja einfach! Die machen  
das aus heiterem Himmel. Da hat niemand was mitzureden.“  
„Wahrscheinlich sind wir ihnen einfach zu langweilig“, spuckt Lad.  
Melly wirft ihm einen vernichtenden Blick zu. „Du vor allem.“  
„Vergiss nicht, wer dir die Haare gehalten hat.“  
Sie rollt die Augen. Ich räuspere mich und schlinge die Arme um meinen  
Oberkörper. Das Shirt ist feucht und klamm und hält einen Großteil der  
unerträglichen Hitze fern von mir. Hinter den Kameras kommen die Männer  
hervor und machen sich daran, den Parcours verschwinden zu lassen. Ich  
suche nach der Statur, die ich in der Nacht zu sehen glaubte. Nach dem  
muskulösen Körperbau, dem schlanken, entschiedenen Auftreten. Ich finde  
es nicht.  
206  
„Was starrst du so?“  
„Ich starre nicht.“ Verkrampft wende ich den Blick ab und schenke ihm ein  
mattes Lächeln.  
„Willst du mir das ewig vorhalten?“, schimpft Melly, als hätte Lad nie das  
Wort an mich gerichtet. „Mir war übel. Du warst da und ich wollte mir nicht  
in die Haare kotzen.“  
„Weniger trinken.“  
„Ja, Gott, wir sind hier nicht in der Kirche oder so. Man kann auch päpstlicher  
sein als der Papst.“ Verärgert wedelt sie mit ihrer zerkratzten Hand. „Das hier  
war die dümmste Aufgabe überhaupt und natürlich gibt es die dümmste  
Bestrafung!“  
„Es ist keine Bestrafung“, beharre ich. „Es ist eine Chance.“  
„Du musst dich ja nicht wieder umstellen. Du behältst ja den gleichen Typ,  
der immer noch nicht zur Wahl steht.“  
„Niemand möchte ihn tatsächlich als Partner haben“, sage ich.  
Lad schnauft und verschwindet. Die wohl beste Entscheidung in dieser  
unglücklichen Situation. „Es ist eine Chance.“  
„Weißt du was?“, fragt Melly spitz. „Zwischen Benni und mir fing gerade an,  
sich was zu entwickeln. Und schon werden wir wieder auseinandergerissen!“  
„Ihr schlaft weiterhin im selben Raum.“  
„Aber nicht mehr im gleichen Bett“, jammert Melly. „Er ist süß, okay? Er ist  
richtig süß und das wird jede sehen, die länger als ein paar Minuten mit ihm  
zu tun hat.“  
„Womöglich ist Eifersucht genau das, was sich die Produktion erhofft.“  
„Aber doch nicht meine Eifersucht!“, jammert Melly. „Ich habe mich für  
dieses Spiel total zerkratzt und jetzt das.“ Kaum merklich zittern ihre Finger,  
als sie die Hände von sich hält. „Dieses Labyrinth war bescheuert und ich bin  
beim Hangeln ins Wasser gefallen und gegen dieses doofe Gerät gerannt. Ich  
wäre sogar fast über das Seil gefallen!“  
„Das tut mir leid.“  
„Du siehst aus, als wäre gar nichts.“ Schniefend wischt Melly sich über die  
Nase und lässt sich achtlos auf die Wiese fallen. Nach kurzem Zögern tue ich  
es ihr gleich. Die Scheinwerfer strahlen unbarmherzig. „Ihr seid bei diesen  
207  
Spielen immer so gut.“  
„Es waren erst zwei“, versuche ich Melly zu besänftigen.  
„Ja. Und ihr wart bei beiden die besten.“  
„Zufall“, sage ich.  
Melly lacht leise auf. „Komm, du bist hyperintelligent und er wahrscheinlich  
auch. Solange wir die anderen nicht mit Torte abwerfen müssen, werdet ihr  
immer gewinnen. Man sieht es ja sogar hier!“  
Seufzend verknote ich die Beine zu einem Schneidersitz. „Benni ist nicht aus  
der Welt.“ Dieses Gespräch ist an Absurdität kaum zu übertreffen. Ohne  
Ablenkung befinden wir uns alle auf engstem Raum und Sorgen kommen auf,  
den anderen aus den Augen verlieren zu können. Unwirklich. Irrational.  
„Ich will ihn einfach“, murmelt Melly. „Hast du ihn dir mal angesehen? So  
jemanden findet man draußen nirgends. Er ist witzig, er ist heiß, er ist groß.“  
Geistlos. In erster Linie geistlos. Schniefend lehnt Melly sich zu mir. „Er hat  
mir gestern Nacht gesagt, dass er sich in mich verliebt.“  
Mühsam halte ich mein Gesicht neutral. Zwei Tage. Sie kennen einander seit  
zwei Tagen. „Das sind grandiose Neuigkeiten!“, rufe ich aus und falle ihr um  
den Hals. Mellys Kleidung ist nass wie meine eigene. „Warum sorgst du dich  
denn noch?“  
„Er war betrunken!“, ruft Melly aus. „Er ist immer betrunken. Wir sind alle  
immer betrunken. Seit Tag eins!“  
Seit zwei Tagen. Ich rolle leicht den Kopf. „In diesem Fall könntet ihr  
versuchen, ein nüchternes Gespräch zu beginnen.“  
„Aber er ist doch schon wieder betrunken.“ Große Tränen stehen Melly in  
den Augen. „Er hat die ganze Zeit über Links und Rechts miteinander  
verwechselt. Ich wette mit dir, das wäre Lad nicht passiert.“  
„Lad war sehr fokussiert“, sage ich vage.  
„Ja! Weil er genau wie du ein absolutes Genie ist.“  
„Das bezweifle ich.“  
„Ist er. Sieh ihn dir doch an.“ Melly deutet quer über die Wiese. Ich  
verkrampfe mich. Er spricht mit Jacob. Die beiden wirken vertraut. „Wie er da  
steht, wie er sich bewegt, wie er redet.“  
208  
Ich räuspere mich. „Welches Spiel würdest du dir für die Zukunft wünschen?“  
Melly rollt die Augen. „Keins, bei dem ich mir alles zerkratze. Sieh mich doch  
an.“  
Schief lächelnd betrachte ich sie. „Du siehst umwerfend aus.“  
„Dieses Labyrinth hat mir alles zerkratzt. Benni kann einfach links und rechts  
nicht voneinander unterscheiden!“  
„Das nächste Mal wird es besser.“  
„Das nächste Mal ist mir egal.“ Schniefend presst sie sich das Handgelenk  
unter die Nase. „Heute war es einfach nur bescheuert.“  
Verunsichert ziehe ich ein Knie an die Brust. „Was erwartest du von mir?“  
„Von dir?“ Schluchzend lacht sie auf. „Gar nichts! Ich will einfach, dass das  
zwischen mir und Benni so perfekt wird wie zwischen Lad und dir.“ Mit Mühe  
halte ich meine Miene starr. „Ihr seid das perfekte Paar, ihr gewinnt seit Tag  
eins an jedes Spiel, ihr seid einfach perfekt füreinander.“  
„Wir durften uns bisher lediglich zwei Spielen stellen“, rufe ich Melly in  
Erinnerung.  
„Aber seit Tag eins gewinnt ihr!“ Hysterisch beginnt sie zu schluchzen. Die  
Kratzer an ihren Oberarmen bluten leicht. „Seit Tag eins.“  
„Wir befinden uns erst den dritten Tag am Set.“  
„Aber seit Tag eins seid ihr perfekt füreinander.“  
„Du und Benni, ihr doch auch.“  
„Uns werden sie aber auseinanderreißen! Ihr beide habt eine romantische  
Nacht und ich verliere meinen Benni.“  
„Er bleibt hier.“  
„Aber er liebt dann eine andere!“  
Flehend drehe ich mich in Lads Richtung um. Er ist verschwunden. Jacob  
auch. Schaudernd ziehe ich nun auch das zweite Knie an die Brust. Hin und  
wieder geschehen Dinge, die nicht hinterfragt werden sollten.  
„Das wird er nicht“, murmle ich. „Wenn Benni dir gesagt hat, dass er dich  
mag, wird das stimmen.“  
„Und wenn nicht? Was wenn nicht? Hier sehen alle unglaublich gut aus.“  
„Er hat sich mit Sicherheit nicht nur in dein Äußeres verliebt“, sage ich. Lad  
befindet sich in Jacobs Nähe. Jacob scheint mich zu verabscheuen wie nur  
wenige.  
209  
„Was wenn doch? Wir kennen uns doch kaum?“ Melly schluchzt theatralisch.  
„Deswegen bin ich betrunken. Damit ich das Leben einfach nur genießen  
kann und mir nicht über diese Dinge Sorgen machen muss.“  
„Er mag dich bestimmt.“ Es ist nicht beunruhigend, wenn zwei Teilnehmer  
einer Show im Rahmen der Show Zeit miteinander verbringen. Ich räuspere  
mich. Lad verabscheut betrunkene Menschen. Abgesehen von mir scheint  
Jacob der einzig Nüchterne zu sein.  
„Und wenn nicht?“ Mellys Augen werden rot von den Tränen. „Ich hatte  
schon so viele Beziehungen und sie haben alle nicht geklappt, weil ich keinem  
von denen je gefallen habe. Entweder meine Brüste waren zu klein oder die  
Lippen zu dünn oder mein Po zu klein oder ich hatte diese furchtbaren  
Dehnungsstreifen an den Beinen.“ Angestrengt reibt sie sich über die  
Oberschenkel. „Ich würde alles für meinen Freund tun. Ich würde alles für  
Benni tun.“ Flüssigkeit rinnt Melly zähflüssig aus der Nase. Ich habe kein  
Taschentuch bei mir. „Du kennst das doch auch, oder? Du würdest doch auch  
alles für deinen Freund tun.“  
„Ja.“ Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange. Im Zweifel. Wenn mir  
nichts anderes mehr bliebe.  
„Ich habe mich für alle verändert und es war nie gut genug und jetzt bin ich  
hier mit Benni und er ist umwerfend und sie nehmen ihn mir weg!“  
„Noch haben die Zuschauer dir keinen neuen Partner zugeteilt.“  
„Aber das werden sie!“, schimpft Melly. „Das werden sie mit Sicherheit. Ich  
spüre das. Ich sehe das! Das werden sie.“  
Ich beiße mir auf die Lippe. „Du hast die Operationen vornehmen lassen, um  
deinen Exfreunden zu gefallen?“, vergewissere ich mich.  
Schniefend nickt Melly. „Natürlich! Das macht man doch so. Sie sind mit mir  
ausgekommen und ich habe es ihnen leichter gemacht, mich zu mögen.“  
Mühsam suche ich die richtigen Worte und finde keine. „Wenn Benni dich  
nicht liebt, wie du bist“, sage ich schließlich nur, „hat er dich nicht verdient.“  
Augenrollend lacht Melly auf und wischt sich die Tränen von den Wangen.  
„Das, mit diesem einfach lieben, das ist ein Mythos. Männer sind nie treu und  
Frauen sind nie genug. So ist die Realität. Wir sollten uns damit abfinden.“  
„Die Realität wird, wie wir sie uns schaffen.“  
„Schatzi.“ Melly richtet sich etwas auf. „Ich habe zwölf Exfreunde. Jeder von  
210  
denen hat mich betrogen und für keinen von denen war ich gut genug, egal  
was ich getan habe. Glaub mir einfach.“  
Ich schlucke jede mögliche Antwort hinunter. Das ist nicht der richtige  
Zeitpunkt für Diskussionen dieser Art. „Wenn es mit dir und Benni sein soll,  
wird man euch wieder wählen“, sage ich.  
Heiser lacht Melly. „Du hast leicht reden. Du behältst Lad. Und Lad ist dir treu  
ergeben.“  
Unter keinen Umständen. Böte sich ihm eine erträgliche Alternative, setzte er  
alles daran, mich fern von diesem Set zu wissen. Er würde nicht an meiner  
Seite stehen, nicht hinter mir. Ich bin ein Mittel zum Zweck für ihn, eine  
Sprosse der Leiter, mit der er die glitzernde Kuppe des Berges erreichen will.  
Für seine fadenscheinige Version des Glücks.  
211  
Post (Kyra)  
Fluchend zerpflücke ich jede, einzelne, verdammte, verräterische, mich  
verhöhnende, verfluchte Seite. „Ich unterzeichne doch keinen Vertrag für ein  
ganzes Jahr ohne zu wissen, wo die mich noch hinschicken wollen“, schimpfe  
ich unter Lyras desinteressierten Blicken. „Ich bin doch nicht bescheuert.  
Dafür habe ich mir einen ganzen Tag um die Ohren gehauen? Wirklich?“  
„Pudding?“ Mit einem halben Lächeln bietet sie mir das zweite Schälchen an.  
Normalerweise ja. Jetzt gerade? „Wer unterzeichnet bitte so einen Vertrag?“  
„Menschen, die dringend berühmt werden möchten.“  
„Und wie kommen die darauf, wie kommen sie nur auf diese dämliche Idee,  
dass sie mich jetzt noch haben könnten. Jetzt? Mich! Als dritte Wahl.“ Ich  
trete gegen die Tonne und der Deckel schließt sich krachend. „Da sitze ich  
lieber jeden Abend auf dem Sofa, mäste mich mit Chips und fühle mich fett,  
als als vierte Wahl da reinzukommen und direkt wieder rausgewählt zu  
werden, weil mich niemand kennt. Wenn ich nicht gewinne, bekomme ich  
nicht einmal eine Gage. Keine Aufwandsentschädigung, glaubst du das?“  
Seufzend löffelt Lyra ihren Pudding.  
„Man muss doch total hirnrissig sein, bei sowas mitzumachen. Das ist doch  
locker nicht legal.“  
„Es war auch dein Traum.“  
„Mein Traum?“ Schallend lache ich auf. „Nein. Nein, nein, nein. Mein Traum  
war es, aus diesem dämlichen Trott auszubrechen. Mein Traum war es, dass  
ich endlich mal was Neues erlebe und nicht immer nur lerne, lerne, vorgebe  
zu lernen und lerne. Ich wollte nie meine Seele an einen Sender verkaufen für  
keine Gage.“  
„Du musst etwas falsch verstanden haben.“  
Ich bin kurz davor, die Schnipsel aus dem Müll zu pflücken, wieder  
zusammenzufügen und Lyra unter die Nase zu halten.  
„Glaub mir, ich habe alles, wirklich alles daran richtig verstanden. Alles!“  
Kopfschüttelnd setze ich mich auf den Boden neben Lyra und werfe einen  
giftigen Blick in ihre Richtung. „Die haben mich einen ganzen Tag da auf  
ihrem beschissenen, stinkenden Teppich sitzen lassen, wollten, dass ich vor  
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ihnen strippe, haben erwartet, dass ich keine Ahnung was mache und das ist  
der Dank?“  
„Du warst klug genug, nichts davon zu tun“, murmelt Lyra. „Wahrscheinlich  
wussten sie, dass du nicht unterschreiben würdest.“  
„Deswegen senden sie mir das Ding zu? Das ist doch völlig hirnrissig! Ich  
hätte damit an die Presse gehen können. Weißt du, was dann passiert wäre?“  
Ich gebe Lyra keine Zeit, um zu antworten. „Chaos. Die wären erledigt! Keiner  
würde da mehr hingehen.“  
„Es gibt genug Menschen, die davon träumen, für ein Jahr im Fernsehen zu  
sein“, murmelt sie.  
„Davon träumen?“ Ich bin kurz davor hysterisch zu kichern. „Das ist ein  
Knebelvertrag. Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, unterschreibt  
sowas. Niemand, der auch nur etwas vernünftig ist, setzt darunter seine  
Unterschrift. Wie verzweifelt muss man sein?“  
Den Löffel halb zum Mund geführt, verharrt Lyra. Langsam lässt sie die Hand  
zurück Richtung Glasschüssel sinken. „Sehr verzweifelt.“  
„Oder man kann einfach nicht lesen.“  
„Amelia weiß bestimmt, wie so ein Vertrag aufgebaut sein darf.“  
„Die klagt sich da locker raus und bekommt am Ende eine Entschädigung, von  
der sie sich ein zweites Schloss bauen kann“, spotte ich. „Um die mache ich  
mir gar keinen Kopf. Ich frage mich, wie alle anderen so dämlich sein  
konnten, da zu unterschreiben. Lesen die nicht? Wollen die sterben? Wie  
läuft das? Läuft da überhaupt noch was oder sind die einfach alle total  
durchgeknallt und verzweifelt und wissen nicht, wofür es sich lohnt, so einen  
Mist zu verzapfen?“  
Lyra zögert einen Moment. Schwer seufzend isst sie ihren Pudding. „Was  
macht dich wütend? Dass du keine Gage bekommst?“  
„Dass die sich hiermit die Sicherheit holen, dass sie mich für ein Jahr lang in  
jedes Format stecken können. Ich denke, es geht nur um seichtes  
Rumgeknutsche und plötzlich“, wirr wedle ich mit den Händen, „soll ich  
jemanden umbringen. Du hast diese gruseligen Moderatoren doch gesehen.  
Das passiert garantiert.“  
„Du überdramatisierst“, murmelt Lyra.  
213  
„Ich bin schockiert!“ Theatralisch schlage ich beide Hände über meinem  
Herzen zusammen. „Ich bin einfach nur schockiert, hörst du? Ich kapiere  
nicht, wie man so verdammt dreist sein kann.“  
„Solltest du für mehrere Wochen Teil der Show sein, kannst du dir den  
Lebensunterhalt über Social Media finanzieren“, murmelt Lyra. „Die  
Einschaltquoten sind unerklärlich hoch.“  
„Wahrscheinlich, weil jeder darauf wartet, dass mal was passiert. Liebe und  
Abenteuer! Das sollte das doch sein. Aber die? Die knutschen nur rum und  
wackeln mit den Ärschen und besaufen sich und ich kann mit gutem  
Gewissen nicht einmal mitmachen. Sowas war mein Traum seit Ewigkeiten  
und ich muss ihn ausschlagen, weil das alles nicht fair ist. Verstehst du, wie  
beschissen sich das anfühlt?“  
„Du hast Perspektiven“, murmelt Lyra. „Die meisten, die sich dort befinden,  
können von diesen Perspektiven nur träumen.“  
„Toll! Super! Diese Perspektiven machen die Sache ja auch gar nicht noch  
ärgerlicher.“  
Geräuschvoll stellt Lyra die leere Schüssel ab. „Unterschreib, wenn du diese  
Show so dringend möchtest.“  
„Ich verpflichte mich doch nicht für ein Jahr.“ Augenrollend lege ich den Kopf  
in den Nacken. Unsanft schlägt er gegen das Holz der Küchenschränke hinter  
mir. Fluchend reibe ich über die pochende Stelle. „Wissen die da drin, wofür  
sie unterschrieben haben?“  
„Amelia mit Sicherheit.“  
„Und die anderen? Haben die sich das nicht durchgelesen?“  
„Das Honorar ist horrend“, murmelt Lyra. „Womöglich hat man ihnen nur  
gesagt, womit sie entlohnt werden und dieses eine, wichtige Detail  
ausgelassen.“  
„Klar.“ Ich schnaufe. „Der, der das Ding gewinnt, der geht ja fast als Millionär  
da raus.“  
Nickend steht Lyra auf und greift nach ihrer Zettelwirtschaft. „Das wird für  
Viele ein Anreiz sein. Außerdem wartet die Aufmerksamkeit der Social Media-  
Anhänger auf sie, sobald sie dieses Format verlassen.“  
Ich atme tief durch und versuche mich krampfhaft zu sammeln. „Man  
unterschreibt für verschiedene Formate“, sage ich schließlich. „Man  
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unterschreibt nicht nur für Saufen und Knutschen und pinke Kleidchen. Man  
unterschreibt für Dinge, die nicht näher ausgeführt werden.“  
„Das ist bestimmt anfechtbar“, murmelt Lyra.  
„Und wenn nicht? Was, wenn die damit durchkommen? Was, wenn es nicht  
bei der seichten Unterhaltung bleibt? Kannst du dir vorstellen, dass die ein  
Jahr lang nur den Quatsch abziehen? Ich nicht.“  
Stirnrunzelnd betrachtet Lyra mich. „Du hast zu viel Trivialliteratur gelesen.“  
„Genau.“ Ich schnaufe. „Genau. Das wird es sein. Es ist nicht alles total  
seltsam an dem Zeug, ich habe einfach die falschen, unwichtigen Bücher  
gelesen.“  
„Immerhin weißt du, dass du in Frage gekommen wärst.“  
„Als zwanzigtausendste Wahl!“, rufe ich aus. „Würdest du das wollen?“  
„Ich wäre an nichts davon interessiert.“  
„Klar. Du kannst es ja auch kaum erwarten, den ersten alten Männern ihre  
Pickel auszudrücken.“  
Lyra schweigt. Ich trete schwungvoll gegen den Müll. Sollen sie doch glücklich  
damit werden. Sollen sie sich doch alle daran aufgeilen, dass man sie  
tagtäglich über den Bildschirm blödeln sieht. Die haben für ein Jahr  
unterschrieben und die Produktion wäre dämlich, sie alle einfach so gehen zu  
lassen. So viele Idioten kann es nicht geben, die so einen Vertrag annehmen.  
Da muss man die halten, die keinen zweiten Gedanken an die Konsequenzen  
verschwenden und nur das Geld vor Augen haben.  
Fluchend greife ich nach der noch vollen Puddingschüssel und nehme mir  
einen Löffel aus der Schublade. Während ich das süße Zeug in mich  
hineinstopfe, klicke ich mich willkürlich durch die App und wähle  
irgendwelche Paare, die mich eh nicht interessieren. Lad und Amelia stehen  
nicht zur Auswahl. Natürlich nicht. Wäre ja auch zu verdammt lustig gewesen,  
sie beiden zur Verzweiflung zu treiben.  
215  
Lügen über Lügen (Ladislav)  
Der Raum wirkt groß und die Kameras scheinen auf die Badewanne und das  
Bett konzentriert zu sein. Kleine Falten graben sich in Amelias Stirn. Ihr Blick  
tastet das ganze Chaos hier ab. Die brennenden Kerzen, den kaltgestellten  
Sekt, das Obst und das Fischzeug. Wer was anderes als Flundern essen will,  
scheint hier verdammt falsch zu sein.  
„Die Kameraeinstellung wirkt lückenhaft“, murmelt sie.  
Ich werfe einen Blick in die nackte Betonecke, die ziemlich sicher außerhalb  
des Fokus liegt. „Tja, Boden oder Bett.“  
„Boden.“  
„War klar. Du hast die letzten Nächte ja auch durchgepennt.“ Fluchend sehe  
ich mich um. „Wasser gibt es nicht, was?“  
Amelia dreht den Hahn der Badewanne auf.  
„Gleicher Scheiß wie immer“, murmle ich. „Die sehen, dass wir nicht saufen.  
Was soll der Dreck?“  
Seufzend greift sie nach einem der weißen Kissen und setzt sich in den toten  
Winkel. Ich lösche die Kerzen. Das Flackern bereitet mir Kopfschmerzen.  
„Es ist hübsch“, sagt Amelia.  
„Toll. Sieht aus, als wollten die uns unbedingt knutschen sehen.“ Ich nehme  
mir die Decke und schleife sie zu Amelia. Große Bilder werden die von uns  
nicht zu sehen bekommen. „Was denken die sich? Dass wir hier eine  
Hammershow abliefern?“  
„Vermutlich erhoffen sie es sich.“  
„Hätten sie uns halt nicht gewinnen lassen dürfen.“ Knapp hebe ich die  
Schultern und kauere mich gegen die Wand. Gut kühl. Hier stinkt es nach  
dem Kerzenqualm und irgendeinem Rosenzeug. Besser als billiges Parfum.  
Amelia räuspert sich. „Danke.“  
Fragend sehe ich sie an.  
„Für deine helfende Hand bei dem Spiel.“  
„Wollte halt gewinnen.“ Ich zucke die Achseln. „Hast es schon auch gut  
gemacht.“  
„Danke dir.“ Sie räuspert sich. „Während dieser Herausforderung wirktest du  
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selten geerdet.“  
„Und?“  
„Das hat mich beruhigt.“  
„Schön für dich.“ Abwehrend verschränke ich die Arme vor der Brust. Sie soll  
gar nicht erst auf die Idee kommen, sich an mich zu lehnen. „Wir waren ganz  
gut, wir haben gewonnen und jetzt ist auch gut. Ich will pennen.“  
Ein winziges Lächeln stiehlt sich auf Amelias Lippen. „Hast du den Vertrag  
wirklich nicht gelesen?“  
Dass die mit dem Zeug nicht einfach mal hinter den Berg halten kann. „Es  
juckt mich nicht, was drinsteht“, sage ich. „Nehmen wir mal an, du hast  
Recht, dann gewinne ich halt. Ist jetzt auch nicht so bescheuert.“  
„Du hast dich für ein Jahr verpflichtet“, sagt Amelia. „Das haben wir beide.  
Für dieses Format und folgende Produktionen, die in diese eingebettet  
werden.“  
„Heißt wohl, dass du dir irgendwann die Lippen wundküssen wirst.“ Ich  
schließe die Augen.  
„Dieser Umstand ist problematisch.“  
„Dann flieg halt.“  
„Ich bezweifle, dass diejenigen, die rausgewählt werden, direkt wieder nach  
Hause fahren.“  
„Warum? Finden sich bestimmt neue.“  
„Niemand außer mir scheint den Vertrag gelesen zu haben“, sagt Amelia  
leise. „Es finden sich nicht allzu viele Menschen, die verzweifelt genug sind,  
alles zu geben.“  
„Ach, heul nicht. Du bist auch hier und es gibt Viele, die raus wollen aus ihrer  
grauen Welt.“  
„Du hast unterzeichnet, dass die Produktion für Schaden an deinem  
leiblichen Wohl nicht haftet.“  
„Schwachsinn“, sage ich.  
„Hast du den Vertrag gelesen?“  
Ächzend setze ich mich auf und sehe sie an. Diese blauen Augen sind  
irritierend. Viel zu fokussiert, wenn sie es will. Als wäre ich die einzige Seele  
auf Erden. „Nein. Muss ich auch nicht. Wenn sowas da drinstehen würde,  
dann wärst du nicht hier.“  
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„Ich habe nichts zu verlieren“, sagt Amelia leise, den Rücken zum Raum  
gedreht, sodass die garantiert kein Wort von ihren Lippen lesen können.  
Keuchend lache ich auf und drehe mich halb, damit die uns nicht weiter über  
das Zeug sprechen sehen können. „Du hast dein großes Haus zu verlieren und  
deine Kohle und dein Prinzessinnenbett.“  
„Niemand kümmert sich um mich.“  
„Ja, ist doch egal. Du hast Geld! Du kannst tun und lassen, was du willst.“  
„Meine Sorge, dass jemand hinter den Scheinwerfern stand, war nicht  
unbegründet.“  
Glaube ich nicht mal. Klingt schon schlüssig. Amelia ist eine dieser Frauen, die  
halt macht, was sie machen will, glaubt, dass sie sich dadurch irgendwas  
aufbaut und versehentlich zwischen die Fronten gerät. Eine von denen, die  
irgendwann vermisst und dann im nächstbesten Straßengraben gefunden  
wird. Nichts, was mich irgendwie überrascht oder wirklich kümmert. Wir sind  
hier drin Partner und das war es dann auch. Was ihr danach passiert,  
kümmert mich nicht. Hier soll man sie mir lassen, bis sich eine bessere  
Alternative bietet.  
„Hast echt Angst, dass man dich absticht“, stelle ich fest.  
„Es wäre nicht der erste Versuch.“  
„Warum hast du deinen Job nicht einfach hingeschmissen?“  
„Darüber wollte ich nicht mit dir sprechen“, sagt Amelia nach kurzem Zögern.  
„Der Vertrag gibt uns die Möglichkeit, ihn binnen der ersten Woche zu  
verlassen. Wir würden keine Gage erhalten und wären verpflichtet, über die  
Inhalte zu schweigen, aber wir könnten nach Hause gehen.“  
Schlagartig bin ich wach. „Du willst abhauen?“  
Sie blinzelt. „Nein. Wohin sollte ich gehen?“  
„Zurück in deine Scheißkanzlei.“  
„Gewinne ich den Fall, sterbe ich. Verliere ich den Fall, sterbe ich.“  
„Heul nicht rum. So schnell verschwinden bekannte Leute nicht von der  
Bildfläche.“  
„Doch.“ Ihre Stimme klingt rau. „Schmerzhaft ist, dass mich niemand  
vermissen würde.“  
„Mich auch nicht. Damit müssen wir wohl beide leben.“  
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Ihre Mundwinkel zucken schwach. Ich würde ja sagen, dass sie mir leidtut,  
aber in den Schwachsinn hat sie sich selbst geritten. Das hat sie komplett  
selbst zu verantworten.  
„Macht es dir etwas aus?“, flüstert Amelia.  
„Dass ich meine Seele an fremde Penner am Schaltbrett verkauft habe?“ Ich  
rolle die Augen. „Gibt schon Schlimmeres.“  
„Dass niemand auf dich wartet.“  
„Ist halt so.“ Steif ziehe ich die Decke über meine Schultern. „Ist nicht zu  
ändern.“  
„Was hast du getan?“, wispert sie. „Warum bist du allein?“  
„Ich bin gegangen.“  
„Warum?“  
„Geht dich einen Scheißdreck an.“  
Mit diesem traurigen Lächeln soll sie mir fernbleiben. Ich kann mir lebhaft  
vorstellen, wie sie sich vor ihre Mandanten setzt und genau dieses Grinsen  
draufhat, damit sie spüren, wie verdammt traurig Amelia ist. Wie verdammt  
traurig, dass die Kerle es nicht gebacken bekommen, mal eine nette Lüge  
aufzutischen, mit der sie arbeiten kann.  
„Ich habe alles für das Geld und den Erfolg getan“, sagt Amelia.  
„Ja. Das mit dem Kinderschänder hatten wir schon.“  
„Manchmal verfolgt es mich“, flüstert sie. „Es raubt mir den Schlaf.“  
„Dass du ein rücksichtsloses Miststück bist?“  
Sie bleibt völlig ruhig. „Wie viele Schicksale ich wohl zerstört habe?“  
„Ist doch egal. Du hast Geld. Alles ist gut.“  
„Jeder Mensch außer dir würde mich hassen“, stellt sie nüchtern fest. „Dir bin  
ich gleichgültig.“  
„Trifft die Sache echt gut“, sage ich. „Mich juckt nicht, was aus dir wird. Ich  
will das Ding gewinnen und mit dir gemeinsam, da schaffe ich das am  
ehesten.“  
„Was, wenn die Produktion uns empfiehlt, den Zuschauern mehr zu bieten  
als nur Streitgespräche?“  
„Schaffe ich schon“, sage ich. „Im Zweifel knutsche ich halt rum. Und?“  
„Du scheust Berührungen.“  
„Einen Dreck weißt du über mich.“  
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„Warum?“  
„Geht dich nichts an.“  
„Woher stammen die Narben?“  
„Wir sind nicht hier, um zu quatschen, klar? Dich geht nichts aus meinem  
Leben an und ich werde dich nicht fragen, was mit deinem ist. Wir machen  
beide unser Zeug und lassen den anderen in Frieden. Verstanden?“  
Seufzend sinkt Amelia in ihr Kissen und bettet den Hinterkopf an der Wand.  
„Heute Nacht bleibe ich wach“, sagt sie.  
„Mach halt.“  
„Hältst du es für wahrscheinlich, dass uns im Rahmen dieser Produktion Leid  
widerfährt?“, fragt sie mich leise. „Dass sie uns töten?“  
„Juckt mich nicht“, sage ich. „Was habe ich schon zu verlieren? Entweder ich  
gehe mit der Kohle raus oder die können mich direkt ausbluten. Ist doch  
egal.“  
„Irgendwo gibt es Hoffnung.“  
Schnaufend sehe ich sie an. „Du hast diesen beschissenen Vertrag gelesen,  
was? Du weißt genau, was da drinsteht und du hast beschlossen, dass du  
trotzdem mitmachen willst. Das ist dir so durch den Kopf gegangen. Du willst  
das, obwohl du so ziemlich alle Rechte abgibst. Wo ist da Hoffnung für dich  
gewesen?“  
„Irgendwo gibt es Hoffnung“, beharrt sie leise. „Ich habe in meinem Leben  
viele Fehler gemacht.“  
„Du bist gut zwanzig. Bist halt skrupellos. Und? Leb halt damit.“  
„Die einen oder die anderen werden mich töten, sobald ich die Produktion  
verlasse.“  
Rau lache ich auf. „Tja. Sollten die nächste Herausforderung sein, dass ich  
Leute abstechen soll, nehme ich dich als erste. Versprochen.“  
„Ist diese Perspektivlosigkeit“, sie stockt, „nicht erschreckend?“  
„Juckt mich nicht. Jetzt kann ich gewinnen.“  
„Lad“, flüstert sie und ich hasse es, dass sie diesen aufgesetzten, falschen  
Namen nimmt. Ständig die ganze Zeit über. „Was bringt dir der Sieg?“  
„Geld.“  
„Und das Geld?“  
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„Ein Leben. Chancen. Alles halt. Ich könnte mir meine Träume erfüllen. Wäre  
schon super.“  
„Geld macht dich ärmer als kein Geld“, flüstert Amelia.  
„Das sagt auch nur eine reiche Göre.“ Ich sehe ihr fest in die Augen. „Was das  
hier auch werden soll, es kümmert mich nicht. Ich brauch das Geld und wenn  
ich das nicht bekomme, dann können sie mich gleich erledigen. Dann  
interessiert mich nicht, was dann noch kommt.“  
„Bist du wirklich so allein?“, flüstert sie.  
Ich schnaufe. „Ja. Ich habe nicht mal eine Jacke, die es besser gemacht  
hätte.“  
„Ich verstehe dich.“  
„Tust du nicht. Du badest in Geld.“  
„Ich verstehe dich“, wiederholt sie leise und hält meinen Blick. Ich will ihr ins  
Gesicht lachen und ihr erklären, warum sie keinen blassen Schimmer von  
dem haben kann, was in mir vorgeht. Warum sie von überhaupt nichts eine  
Ahnung hat.  
Stöhnend schließe ich die Augen und verschränke die Arme vor der Brust.  
„Muss schon ätzend sein, alles im Leben erreicht zu haben und sich mit  
niemandem darüber freuen zu können.“  
„Ja.“ Sie spricht so leise, dass ich sie kaum verstehe. „Es ist das einzige  
Scheitern, das je von Bedeutung sein wird.“  
Durch meine Wimpern betrachte ich sie. Amelia hat die Lippen fest  
aufeinandergepresst, die roten Haare fallen ihr wirr in die Stirn und über die  
Schultern. Sollen die mir doch sagen, was sie wollen. Soll sie sich zu allem  
machen, was sie will. Böse ist dieses Mädchen nicht.  
Es weiß nur nicht, wie man gute Entscheidungen trifft.  
Damit ist sie nicht allein da.  
Wir sind denen doch alle egal. Wir sind doch alle ersetzbar. Kümmert sich  
doch eh niemand um uns. Ob wir nun hier sind und uns fremde Leute beim  
Knutschen zusehen und mit ein paar Klicks über unser Leben entscheiden. Ob  
wir nun da draußen sind und verhungern.  
„Wir machen das schon.“ Keine Ahnung, was ich ihr da verspreche. Seltsam,  
dass es sich so verdammt richtig anfühlt.  
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Schwach lächelt sie mich an und berührt die Decke neben mir. „Eines Tages“,  
murmelt Amelia. „Vielleicht.“  
Der stechende Qualm der Kerzen liegt in der Luft, als sie die Arme um sich  
schlingt und nur auf diesem Kissen sitzend die Augen schließt.  
„Heute schlafe ich“, warne ich Amelia vor.  
Ihr leises Lächeln ist seltsam beruhigend. „Davon bin ich überzeugt.“  
„Du bleibst also wach.“  
„Ja.“  
„Dafür müssen die Augen auf sein.“  
Sie setzt sich aufrechter hin und hebt eine Braue. „Das sind sie.“  
„Jetzt wieder.“ Ich räuspere mich.  
„Hast du Angst?“ Ihr Grinsen fordert mich heraus. Einen Scheiß habe ich.  
„Nein. Du?“  
„Nein.“  
Die seltsamen Lichter malen skurrile Schatten auf den Boden, die meine  
Sorgen näher in Richtung des Vertrags treiben, den ich nicht gelesen.  
Während wir hier so sitzen, bin ich mir ziemlich sicher, dass wir beide lügen.  
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